Erstarkt der Nationalpopulismus auch in der Schweiz? von Daniel Woker

Wird Donald Trump im kommenden November zum Präsidenten der USA gewählt, droht auch über die Schweiz eine Welle des Nationalpopulismus hereinzubrechen. Das könnte fatale Folgen für die Bilateralen III und eine vernünftige Handhabung der Neutralität haben, wie sich jetzt schon zeigt.

Die grösste gegenwärtige Herausforderung für die schweizerische Aussenpolitik stellt die Neuregelung der Beziehungen zu unserem Heimatkontinent Europa dar. Eine klare Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer wollen sowohl geordnete Beziehungen zur EU als auch den für uns vorteilhaften Verbleib im europäischen Binnenmarkt. Bundesrat und Verwaltung setzen im Moment alles daran, mit Brüssel – der Kommission und den 27 EU-Mitgliedstaaten, die letztlich über das Verhandlungspaket entscheiden – eine Lösung zu finden, welche beide Seiten zufriedenstellt.

Der von der EU allein der Schweiz zugestandene Sonderstatus unter den kommenden Bilateralen III wurde in Vorverhandlungen ziemlich definitiv umrissen. Auf europäischer Seite ist nach verlässlichen Angaben sowohl der Verhandlungsspielraum als auch das Reservoir an Geduld mit dem helvetischen Sonderweg praktisch ausgeschöpft.

SGB und SVP: Die Gegner der Bilateralen III

Das hindert den Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) mit Präsident Yves Maillard und Chefökonom Daniel Lampart nicht daran, Hand in Hand mit den rechten Nationalpopulisten von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) das gesamte Verhandlungspaket jetzt schon rundweg abzulehnen. Sie stellen damit die wirtschaftliche Zukunft, aber auch die Seele unseres Landes als europäische Drehscheibe in Frage. Dies angeblich wegen der Lappalie von Spesenentschädigungen für entsandte ausländische Arbeitnehmer, welche bis zu lediglich drei Monaten in der Schweiz tätig sein können.

Die hier in Frage stehenden Entschädigungen sind im grossen Zusammenhang geradezu lächerlich klein; sie entsprechen der Entlöhnung für rund 0,1 Prozent der gesamten in der Schweiz geleisteten Arbeitsstunden. Wenn wir die Chance der Bilateralen III nicht wahrnehmen, werden wir sowohl wirtschaftlich wie auch politisch und vor allem emotional von unseren engsten Partnern und Nachbarn in Europa abgeschnitten.

Dass die konsequente Nein-Partei SVP mit ihrem Amoklauf gegen alles Europäische dies in Kauf nimmt, ist selbstverständlich. Ihren «Kampf gegen Europa» illustriert sie mit einem Bild des Kindlifresser-Brunnens in Bern, wobei «die furchterregende Brunnenfigur in der SVP-Montage anstelle eines nackten Kindes die Schweiz in den (EU)-Rachen schiebt» wie die NZZ unter dem Titel «Schrill lanciert» schrieb.

De facto an der Seite von General Christoph Blocher marschieren in der Mutter aller Schlachten, dem voraussehbaren Referendumskampf, auch nationalkonservative Unternehmer («Kompass/Europa», «Autonomiesuisse»). Darunter Zuger Kasinokapitalisten, welche europäische Regeln im Finanzbereich fürchten. Zusammen verfügen sie über gewaltiges ideologisches und finanzielles Kapital, mit dem sie im Moment das europapolitische Terrain besetzen, um jeden vernünftigen Diskussionsansatz im Keim zu ersticken.

Die Neutralitätsinitiative Blochers und die Ukraine

Um jede Annäherung an Europa zu verunmöglichen, hat Blocher mit seinen Hofschranzen in «Pro Schweiz» weiter die sogenannte Neutralitätsinitiative gestartet, welche von kritischen Beobachtern zu Recht als «Pro-Putin-Initiative» etikettiert wird. Den offiziellen Kampf dafür will die SVP bereits Anfang April lancieren. Leider setzt sich auch auf der linken Seite ein Komitee fehlgeleiteter Idealisten für Blochers Initiative ein.

Die Aufnahme des Prinzips Neutralität – sie ist ein Mittel, nicht ein Ziel der schweizerischen Aussenpolitik – in die Bundesverfassung (BV) wäre unsinnig genug. Seit 1848 haben sich alle Verfasser der BV bemüht, gerade dies nicht zu tun, weil sich das europäische Umfeld ja verändern könnte. Tatsächlich ist das EU-Europa mit dem Europa des 19. Jahrhunderts und auch jenem bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts nicht vergleichbar. Die von Neutralitäts-Fetischisten oft bemühten Haager Abkommen von 1907 sind überholt. Grundlegend ist heute die UNO-Charta, welche Angriffskriege verbietet und keine Gleichbehandlung von Aggressor und Opfer erlaubt. Diese Entwicklung zeigt, dass die von Blochers Initiative geforderte Aufnahme einer «immerwährenden Neutralität» in die Verfassung Unfug wäre, da wir die Zukunft nicht kennen können.

