Das Rahmenabkommen und die Souveränität

Anlässlich des 1. Zürcher Europarechtstages an der rechtwissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich vom 29.10.2020 hielt ASE-Präsident Thomas Cottier einen Vortrag zu Souveränitätsfragen in Bezug auf das Rahmenabkommen.

Das Rahmenabkommen macht nach dem Scheitern des EWR-Vertrages vor 28 Jahren einen ersten und bescheidenen Schritt weg von der institutionellen Abstinenz, hin zu einem kooperativen Souveränitätsverständnis in der gemeinsamen Sorge für Frieden und Wohlfahrt in Europa, die allein der Souveränität ihren Sinn und ihre Legitimation in der Region verschafft. Die Schweiz kann dabei an den eigenen Erfahrungen zwischen Bund und Kantonen in der Wahrnehmung gemeinsamer Aufgaben anknüpfen. Hier wie dort geht es um die Frage, wer am besten in der Lage ist, die öffentlichen Güter herzustellen, welche Frieden und Wohlfahrt garantieren. Darüber kann man vernünftig streiten, gleich wie bei den Aufgabenteilungen zwischen Bund und Kantonen, denen Debatten vorangingen und die in demokratischen Abstimmungen entschieden wurden. Hier muss auch der eigentliche Kern der Souveränitätsdebatte liegen. Nicht in Schlagworten um das letzte Wort, sondern um das Ringen nach Lösungen, die Frieden und Wohlfahrt im ursprünglichen Sinne in Europa am besten und immer wieder herstellen können. Die Debatte muss sich, mit andern Worten, von den Kategorien der äusseren Souveränität in die Kategorien der inneren Souveränität in Europa bewegen.

Lesen Sie hier den ganzen Vortrag

Das Rahmenabkommen: Diskrepanz von Recht und Politik

Die Auseinandersetzung um das Rahmenabkommen ist von einer starken Diskrepanz zwischen Recht und Politik geprägt. Aus rechtlicher Sicht verbessert das Abkommen die Stellung und Einflussmöglichkeiten der Schweiz in Europa. Die Politik sieht nur Nachteile und befürchtet einen Souveränitätsverlust. Die Medien erklären das Abkommen für klinisch tot, trotz wiederholter Bestätigung des bilateralen Weges durch Volk und Stände. Wie ist diese Diskrepanz zu erklären?

Hier findet sich der Text von Thomas Cottier.

Der Gastkommentar zum Rahmenabkommen mit der EU erschien in einer gekürzten Form auch im Tages-Anzeiger vom 17. Oktober 2020: Link

Replik auf Paul Aenishänslins Beitrag im Tages-Anzeiger

Paul Aenishänslin erblickt in der Kündigungsklausel von Art. 22 des Rahmenvertrages eine gravierende Schwäche des Entwurfs (https://tagesanzeiger.ch/das-rahmenabkommen-hat-gravierende-schwachstellen-757142410978). Der Beitrag verkennt, dass die EU bislang der Schweiz nie mit Kündigungen gedroht hat, anders als die Schweiz, zuletzt mit der abgelehnten Begrenzungsinitiative. Art. 22 des Rahmenabkommens basiert auf gemachten politischen Erfahrungen und verhindert Rosinenpicken mit einem späteren Ausstieg allein aus dem institutionellen Rahmen. Seine Anwendung durch die EU ist höchst unwahrscheinlich. Die Kündigung eines Assoziierungsvertrages bedarf der Einstimmigkeit im Rat und der Zustimmung des Parlaments. Sie würde höchstens erfolgten, wenn die Schweiz gravierende Rechtsverletzungen begehen würde – was nicht ihrer Politik und Vertragstreue entspricht. Die Schweiz könnte die Aussetzung und die Kündigung sodann vor dem Schiedsgericht anfechten. Das kann sie heute nicht, wenn die EU androhen würde, die Bilateralen I oder andere Verträge als Paket oder einzeln zu kündigen. Das Rahmenabkommen verstärkt die Rechtstellung der Schweiz gegenüber der EU und macht den Weg für neue und notwendige Abkommen frei. Seine Gegner verkennen das.

Thomas Cottier