Schweizer Neutralität – unverständlich oder nützlich? von Martin Gollmer, Thomas Cottier und Daniel Woker

In der Aussenpolitischen Strategie 2024–2027 bezeichnet der Bundesrat die Neutralität als Instrument der schweizerischen internationalen Beziehungen. Dabei wird sie immer mehr zu einem Hindernis für eine wirksame Aussen- und Sicherheitspolitik, wie die Beispiele Reexport von Kriegsmaterial sowie Kooperation mit EU und Nato zeigen.

«Die Neutralität wird von einigen Partnern (der Schweiz) kaum mehr als Beitrag an die Stabilität auf dem Kontinent verstanden. (…) Neutrale Staaten, die der Polarisierung (auf der Welt) entgegenwirken, werden gefragt bleiben.» Diese zwei Sätze stehen in der Einleitung zur Aussenpolitischen Strategie 2024–2027, die der Bundesrat kürzlich verabschiedet hat. Sie stehen in einem Widerspruch zueinander, der in der Strategie nicht wirklich aufgelöst wird.

Der erste Satz verdeutlicht eine Realität, die die Landesregierung nicht verneinen kann und der sie sich stellen muss. Sie ist eine Folge davon, wie die Schweiz insbesondere die Wiederausfuhr von in unserem Land hergestelltem Kriegsmaterial durch europäische Staaten in die von Russland angegriffene Ukraine handhabt. Diese Länder sehen das neutralitätsrechtlich begründete Nein der Schweiz als eine Behinderung legitimer Hilfe an die Ukraine. Was das Nein zu Reexporten von hiesigem Kriegsmaterial auch bedeutet: Es stellt die Schweiz als Standort für Rüstungs- und Technologieunternehmen in Frage.

Der zweite Satz – von den neutralen Staaten, die «gefragt bleiben» – zeigt eine Hoffnung, an die sich der Bundesrat klammert, um die in der  Schweizer Bevölkerung tief verankerte Neutralität nicht grundsätzlich hinterfragen zu müssen. Sie fusst auf der zunehmenden Konkurrenz der Grossmächte in der Welt und der Tendenz zu einer neuerlichen Blockbildung. Die Landesregierung glaubt deshalb, dass das aussenpolitische Profil der Schweiz als Förderin von Dialog und gegenseitiger Verständigung, als Gaststaat für diplomatische Konferenzen und internationale Organisationen und als Brückenbauerin für einen wirksamen Multilateralismus relevant bleibt. «Die Neutralität trägt zu diesem Profil bei und eröffnet nach wie vor Chancen», heisst es in der Aussenpolitischen Strategie 2024–2027.

Der Bundesrat glaubt denn auch, dass die Neutralität für die Schweiz weiterhin von Nutzen ist. Sie schränke zwar den Handlungsspielraum im militärischen Bereich ein, führt er am Beispiel der kriegsversehrten Ukraine aus, erlaube aber gleichwohl eine weitreichende Solidarität. Der Bundesrat hält fest: «Das Instrument der Neutralität lässt dabei Raum für eine kooperative Aussen- und Sicherheitspolitik mit europäischen und weiteren engen Partnern der Schweiz.» Diese will er in den kommenden Jahren ausbauen.

Mehr Kooperation mit EU und Nato 

Ausbauen will der Bundesrat gemäss der Aussenpolitischen Strategie 2024–2027 etwa die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit der EU und der Nato. Er stellt fest, dass die EU im Gefolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ihre Verantwortung für Sicherheit und Stabilität im euroatlantischen Raum verstärkt wahrnimmt. Sie erweitere ihre sicherheitspolitischen Instrumente und sei dabei bereit, Partnerschaften auszubauen. Das will die Schweiz nutzen, indem sie die sicherheitspolitischen Konsultationen mit der EU weiter entwickelt und ihre Beteiligung an EU-Friedensförderungsmissionen verstärkt. Weitere Kooperationsmöglichkeiten würden geprüft, etwa bei der Bewältigung von Katastrophen und Notlagen, schreibt der Bundesrat.