Der brutale Aggressionskrieg Putins gegen die Ukraine hat endgültig bestätigt, dass ein schweizerisches Abseitsstehen von Europa damit aus Sicht der EU unmöglich geworden ist. Von der Neutralität her ist das kein Problem. Sogar bei deren strikter Definition sind – im Moment noch – lediglich der Beitritt der Schweiz zum nordatlantischen Militärbündnis NATO sowie eine direkte Ausfuhr von in der Schweiz hergestelltem Kriegsmaterial in die Ukraine nicht möglich. Alles andere ist erlaubt, auch unter dem Gesetz über Kriegsmaterialausfuhr. Dies gilt insbesondere für die indirekte Ausfuhr, also den Verkauf an EU-Länder, welche damit ihre eigenen Reserven aufstocken, nachdem sie diese zugunsten der Ukraine angezapft haben. Wirtschaftssanktionen, wie sie die Schweiz gegen Russland erlassen hat, sind nicht nur zugelassen, sondern waren aus politischen, wirtschaftlichen und moralischen Gründen unumgänglich. Andernfalls wäre die Schweiz zur isolierten Insel von Putin-Verstehern geworden.

Die Aussen- und Sicherheitspolitik würde eingeschränkt

Blochers Initiative will nun das Verhängen von Wirtschaftssanktionen praktisch ausschliessen. Der Verweis im Initiativtext auf eine UNO-Ausnahme ist rein theoretischer Natur. Wir wissen alle, dass die UNO bei Aggressionskriegen, die direkt und indirekt durch totalitäre Mächte geführt werden, wegen des Vetos dieser Staaten im Sicherheitsrat meist blockiert ist. Die Ukraine ist ein aktuelles Beispiel, darum die Bezeichnung «Pro-Putin-Initiative». Ein Angriffskrieg von China gegen Taiwan ist ein leider durchaus mögliches zukünftiges Beispiel.

Ein Verbot von Wirtschaftssanktionen würde die schweizerische Aussenpolitik in unakzeptablem Masse einengen. Sanktionen sind ein Zwangsmittel bei groben Verstössen gegen alle Werte, welche gerade die Schweiz ihr eigen nennt. Sie bilden eine erste klare Schranke gegen Aggressoren, bevor als Ultima Ratio militärische Massnahmen ergriffen werden müssen.

Sicherheitspolitisch ist die Initiative gefährlich, weil sie internationale Zusammenarbeit zur Vorbereitung auf einen Konfliktfall verbietet. Nachdem nun Schweden Nato-Mitglied geworden ist, würde dies gar die seit Jahren laufende Ausbildung von schweizerischem militärischem Flugpersonal im dazu einzig möglichen geografischen Raum, dem hohen Norden, verunmöglichen.

Die Stützen der Zivilgesellschaft sind gefordert

Insbesondere aber würde die Initiative unser Verhältnis zur EU nachhaltig zerrütten. Eine schweizerische Verfassungsbestimmung, welche unseren nächsten Partnern und Nachbarn signalisiert, dass wir uns in keinem Fall mit Europa gegen Aggressoren solidarisieren werden, wird zum Bruch führen. Dass dies keine leere Drohung ist, zeigt ein erstes, vergleichsweise kleines Beispiel. Die überängstliche Politik von Regierung und Parlament betreffend Kriegsmaterial für die Ukraine hat bereits dazu geführt, dass bisherige Kunden aus der EU kein Rüstungsmaterial mehr in der Schweiz beziehen wollen und dass ausländische Besitzer von Rüstungsunternehmen dessen Fertigung aus der Schweiz abziehen. Sie wollen keine Waffen, welche sie im Ernstfall wegen schweizerischer Neutralität nicht einsetzten können. Ohne eigene Rüstungsbetriebe aber auch keine eigene Armee. Ein solches Verlangen ist angesichts der heutigen Lage nicht nur naiv, sondern stellt für die Schweiz eine akute Gefahr dar.

