Das Rahmenabkommen Schweiz-EU: Diskrepanz von Recht und Politik
von Thomas Cottier*
Die Auseinandersetzung um das Rahmenabkommen ist von einer starken Diskrepanz zwischen Recht und Politik geprägt. Aus rechtlicher Sicht verbessert das Abkommen die Stellung und Einflussmöglichkeiten der Schweiz in Europa.
Institutionell bringt es die Mitsprache in der Rechtssetzung, regelmässige Kontakte auf den Ebenen von Regierung und Verwaltung, von Parlament und Gerichten. Das Schiedsverfahren schützt die Schweiz vor unverhältnismässigen Sanktionen, sollte sie sich künftig für ein Opt-out in einem Regelungsbereich entscheiden. Materiell bringt es in den drei umstrittenen Bereichen Verbesserungen oder schiebt wichtige Fragen auf spätere Verhandlungen auf: die völkerrechtlichen Rahmenbedingungen für den Lohnschutz werden verbessert: der Grundsatz gleicher Lohn für gleiche Arbeit wird im Entsenderecht anerkennt. Die Schweiz hat – über das EU Recht hinaus – erfolgreich verhandelt und eine 4-tägige Voranmeldung und das Recht ausgehandelt, Kautionen gegen Säumige zu verhängen. Diese Garantien binden staatsvertraglich auch den Europäischen Gerichtshof. Neu kann die Schweiz vom Amts- und Rechtshilfe und dem europäischen Binnenmarkt-Informationssystem IMI profitieren. Damit wird der heute unter dem Freizügigkeitsabkommen anfechtbare Lohnschutz auf eine solide Grundlage gestellt. Sie ermöglicht ein durchaus griffiges und ebenbürtiges Entsenderecht auf Bundesebene, das weiterhin von den Sozialpartnern administriert werden kann. Klar ist auch, dass das Abkommen nicht zur Uebernahme der Sozialhilfe der Unionsbürgerschaft verpflichtet. Die einschlägige Richtlinie wird weder im Freizügigkeitsabkommen noch im Rahmenabkommen erwähnt. Der Wechsel vom Heimatstaatprinzip zum Wohnortprinzip für Bedürftige wird Gegenstand eines langen Prozesses sein, nicht anders als unter den Kantonen der Fall war. Das gleiche gilt auch für die Frage der Subventionen der Kantone. Sie stellt sich ernsthaft erst bei einer künftigen Revision des Freihandelsabkommens von 1972; vorher unterliegen Streitigkeiten allein der einvernehmlichen Unterstellung unter das Schiedsgericht. Die Schweiz kann hier nicht gegen ihren Willen eingeklagt werden.
Die rechtliche Lage könnte kaum stärker mit der vorherrschenden politischen Einschätzung kontrastieren. Sie ist machtpolitisch geprägt. Die SVP lehnt das Abkommen weiterhin kategorisch ab, ohne Rücksicht auf Verluste. Gewerkschaften und SPS beharren weiterhin darauf, dass der Lohnschutz gestrichen wird und paradoxerweise auf der unsicheren und anfechtbaren Grundlage des Freizügigkeitsabkommen beruht. Bezüglich der Sozialrechte will man eine Entscheidung auf Biegen und Brechen. Die Kantone wehren sich gegen das Abkommen und fürchten ohne Rechtsgrundlage um ihre Gestaltungsspielräume. Magistraten und Politiker vieler Couleur behaupten, dass das Abkommen vor dem Volk keine Chance hat, obgleich Umfragen im Jahre 2019 wiederholt das Gegenteil ergeben haben. Vor allem haben Volk und Stände am 25. November 2018 in einer epochalen Abstimmung die sog. Selbstbestimmungsinitiative massiv verworfen. Die Politik hat diese Zeitenwende noch nicht zur Kenntnis genommen. Immer noch hat sie Angst vor der nationalkonservativen Agenda einer vergangenen Zeit, als die transatlantische Achse noch funktionierte und die Schweiz im Verhältnis zur EU mehr Spielraum als heute hatte.