Was die Nato betrifft, hält der Bundesrat fest, dass sie sich auf die Bündnisverteidigung zurückbesonnen habe. Auch gestalte sie Partnerschaften individueller als zuvor. Die Schweiz wolle den politischen Dialog mit der Allianz stärken, die Interoperabilität der Armee verbessern, die vermehrte Teilnahme an Übungen der Nato prüfen und weiterhin Personal in deren Stäbe und Zentren entsenden.

Angesichts der Sicherheitslage in Europa, die sich mit dem russischen Angriff auf die Ukraine dramatisch verschlechtert hat, ist das alles gut und richtig. Nur ist es nicht genug. Bei den angestrebten Kooperationen mit der EU und der Nato handelt es sich nämlich vor allem um weiche Formen der Zusammenarbeit. Weitergehende und härtere wäre nötig – sind aber aus Gründen der Neutralität nicht möglich. Dabei handelt es sich bei EU und Nato um wichtige Mitgaranten des wirtschaftlichen Wohlergehens der Schweiz und deren militärischer Sicherheit.

Den bilateralen Weg weiterentwickeln

Geografischer Schwerpunkt der Aussenpolitischen Strategie 2024-2027 ist Europa – deshalb die angedachten Kooperationen mit der EU und der Nato. Angesichts der geopolitischen Bedeutung Europas für die Schweiz überrascht diese Schwerpunktsetzung nicht. Innerhalb Europas kommt der EU mit ihren 27 Mitgliedstaaten grosses Gewicht zu. Sie ist die mit Abstand wichtigste politische und wirtschaftliche Organisation auf dem Kontinent. Mit ihr will der Bundesrat den seit über zwanzig Jahren erfolgreich begangenen bilateralen Weg stabilisieren und weiterentwickeln. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger. Darüber hinaus beabsichtigt der Bundesrat, die Beiträge der Schweiz an die Stabilität Europas zu verstärken. Dem Frieden und dem Wiederaufbau der Ukraine misst er dabei «strategische Bedeutung» zu. Die Landesregierung plant in diesem Zusammenhang, im Sommer zur Ukraine eine Friedenskonferenz mit hochrangiger Besetzung durchzuführen.

Ausserhalb Europas kommt den weiteren Mitgliedern der G-20, dem Forum für Finanz- und Wirtschaftsfragen der global bedeutendsten Industrie- und Schwellenländer, aussenpolitisch eine wichtige Stellung zu. Dazu gehören etwa die USA und Kanada. In diesem Kontext arbeitet der Bundesrat darauf hin, dass die schweizerischen Wirtschaftsakteure weiterhin einen guten Zugang zu den nordamerikanischen Märkten haben. In der aufstrebenden Region Asien-Pazifik will der Bundesrat insbesondere zu China, das zu einem weltpolitischen und –wirtschaftlichen Schlüsselakteur geworden ist, prioritäre Beziehungen pflegen. Dies obwohl es etwa in Menschenrechtsfragen wachsende Differenzen gibt.

Fragwürdige Priorisierung Chinas

 Die USA unmissverständlich – ob Biden oder Trump –, die EU zögernd, aber immer klarer wenden sich politisch von China ab. Die Priorisierung von China in Asien in der Aussenpolitischen Strategie der Schweiz 2024-2027 mutet damit an wie ein schlechter Witz. Es ist klar, dass schweizerische Unternehmen weiterhin – wenn auch abnehmend (die chinesische Wirtschaft stottert) – mit China Handel treiben, wie US- und EU-Firmen auch. Wirtschaftspolitische, und noch mehr politische Zusammenarbeit der Schweiz mit dem imperialistischen und menschenrechtsverachtenden China von Xi Jinping muss aber ab- und nicht zunehmen. Dies weil erstens schweizerische Grundwerte auf dem Spiel stehen, die Vorrang haben vor kommerziellen Überlegungen, und zweitens weil uns eine entsprechende Politik in diametralen Gegensatz zu den USA – einschliesslich deren Boykotte gegen den Handel mit China – und zur EU bringt. Die gesamte schweizerische Europapolitik wird durch eine Pro-China-Politik in Mitleidenschaft gezogen.