Mit Blick auf die Bilateralen III haben Blocher und Maillard mit schwerstem Geschütz gleich zu Beginn gegen eine von der Mehrheit in der Schweiz klar geforderte Vorlage die Deutungshoheit gewonnen (siehe auch den Artikel hier: https://suisse-en-europe.ch/gegen-europa-die-svp-maillard-und-der-blick-von-daniel-woker/). Nun gilt es unbedingt zu verhindern, dass sich dies bei Blochers Pro-Putin-Initiative wiederholt. Da sind wir alle gefordert: die Stützen der schweizerische Zivilgesellschaft in Politik, Wirtschaft und Medien, ebenso wie alle vernünftigen Schweizerinnen und Schweizer sind jetzt schon aufgerufen, Bonaparte Blocher in seinen Schlachten gegen die Bilateralen III und für seine Neutralitätsinitiative ein schweiz- und europaweit hallendes Waterloo zu bescheren.

Das Wichtigste zu den Verhandlungen Schweiz-EU von Martin Gollmer

Am Montag, 18. März 2024, haben die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU über ein neues, drittes bilaterales Vertragspaket begonnen. Hier, um was es in diesen Verhandlungen aus schweizerischer Sicht geht und was diese so speziell macht.

Am Montag, 18. März 2024, haben Bundespräsidentin Viola Amherd und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Brüssel die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU über ein neues, drittes bilaterales Vertragspaket eröffnet. Zuvor hatte der Bundesrat am Freitag, 8. März, nach eingehenden Konsultationen von Kantonen, Parlament, Wirtschaftsverbänden und Sozialpartnern das definitive Mandat der Schweiz für diese Verhandlungen verabschiedet. Die 27 EU-Mitgliedstaaten hiessen die von der Kommission vorgelegten Verhandlungsrichtlinien am Dienstag, 12. März, ohne Diskussion gut.

Für die Schweiz verhandelt der Bundesrat. Er ist für die Aussenpolitik des Landes zuständig. Auf Seite der EU führt die Kommission, die Exekutive und Verwaltung der Europäischen Union, die Verhandlungen. Ihr obliegt die Ausarbeitung internationaler Verträge. Chefunterhändler der Schweiz ist Patric Franzen, stellvertretender Staatssekretär und Leiter der Abteilung Europa im Eidgenössischen Departement des Äusseren (EDA). Sein Gegenpart bei der EU ist Richard Szostak, Leiter der Abteilung «Westeuropäische Partner» im Generalsekretariat der Kommission.

Was ist das Ziel der Verhandlungen mit der EU?

Der Bundesrat will in den Verhandlungen mit der EU den seit über zwanzig Jahren meist erfolgreich begangenen, zuletzt aber holperig gewordenen bilateralen Weg stabilisieren und weiterentwickeln. Konkret geht es darum, den – zumindest teilweisen – hindernisfreien Zugang von Schweizer Unternehmen zum EU-Binnenmarkt zu sichern und auszubauen. Dazu sollen bestehende Binnenmarktabkommen aktualisiert und neue bilaterale Abkommen abgeschlossen werden. Der Binnenmarkt ist mit rund 450 Millionen Konsumentinnen und Konsumenten der weltweit grösste grenzüberschreitende Markt, in dem überall die gleichen Regeln gelten. Der EU-Binnenmarkt ist so etwas wie der Heimmarkt der Schweizer Unternehmen.

Zudem will der Bundesrat die Wiederaufnahme der Schweiz in die Bildungs- und Forschungsprogramme der EU erreichen. Die EU hatte die Teilnahme der Schweiz an diesen Programmen nach dem einseitigen Abbruch der Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen durch den Bundesrat im Jahr 2021 sistiert. Das EU-Forschungsprogramm «Horizon Europe» ist mit einem Budget von insgesamt 95,5 Milliarden Euro für die Jahre 2021-2027 das grösste seiner Art auf der Welt. Mit der Aufnahme der Verhandlungen wird die Beteiligung der Schweiz umgehend wieder ermöglicht, steht aber unter Vorbehalt eines erfolgreichen Abschlusses der Verhandlungen bis Ende 2024.

Was ist der Inhalt des geplanten Vertragspakets?

Der Bundesrat und die EU-Kommission wollen ein Vertragspaket schnüren mit den folgenden Elementen:

  • Neue bilaterale Abkommen zu den Themen Strom, Gesundheit und Lebensmittelsicherheit.
  • Aufdatierung bestehender Abkommen im Bereich der Personenfreizügigkeit (Lohnschutz und Sozialrechte), des Land-und Luftverkehrs, der technischen Handelshemmnisse und der Landwirtschaft sowie deren Unterstellung unter die dynamische Rechtsübernahme und das Streitbeilegungsverfahren.
  • Teilnahme der Schweiz an den EU-Programmen für Bildung und Forschung.
  • Vorschriften zu Staatsbeihilfen in den Bereichen Verkehr und Strom.
  • Regelmässige Kohäsionszahlungen der Schweiz zugunsten ärmerer EU-Mitgliedstaaten.
  • Einrichtung eines regelmässigen hochrangigen politischen Dialogs.