Warum diese ausgeprägte Diskrepanz? Drei Gründe lassen sich über das politische Parteiengerangel hinaus anfügen. Das Abkommen wurde erstens über Jahre hinter verschlossenen Türen verhandelt, ohne gleichzeitig einen innenpolitischen Lernprozess zu führen. Eine negative Grundstimmung baute sich auf, lange bevor der Text vor einem Jahr publiziert wurde. Das rächt sich nun. Die Debatte ist von früh gefällten Vorurteilen geprägt, auf die nur schwer ohne Gesichtsverlust zurückgekommen werden kann. Das Rahmenabkommen beschlägt zweitens und vor allem das tradierte Souveränitätsverständnis der Schweiz und macht einen ersten Schritt zu einer kooperativen Souveränität mit mehr Einfluss und Mitsprache in der EU, aber auch einer beschränkten Unterstellung unter ihre Gerichtsbarkeit. Und drittens bestehen schliesslich verschiedene versteckte Agenden, welche die Fundamentalopposition der SPV geschickt ausnützen.
All dies führt zu Verzögerungen, welche heute ohne Aufdatierung des Abkommens über technische Handelshemmnisse (MRA) Betriebe und Arbeitsplätze vor allem im Bereich der Medizinaltechnik ernsthaft gefährden. Morgen werden sich Schwierigkeiten in der Klimapolitik zeigen. Viele Fragen lassen sich hier national angehen. Viele verlangen aber eine regionale Lösung, will man Handelsumlenkungen vermeiden. Das gilt vor allem für den Emissionshandel, für Grenzabschöpfungen und differenzierte Klimazölle gegen schmutzig produzierte Waren. Es gilt für eine stabile Stromversorgung und für die Bewirtschaftung der Pumpspeicherwerke in den Alpen, die ohne Stromabkommen kaum ausgelastet werden können. Probleme werden sich rasch auch im Bereich der digitalen Wirtschaft zeigen. Wie will die Schweiz ohne Zusammenarbeit mit der EU Cyber-Kriminalität erfolgreich bekämpfen? Wie will sie Forschungszusammenarbeit und Netzwerkeffekte in der Software Entwicklung nutzen, die heute in der EU bewusst angestrebt werden? Wie will sie die Datensicherheit im Alleingang sicherstellen? Klimapolitik und die digitale Wirtschaft mit ihren engen und neuartigen Bezügen zur Sicherheitspolitik stehen zuoberst auf der Agenda der neuen EU Kommission. Ihre geopolitischen Herausforderungen rufen verstärkt nach einer europäische Souveränität (E. Macron). Für Drittstaaten ohne vertragliche Anbindungen wird es eng werden. Ihnen bleibt dann in Europa nur der autonome Nachvollzug ohne Marktzugangsrechte und damit endgültig der Verlust der nationalen Souveränität in zentralen Regelungsbereichen.
Bei all dem lässt sich der Bundesrat alle Zeit und delegiert staatsleitende Fragen an demokratisch nicht legitimierte Verbände und Sozialpartner. Die grossen geopolitischen Veränderungen bleiben unberücksichtigt. Auf die Argumente einer verfassungsrechtlichen Petition der zivilgesellschaftlichen Organisationen vom 31. Oktober 2019, mit der aus den vorgenannten Gründen eine rasche Unterschrift und Vorlage an das Parlament gefordert wird, ist er nicht näher eingegangen. Die Regierung glaubt, mit ihrer Haltung im Mai 2020 einen besseren Stand gegen die Kündigungsinitiative der SVP zu haben. Überzeugend ist das nicht. Man kann auch als Zaungast nicht gespalten und geteilt für die Idee der europäischen Integration einstehen.
Die Hoffnung bleibt, dass das neue Parlament nach all den durchführten aussergewöhnlichen Konsultationen das Heft im Rahmen seiner Mitverantwortung an die Hand nimmt und die Europapolitik auf einen klaren und vertrauensbildenden Weg führt.. Eine nüchterne rechtliche Beurteilung des Rahmenabkommens wird den beiden Kammern hier helfen. Offene Fragen lassen sich durch auslegende Erklärungen durchaus regeln. Eine Mehrheit des Schweizer Volkes erwartet in der Europapolitik im kommenden Jahr eine Rückkehr zur vertrauensbildenden Sachpolitik.
12.12.2019
Thomas Cottier ist emeritierter Professor für Europa- und Wirtschaftsvölkerrecht an der Universität Bern und Präsident der Vereinigung Die Schweiz in Europa.