Die langfristig ausgerichtete Entwicklungszusammenarbeit mit den Ländern des globalen Südens bezeichnet der Bundesrat als «Markenzeichen» der Schweiz, scheint ihr in der Aussenpolitischen Strategie 2024-2027 aber nicht die gleiche Bedeutung zuzumessen wie der Unterstützung der Ukraine. Über diese Schwerpunkte hinaus hat die schweizerische Aussenpolitik einen universellen Anspruch: Es sollen mit allen Staaten der Welt diplomatische Beziehungen gepflegt werden.

In seiner Aussenpolitik setzt der Bundesrat nicht nur geografische, sondern auch thematische Schwerpunkte. Dazu gehören Frieden und Sicherheit, Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit, Umwelt sowie Demokratie und Gouvernanz. Die letzten beiden Themen sind neu. Für die Umsetzung dieser Schwerpunkte setzt der Bundesrat auf seine üblichen Instrumente wie das Aussennetz mit seinen Botschaften und Konsulaten, die Diplomatie, die internationale Zusammenarbeit, die guten Dienste und – wie eingangs beschrieben – die Neutralität.

Haltung zur Neutralität bietet Angriffsflächen

Die Aussenpolitische Strategie 2024-2027 stellt die bisherige Praxis zum Neutralitätsrecht nicht in Frage: Nach wie vor geht der Bundesrat davon aus, dass Aggressor und Opfer auf Grund der obsoleten Haager Konventionen von 1907 aus der Zeit des europäischen Imperialismus gleich zu behandeln sind. Das ist mit den die Schweiz verpflichtenden Grundsätzen der Uno-Charta nicht vereinbar. Diese beinhalten ein Verbot von Angriffskriegen und ein Recht auf kollektive Selbstverteidigung, was eine Gleichbehandlung und damit indirekte Unterstützung des Aggressors ausschliesst.

Die Strategie anerkennt, dass Wiederausfuhrverbote von Kriegsmaterial nicht mehr verstanden werden. Sie zieht daraus aber keine Schlüsse, die die heutige Gesetzgebung im Verbund mit einer völkerrechtskonformen Auslegung durchaus zulassen würden. Die Neutralität ist nicht ein einseitiges Geschäft. Ihr Wert hängt von ihrer Anerkennung, ihrem Nutzen auch durch und für Dritte ab. Das gilt jedenfalls erst recht mit Bezug auf das Verbot der Wiederausfuhr längst verkaufter Kriegsmaterialen seit dem 24. Februar 2022 in Europa. Dieses wird vom Neutralitätsrecht nicht erfasst.

Dass Neutralität ein zweiseitiges Geschäft ist, bedeutet konkret, dass wirksame schweizerische Hilfe an die Ukraine die Erlaubnis zur Wiederausfuhr von Rüstungsmaterial durch Drittstaaten, aber auch eine massive Zahlungsbilanzhilfe in Milliardenhöhe umfassen muss. Sonst bleibt das schweizerische Bekenntnis zur Verstärkung der Zusammenarbeit mit EU und Nato leerer Buchstabe. Die Hilfe an die Ukraine zur Rettung der europäischen Demokratie gegen den russischen Kolonialimperialismus steht im Mittelpunkt der gegenwärtigen Tätigkeit dieser beiden Organisationen. Wenn wir hier wegen der Neutralität nicht voll teilnehmen, werden schweizerische Avancen zur Zusammenarbeit in Brüssel nur ein müdes Lächeln ernten.