Was ist schon geregelt, was muss noch verhandelt werden?

In zahlreichen Sondierungsgesprächen, die den eigentlichen Verhandlungen seit März 2022 vorausgegangen sind, haben der Bundesrat und die EU-Kommission ihre jeweiligen Verhandlungsanliegen detailliert erläutert und sogenannte Landungszonen definiert, innerhalb derer eine Lösung offener Verhandlungsfragen möglich sein könnte. Die Ergebnisse der Sondierungsgespräche sind in einem Dokument schriftlich festgehalten – der sogenannten Gemeinsamen Verständigung. (Sie findet sich unter https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/das-eda/aktuell/newsuebersicht/2023/europa.html.) In den Verhandlungen müssen Bundesrat und EU-Kommission nun die in diesem Dokument umschriebenen Lösungsansätze für noch offene Fragen konkretisieren. Nachstehend das Wichtigste dessen, was in den Sondierungsgesprächen schon erreicht worden ist und was in den Verhandlungen noch geregelt werden muss:

  • Strom: Mit dem Abschluss eines Stromabkommens strebt der Bundesrat die Teilnahme der Schweiz am Strombinnenmarkt der EU an. Dies, um den Stromhandel zwischen der Schweiz und der EU zu fördern und die Versorgungssicherheit und die Netzstabilität in der Schweiz zu gewährleisten. Der Bundesrat ist einverstanden mit der von der EU-Kommission geforderten Öffnung des schweizerischen Strommarktes. Dabei will er garantiert haben, dass die kleinen Endverbraucher wie Haushalte und KMU unter einer bestimmten Verbrauchsschwelle in der regulierten Grundversorgung mit regulierten Preisen verbleiben oder in diese zurückkehren können (sogenanntes Wahlmodell). Zudem will der Bundesrat die wichtigsten bestehenden staatlichen Beihilfen beibehalten können, namentlich im Bereich der Produktion von erneuerbarem Strom.
  • Lebensmittelsicherheit: Der Bundesrat strebt eine Ausweitung des Geltungsbereichs des Abkommens über den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen auf die gesamte Lebensmittelkette an. Die Ausweitung zielt darauf ab, den Verbraucherschutz zu stärken und den Marktzugang durch einen umfassenden Abbau nichttarifärer Handelshemmnisse zu verbessern. Eine Harmonisierung der Agrarpolitiken der Schweiz und der EU soll gemäss gemeinsamem Verständnis der Verhandlungspartner ausgeschlossen bleiben. Der Bundesrat will zudem, dass die Schweiz ihre Zolltarife und –kontingente beibehalten kann. Mittels Ausnahmen will er weiter eine Senkung der in der Schweiz geltenden Standards verhindern, insbesondere beim Tierschutz und bei den neuen Technologien in der Lebensmittelproduktion.
  • Gesundheit: Das neue bilaterale Kooperationsabkommen sieht die Beteiligung der Schweiz an den relevanten Mechanismen und Netzwerken der EU im Bereich sicherheitsrelevanter der Gesundheitsfragen vor. Mitmachen will der Bundesrat dabei etwa am Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten.
  • Bildungs- und Forschungsprogramme: Der Bundesrat strebt eine systematische Teilnahme der Schweiz an den EU-Programmen für die Zukunft an, namentlich in den Bereichen Forschung und Innovation, allgemeine und berufliche Bildung, Jugend, Sport und Kultur. Im Vordergrund stehen die EU-Programme Horizon Europe 2021-2027 (Forschung) und Erasmus+ 2021-2027 (Bildung, Studierendenaustausch).
  • Streitbeilegung: Gemäss gemeinsamem Verständnis der Verhandlungspartner suchen die Schweiz und die EU im Streitfall zunächst eine politische Lösung in einem Gemischten Ausschuss. Lässt sich so keine Einigung erzielen, kann jede Vertragspartei den Streit einem paritätischen Schiedsgericht unterbreiten. Wird sich dieses über die Anwendung oder Auslegung von EU-Recht nicht einig, zieht es den Europäischen Gerichtshof (EuGH) bei. Dieser nimmt eine verbindliche Beurteilung des strittigen Sachverhalts vor. Danach entscheidet das Schiedsgericht abschliessend.
  • Rechtsübernahme: Mit der dynamischen Übernahme von EU-Recht in den bestehenden und zukünftigen Binnenmarktabkommen in schweizerisches Recht ist der Bundesrat einverstanden. Er will aber an der Aushandlung und Weiterentwicklung des die Schweiz betreffenden EU-Rechts teilnehmen können (sogenanntes decision-shaping). Entscheidet sich die Schweiz (d.h. der Bundesrat, das Parlament oder das Volk) einmal gegen die Übernahme von Recht der EU, kann diese Ausgleichsmassnahmen ergreifen. Dabei möchte der Bundesrat erreichen, dass solche Massnahmen erst in Kraft treten, wenn das Schiedsgericht über deren Verhältnismässigkeit entschieden hat.
  • Personenfreizügigkeit/Zuwanderung: Der Bundesrat ist einverstanden mit der Angleichung des schweizerischen Rechts an das in diesem Bereich geltende Recht der EU. Er verfolgt dabei aber das Ziel, die Zuwanderung von einer Erwerbstätigkeit in der Schweiz abhängig zu machen, um die Folgen für das schweizerische Sozialsystem zu begrenzen und Missbräuche zu bekämpfen. Der Bundesrat ist zudem bestrebt, die Mechanismen des Personenfreizügigkeitsabkommens aus den Bilateralen I zur Bewältigung unerwarteter Auswirkungen zu konkretisieren. Das heisst wohl, dass er auf eine Schutzklausel drängen will, die im Falle anhaltend hoher Zuwanderung aus der EU aktiviert werden könnte.
  • Personenfreizügigkeit/Lohnschutz: Der Bundesrat ist bereit, das in diesem Bereich geltende EU-Recht in schweizerisches Recht zu übernehmen. Er will aber den Lohnschutz in der Schweiz auf dem aktuellen Niveau erhalten können, um schweizerische Unternehmen nicht einem unbeschränkten Wettbewerb durch aus der EU entsandte Arbeitskräfte auszusetzen. Bei der Spesenregelung für entsandte EU-Personen will er eine Lösung erreichen, die unter Berücksichtigung des Preisniveaus in der Schweiz eine Rechtsgleichheit gewährleistet. Bei der Kaution, die EU-Unternehmen hinterlegen müssen, die in der Schweiz arbeiten lassen, will er eine Regelung, die eine vergleichbare Wirkung wie mit dem derzeitigen Kautionssystem erzielt.
  • Landverkehr: Der Bundesrat ist einverstanden, dass der internationale Personenverkehr auf der Schiene geöffnet wird. Dabei soll sich aber die Qualität des öffentlichen Verkehrs in der Schweiz nicht verschlechtern. Der Bundesrat will, dass die Tarifintegration und der Taktfahrplan garantiert bleiben. Die Zuständigkeit für die Vergabe von Trassen in der Schweiz will er beibehalten. Das Kooperationsmodell im internationalen schienengestützten Personenverkehr will der Bundesrat aufrechterhalten können.
  • Kohäsionszahlungen: Der Bundesrat gibt grünes Licht dafür, dass ein rechtsverbindlicher Mechanismus für einen regelmässigen Kohäsionsbeitrag der Schweiz an ausgewählte ärmere EU-Mitgliedstaaten geschaffen wird. Die Höhe dieses Beitrags muss in den Verhandlungen noch festgelegt werden. Schon jetzt bezahlte die Schweiz einen Kohäsionsbeitrag an die EU. Dieser betrug zuletzt 1,3 Milliarden Franken, verteilt auf zehn Jahre – also 130 Millionen Franken pro Jahr. Es ist davon auszugehen, dass der neue Kohäsionsbeitrag deutlich höher ausfallen wird. In schweizerischen Medien wird geschätzt, dass dieser Beitrag in Zukunft 400 Millionen Franken pro Jahr betragen könnte.