Die Zusammenarbeit mit der EU in sicherheitspolitischen Fragen wird angesprochen, ohne dass entsprechende konkrete Schritte aufgezeigt werden. Dazu eignet sich aber die Pesco (Permanent Security Cooperation) auch für die Schweiz als Drittstaat in hohem Masse. Bei den heute 86 laufenden Projekten mit einer variablen Geometrie unter den Mitgliedstaaten machen teilweise auch neutrale Staaten sowie Drittstaaten wie Norwegen, Kanada und die USA mit. Die Formel erweist sich als Chance, die mit einer veralteten Neutralitätspolitik eingehandelten Nachteile aktiv auszugleichen und auf diese Weise zum dringend notwendigen Aufbau der Sicherheitsarchitektur und Verteidigungsfähigkeit der Schweiz mitten in Europa beizutragen.

Gegen Europa: Die SVP, Maillard und der «Blick» von Daniel Woker

Trotz Umfrageergebnissen, dass eine deutliche Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer sowie der Kantonsregierungen eine schnelle Einigung mit der EU will, sind am Wochenende vom 9./10. März 2024 nach der Verabschiedungs des Verhandlungsmandates durch den Bundesrat primär die Gegner medial mit schwerstem Geschütz aufgefahren. Wo bleiben die lauten Stimmen der Befürworter aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft?

Die SVP bleibt unter dem populistischen – die Parallele zu den amerikanischen Trump-Republikanern ist auffallend – und finanziellen Diktat von Christoph Blocher in der Winkelried-Pose gegen die Bilateralen III gefangen. Das ist offensichtlich. SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi etwa fordert in den Zeitungen des CH-Media-Verbunds den Abbruch der Verhandlungen, die ja noch gar nicht wirklich begonnen haben. Und in einem zweiseitigen Interview im «Sonntagsblick» läutet Noch-SVP-Präsident Marco Chiesa die SVP-Anti-Europa-Kampagne ein. Das alte und müde Lied von einem «Unterwerfungsvertrag» darf dabei natürlich nicht fehlen. Ausgerechnet vom Tessiner Chiesa, dessen Heimatkanton ohne die EU-Wirtschaft, auch in der dynamischen Grossregion Lombardei, das Armenhaus der Schweiz wäre.

Ob Unterwerfungs- oder Blochers Lieblingswort vom angeblichen «Kolonialvertrag» – diese Ausdrücke sind einfach lächerlich. Die EU-Länder Frankreich, Deutschland, Holland, Spanien, Portugal und Belgien, alle zur Kolonialzeit im globalen Süden herrschend, wollen die arme, kleine Schweiz wie weiland Afrika kolonisieren? You can’t be serious, wie sich John McEnroe jeweils nach falschen Schiedsrichterurteilen auf dem Tennisplatz auszudrücken pflegte.

«Nobler Brillenrahmen»

Erstaunlicher wirkt die geballte Breitseite über das vergangene Wochenende gegen das EU-Verhandlungsmandat der Schweiz im nach wie vor wichtigsten Meinungsmacher-Medium der Deutschschweiz, dem «Blick». In seiner Samstagsausgabe verspottet das Boulevardblatt die Bilateralen III mit der Schlagzeile auf der Frontseite «Wer versenkt das neue EU-Paket, schon das Parlament oder erst das Volk?», um auf der zweiten Seite mit einem Leiter der Politikchefin der Gruppe «Dieses Mandat ist ein Papiertiger» nachzudoppeln. In seiner gehobeneren Wochenendausgabe, dem «Sonntagsblick», macht sich dessen Chefredaktor in seinem Editorial über den goldenen Fingerring und den «noblen Brillenrahmen» von EDA-Staatssekretär Alex Fasel anlässlich der Pressekonferenz zur Vorstellung des EU-Verhandlungsmandates lustig, anstatt über die grösste Herausforderung der schweizerischen Aussenpolitik, unser Verhältnis zu Europa, zu schreiben.

Darin fordert er zum Schluss, durchaus zu Recht, auch ein «junges Gesicht», welches die weitere Öffnung gegenüber Europa in der schweizerischen  Öffentlichkeit vertreten sollte. Durchaus, aber man kann von einem Staatssekretär im EDA, der auch über Erfahrung und ein internationales Netzwerk verfügen muss, wohl kaum verlangen, dass er noch ein Tween ist. Womit ja übrigens ein Nachbarland im Aussenministerium und an der Regierungsspitze gemischte Erfahrungen gemacht hat.