Wie lange werden die Verhandlungen mit der EU dauern?

EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen sagte beim Verhandlungsstart, aufgrund der vorangegangenen Sondierungsgespräche gebe es nun ein gemeinsames Verständnis der Verhandlungen und eine Vertrauensgrundlage, um schnell weitere Fortschritte zu erzielen. Ziel der EU sei es, die Verhandlungen noch in diesem Jahr abzuschliessen. Bundespräsidentin Amherd war zurückhaltender, was den Zeitrahmen der Verhandlungen betrifft. «Wenn das noch bis Ende 2024 klappen würde, wäre das natürlich fantastisch», sagte sie. Das hätte den Vorteil, dass noch mit der aktuell amtierenden Kommission abgeschlossen werden könnte. Für die Schweiz gehe aber «Qualität vor Tempo».

Was ist das Besondere an diesen Verhandlungen?

Neu  an diesen Verhandlungen ist, dass sie sozusagen mit offenen Karten geführt werden. Sowohl der Bundesrat wie die EU-Kommission haben nämlich ihre jeweiligen Verhandlungsmandate im Internet veröffentlicht. (Das Mandat des Bundesrats findet sich unter https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/das-eda/aktuell/newsuebersicht/2023/europa.html, dasjenige der EU-Kommission unter https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-7031-2024-ADD-1/de/pdf.) Damit kann die Bevölkerung der beiden Parteien im Detail sehen, was diese in den Verhandlungen erreichen wollen. Dieser Schritt wurde gemacht, um Vertrauen in die Verhandlungen zu schaffen und Falschinformationen vor allem von Gegnern der Verhandlungen einen Riegel zu schieben. Umgekehrt führt die Transparenz auch dazu, dass innenpolitisch von Politik, Wirtschaft und Parlament neue Forderungen auf den Tisch gelegt wurden, die der Bundesrat in den Verhandlungen nun berücksichtigen muss. Sie erleichtert den Gegnern der Verhandlungen, Einwände und Kritik zu formulieren, die in der Presse jeweils breit aufgenommen werden. Die Verhandlungen mit der EU erscheinen so in den Medien als sehr schwierig, ja sogar als «mission impossible».

Für den Bundesrat ist die Veröffentlichung eines Verhandlungsmandats und weiterer Verhandlungsunterlagen ein Novum. Sie geschieht erstmals in der Geschichte der schweizerischen Diplomatie. Bisher waren Verhandlungsdokumente immer geheim und nur den parlamentarischen Kommissionen zugänglich. Die EU-Kommission hat Verhandlungsunterlagen dagegen schon mehrfach publik gemacht – so etwa bei den Brexit-Verhandlungen mit Grossbritannien.

Schweizer Neutralität – unverständlich oder nützlich? von Martin Gollmer, Thomas Cottier und Daniel Woker

In der Aussenpolitischen Strategie 2024–2027 bezeichnet der Bundesrat die Neutralität als Instrument der schweizerischen internationalen Beziehungen. Dabei wird sie immer mehr zu einem Hindernis für eine wirksame Aussen- und Sicherheitspolitik, wie die Beispiele Reexport von Kriegsmaterial sowie Kooperation mit EU und Nato zeigen.

«Die Neutralität wird von einigen Partnern (der Schweiz) kaum mehr als Beitrag an die Stabilität auf dem Kontinent verstanden. (…) Neutrale Staaten, die der Polarisierung (auf der Welt) entgegenwirken, werden gefragt bleiben.» Diese zwei Sätze stehen in der Einleitung zur Aussenpolitischen Strategie 2024–2027, die der Bundesrat kürzlich verabschiedet hat. Sie stehen in einem Widerspruch zueinander, der in der Strategie nicht wirklich aufgelöst wird.

Der erste Satz verdeutlicht eine Realität, die die Landesregierung nicht verneinen kann und der sie sich stellen muss. Sie ist eine Folge davon, wie die Schweiz insbesondere die Wiederausfuhr von in unserem Land hergestelltem Kriegsmaterial durch europäische Staaten in die von Russland angegriffene Ukraine handhabt. Diese Länder sehen das neutralitätsrechtlich begründete Nein der Schweiz als eine Behinderung legitimer Hilfe an die Ukraine. Was das Nein zu Reexporten von hiesigem Kriegsmaterial auch bedeutet: Es stellt die Schweiz als Standort für Rüstungs- und Technologieunternehmen in Frage.

Der zweite Satz – von den neutralen Staaten, die «gefragt bleiben» – zeigt eine Hoffnung, an die sich der Bundesrat klammert, um die in der  Schweizer Bevölkerung tief verankerte Neutralität nicht grundsätzlich hinterfragen zu müssen. Sie fusst auf der zunehmenden Konkurrenz der Grossmächte in der Welt und der Tendenz zu einer neuerlichen Blockbildung. Die Landesregierung glaubt deshalb, dass das aussenpolitische Profil der Schweiz als Förderin von Dialog und gegenseitiger Verständigung, als Gaststaat für diplomatische Konferenzen und internationale Organisationen und als Brückenbauerin für einen wirksamen Multilateralismus relevant bleibt. «Die Neutralität trägt zu diesem Profil bei und eröffnet nach wie vor Chancen», heisst es in der Aussenpolitischen Strategie 2024–2027.

Der Bundesrat glaubt denn auch, dass die Neutralität für die Schweiz weiterhin von Nutzen ist. Sie schränke zwar den Handlungsspielraum im militärischen Bereich ein, führt er am Beispiel der kriegsversehrten Ukraine aus, erlaube aber gleichwohl eine weitreichende Solidarität. Der Bundesrat hält fest: «Das Instrument der Neutralität lässt dabei Raum für eine kooperative Aussen- und Sicherheitspolitik mit europäischen und weiteren engen Partnern der Schweiz.» Diese will er in den kommenden Jahren ausbauen.

Mehr Kooperation mit EU und Nato 

Ausbauen will der Bundesrat gemäss der Aussenpolitischen Strategie 2024–2027 etwa die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit der EU und der Nato. Er stellt fest, dass die EU im Gefolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ihre Verantwortung für Sicherheit und Stabilität im euroatlantischen Raum verstärkt wahrnimmt. Sie erweitere ihre sicherheitspolitischen Instrumente und sei dabei bereit, Partnerschaften auszubauen. Das will die Schweiz nutzen, indem sie die sicherheitspolitischen Konsultationen mit der EU weiter entwickelt und ihre Beteiligung an EU-Friedensförderungsmissionen verstärkt. Weitere Kooperationsmöglichkeiten würden geprüft, etwa bei der Bewältigung von Katastrophen und Notlagen, schreibt der Bundesrat.

Was die Nato betrifft, hält der Bundesrat fest, dass sie sich auf die Bündnisverteidigung zurückbesonnen habe. Auch gestalte sie Partnerschaften individueller als zuvor. Die Schweiz wolle den politischen Dialog mit der Allianz stärken, die Interoperabilität der Armee verbessern, die vermehrte Teilnahme an Übungen der Nato prüfen und weiterhin Personal in deren Stäbe und Zentren entsenden.

Angesichts der Sicherheitslage in Europa, die sich mit dem russischen Angriff auf die Ukraine dramatisch verschlechtert hat, ist das alles gut und richtig. Nur ist es nicht genug. Bei den angestrebten Kooperationen mit der EU und der Nato handelt es sich nämlich vor allem um weiche Formen der Zusammenarbeit. Weitergehende und härtere wäre nötig – sind aber aus Gründen der Neutralität nicht möglich. Dabei handelt es sich bei EU und Nato um wichtige Mitgaranten des wirtschaftlichen Wohlergehens der Schweiz und deren militärischer Sicherheit.

Den bilateralen Weg weiterentwickeln

Geografischer Schwerpunkt der Aussenpolitischen Strategie 2024-2027 ist Europa – deshalb die angedachten Kooperationen mit der EU und der Nato. Angesichts der geopolitischen Bedeutung Europas für die Schweiz überrascht diese Schwerpunktsetzung nicht. Innerhalb Europas kommt der EU mit ihren 27 Mitgliedstaaten grosses Gewicht zu. Sie ist die mit Abstand wichtigste politische und wirtschaftliche Organisation auf dem Kontinent. Mit ihr will der Bundesrat den seit über zwanzig Jahren erfolgreich begangenen bilateralen Weg stabilisieren und weiterentwickeln. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger. Darüber hinaus beabsichtigt der Bundesrat, die Beiträge der Schweiz an die Stabilität Europas zu verstärken. Dem Frieden und dem Wiederaufbau der Ukraine misst er dabei «strategische Bedeutung» zu. Die Landesregierung plant in diesem Zusammenhang, im Sommer zur Ukraine eine Friedenskonferenz mit hochrangiger Besetzung durchzuführen.

Ausserhalb Europas kommt den weiteren Mitgliedern der G-20, dem Forum für Finanz- und Wirtschaftsfragen der global bedeutendsten Industrie- und Schwellenländer, aussenpolitisch eine wichtige Stellung zu. Dazu gehören etwa die USA und Kanada. In diesem Kontext arbeitet der Bundesrat darauf hin, dass die schweizerischen Wirtschaftsakteure weiterhin einen guten Zugang zu den nordamerikanischen Märkten haben. In der aufstrebenden Region Asien-Pazifik will der Bundesrat insbesondere zu China, das zu einem weltpolitischen und –wirtschaftlichen Schlüsselakteur geworden ist, prioritäre Beziehungen pflegen. Dies obwohl es etwa in Menschenrechtsfragen wachsende Differenzen gibt.

Fragwürdige Priorisierung Chinas

 Die USA unmissverständlich – ob Biden oder Trump –, die EU zögernd, aber immer klarer wenden sich politisch von China ab. Die Priorisierung von China in Asien in der Aussenpolitischen Strategie der Schweiz 2024-2027 mutet damit an wie ein schlechter Witz. Es ist klar, dass schweizerische Unternehmen weiterhin – wenn auch abnehmend (die chinesische Wirtschaft stottert) – mit China Handel treiben, wie US- und EU-Firmen auch. Wirtschaftspolitische, und noch mehr politische Zusammenarbeit der Schweiz mit dem imperialistischen und menschenrechtsverachtenden China von Xi Jinping muss aber ab- und nicht zunehmen. Dies weil erstens schweizerische Grundwerte auf dem Spiel stehen, die Vorrang haben vor kommerziellen Überlegungen, und zweitens weil uns eine entsprechende Politik in diametralen Gegensatz zu den USA – einschliesslich deren Boykotte gegen den Handel mit China – und zur EU bringt. Die gesamte schweizerische Europapolitik wird durch eine Pro-China-Politik in Mitleidenschaft gezogen.