Maillards Spiel mit dem Feuer

Angesichts der absoluten Notwendigkeit eines Verbleibs der Schweiz im europäischen Binnenmarkt, auch und gerade für schweizerische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, macht die Totalopposition der Gewerkschaften – bekanntlich mit der europafreundlichen SP der Schweiz eng und aktuell offensichtlich ungut verbunden – vollends sprachlos. Im Politik-Leitinterview des «Sonntagsblicks» («Gewerkschaftsboss Maillard, Vater Courage, strotzt vor Kraft») reitet der Gewerkschaftspräsident eine heftige Attacke gegen die Bilateralen III. Hier ist nicht nur, entgegen seinen Beteuerungen, die Sorge Maillards um seine Leute, sondern klar auch europafeindlicher Linkspopulismus am Werk.

Medientechnisch immerhin zu vermerken, dass das Interview vom Bundesredaktor des Sonntagsblicks durchaus kritisch geführt wird und Letzterer auch einen Opponenten von Maillard, in casu der Schreibende, zu Wort kommen lässt.

Europabefürworter, vereinigt Euch

Angesichts dieses verheerenden Auftaktes zur entscheidenden Schlacht um die Zukunft, ja um die Seele der Schweiz als offenes, fortschrittliches Land in Europa, ist eine rasche Mobilisierung der bislang eher schweigenden Mehrheit zugunsten der Bilateralen III dringend notwendig. Wo bleiben die Wortführer der Wirtschaftspartei FDP, nachdem Economiesuisse und Arbeitgeberverband eine Regelung des Verhältnisses zur EU und damit zum weitaus wichtigsten Markt der Schweiz als vordringliches Ziel erklärt haben? Wer aus der vernünftigen Mitte tritt an, welche sich als bewahrende Kraft einer vernünftigen Europapolitik sieht? Und, vor allem, warum lässt die SP dem europaphoben Berserker Maillard ohne Widerspruch von höchster Seite freien Lauf? Im Gegensatz zu den ebenfalls stumm bleibenden Grünen hat sich die grünliberale Partei als einzige vorbehaltlos hinter den Bundesrat gestellt, bravo!

Die Bilateralen III sind ein faires Bündnis von Thomas Cottier

Die Bilateralen III dienen der Sicherung des Zugangs der Exportindustrie und ihrer Zulieferer zum EU-Binnenmarkt und der Versorgungssicherheit der Schweiz. Das Vertragswerk, das noch fertig ausgehandelt werden muss, ermöglicht die Aufdatierung erodierender Abkommen der Bilateralen I und II. Es stellt die volle Teilnahme an Kooperationsprogrammen der EU sicher, namentlich in Bildung und Forschung. Es sieht den Abschluss weiterer Abkommen in den Bereichen Strom, Lebensmittelsicherheit und Gesundheit vor. Was den institutionellen Teil der Bilateralen III betrifft, bleiben die Rechte von Parlament und Volk trotz dynamischer Übernahme von EU-Erlassen gewahrt. Die Schweiz erhält eine Mitsprache bei der Vorbereitung von EU-Recht, dass sie übernehmen muss. Bei der Streitschlichtung wird der Europäische Gerichtshof beigezogen, wenn es um die Auslegung unklaren oder strittigen EU-Rechts geht. Das letzte Urteil fällt aber im Streitfall ein paritätisch besetztes Schiedsgericht. Insgesamt sind die Bilateralen III ein faires Bündnis zwischen der Schweiz und der Europäischen Union.