Die langfristig ausgerichtete Entwicklungszusammenarbeit mit den Ländern des globalen Südens bezeichnet der Bundesrat als «Markenzeichen» der Schweiz, scheint ihr in der Aussenpolitischen Strategie 2024-2027 aber nicht die gleiche Bedeutung zuzumessen wie der Unterstützung der Ukraine. Über diese Schwerpunkte hinaus hat die schweizerische Aussenpolitik einen universellen Anspruch: Es sollen mit allen Staaten der Welt diplomatische Beziehungen gepflegt werden.

In seiner Aussenpolitik setzt der Bundesrat nicht nur geografische, sondern auch thematische Schwerpunkte. Dazu gehören Frieden und Sicherheit, Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit, Umwelt sowie Demokratie und Gouvernanz. Die letzten beiden Themen sind neu. Für die Umsetzung dieser Schwerpunkte setzt der Bundesrat auf seine üblichen Instrumente wie das Aussennetz mit seinen Botschaften und Konsulaten, die Diplomatie, die internationale Zusammenarbeit, die guten Dienste und – wie eingangs beschrieben – die Neutralität.

Haltung zur Neutralität bietet Angriffsflächen

Die Aussenpolitische Strategie 2024-2027 stellt die bisherige Praxis zum Neutralitätsrecht nicht in Frage: Nach wie vor geht der Bundesrat davon aus, dass Aggressor und Opfer auf Grund der obsoleten Haager Konventionen von 1907 aus der Zeit des europäischen Imperialismus gleich zu behandeln sind. Das ist mit den die Schweiz verpflichtenden Grundsätzen der Uno-Charta nicht vereinbar. Diese beinhalten ein Verbot von Angriffskriegen und ein Recht auf kollektive Selbstverteidigung, was eine Gleichbehandlung und damit indirekte Unterstützung des Aggressors ausschliesst.

Die Strategie anerkennt, dass Wiederausfuhrverbote von Kriegsmaterial nicht mehr verstanden werden. Sie zieht daraus aber keine Schlüsse, die die heutige Gesetzgebung im Verbund mit einer völkerrechtskonformen Auslegung durchaus zulassen würden. Die Neutralität ist nicht ein einseitiges Geschäft. Ihr Wert hängt von ihrer Anerkennung, ihrem Nutzen auch durch und für Dritte ab. Das gilt jedenfalls erst recht mit Bezug auf das Verbot der Wiederausfuhr längst verkaufter Kriegsmaterialen seit dem 24. Februar 2022 in Europa. Dieses wird vom Neutralitätsrecht nicht erfasst.

Dass Neutralität ein zweiseitiges Geschäft ist, bedeutet konkret, dass wirksame schweizerische Hilfe an die Ukraine die Erlaubnis zur Wiederausfuhr von Rüstungsmaterial durch Drittstaaten, aber auch eine massive Zahlungsbilanzhilfe in Milliardenhöhe umfassen muss. Sonst bleibt das schweizerische Bekenntnis zur Verstärkung der Zusammenarbeit mit EU und Nato leerer Buchstabe. Die Hilfe an die Ukraine zur Rettung der europäischen Demokratie gegen den russischen Kolonialimperialismus steht im Mittelpunkt der gegenwärtigen Tätigkeit dieser beiden Organisationen. Wenn wir hier wegen der Neutralität nicht voll teilnehmen, werden schweizerische Avancen zur Zusammenarbeit in Brüssel nur ein müdes Lächeln ernten.

Die Zusammenarbeit mit der EU in sicherheitspolitischen Fragen wird angesprochen, ohne dass entsprechende konkrete Schritte aufgezeigt werden. Dazu eignet sich aber die Pesco (Permanent Security Cooperation) auch für die Schweiz als Drittstaat in hohem Masse. Bei den heute 86 laufenden Projekten mit einer variablen Geometrie unter den Mitgliedstaaten machen teilweise auch neutrale Staaten sowie Drittstaaten wie Norwegen, Kanada und die USA mit. Die Formel erweist sich als Chance, die mit einer veralteten Neutralitätspolitik eingehandelten Nachteile aktiv auszugleichen und auf diese Weise zum dringend notwendigen Aufbau der Sicherheitsarchitektur und Verteidigungsfähigkeit der Schweiz mitten in Europa beizutragen.