I. Eine Frage der Aufgabenverteilung

Die Aufgabenverteilung unter den verschiedenen Stufen des Gemeinwesens – von der Gemeinde, zum Kanton, über den Bund auf die europäische und die globale Ebene – gehört zu den Kernaufgaben föderaler Politik. Sie ist stets umstritten zwischen konservativen Kräften, die an der alten Ordnung festhalten, und jenen, die neue Herausforderungen offen angehen und Chancen wahrnehmen wollen. Veränderungen der Aufgabenverteilung sind meist durch technologische Fortschritte und die damit verbundenen Erweiterungen der Märkte bedingt, von der Dampfmaschine bis zur künstlicher Intelligenz. Die Rechtsordnung muss darin ihren Weg finden und sich neu ausrichten. Grundlegende Änderungen erfolgten meist revolutionär, wie mit der Bundesverfassung von 1848. Nach dem 2. Weltkrieg gelang es in Europa und weltweit, den Wandel schrittweise zu vollziehen und das Völkerrecht der Zusammenarbeit zu stärken und die europäische Integration in Etappen zu entwickeln.

Heute muss Vieles transnational geregelt werden. Es ist offensichtlich, dass das Internet nicht auf Ebene der Gemeinde geregelt werden kann. Und wer von Kloten oder Cointrin in die weite Welt fliegt, kann dies tun, weil das Recht der zivilen Luftfahrt in Europa und der Schweiz voll harmonisiert ist und weltweit völkerrechtlichen Regeln (darunter ICAO) und technischen Normen untersteht. Wer weltweit exportiert stützt sich auf Regeln, die an die Welthandelsorganisation (WTO) delegiert wurden, und verlässt sich auf deren Umsetzung. Er hält sich an international ausgehandelte Produktionsstandards. Diese begrenzen den Handlungsspielraum der Staaten, so auch der Schweiz. Gleichzeitig erweitern diese eng ineinander verzahnten Regelungssphären auch die Handlungsspielräume privater Akteure und der Nationalstaaten, die ihre Interessen in internationalen Foren einbringen können.

Das Recht ist heute in hohem Masse international vernetzt. Diese Regeln wirken oftmals im Hintergrund, gewissermassen als Teil des Betriebssystems. Es gibt heute mehr Staatsverträge als Gesetze und Verordnungen in der systematischen Rechtssammlung des Bundes. Sie sind in der Alltagspolitik nicht präsent und wenig bekannt. Dieses Unwissen erlaubt es, die Bilateralen III als etwa Ausserordentliches, ja als Staatsgefährdung zu stilisieren und so die Stimmbürgerschaft gegen Europa zu mobilisieren, Verlustängste zu bewirtschaften und damit strukturerhaltend protektionistische Interessen der Binnenwirtschaft, der Landwirtschaft und der Finanzindustrie zu bedienen.

II. Notwendigkeit des Abkommens

Die Zuordnung wirtschaftsrechtlicher Kompetenzen in den Bilateralen III dient der Sicherung der Marktteilnahme der Exportindustrie und ihrer Zulieferer am europäischen Wirtschaftsraum und der Versorgungssicherheit des Landes. Beides ist vordringlich, angesichts der Hochpreisinsel, der Frankenstärke und der geopolitischen Veränderungen. Stimmen aus der Industrie legen dies überzeugend dar (NZZ vom 19.1.24). Das Vertragswerk ermöglicht die Aufdatierung erodierender Abkommen der Bilateralen I und II. Es stellt die volle Teilnahme an Kooperationsprogrammen sicher, namentlich in Bildung und Forschung. Die Zeit drängt. Die UBS rechnet in der Industrie mit einem Verlust von 5000 Stellen in der kommenden Zeit (Tagesanzeiger vom 30.1.24). Es geht dabei nicht nur um die Interessen einzelner Unternehmungen, sondern darum, ob weiterhin in der Schweiz als Wirtschaftsstandort investiert und produziert wird, ob Steuern hier in Gemeinden, Kantonen und Bund anfallen, um Infrastruktur, Bildung, Sozialwerke, Landwirtschaft und Landesverteidigung zu finanzieren. Es geht darum, ob im Winter genügend Strom in der Energiewende und die Versorgung mit Medikamenten und Lebensmitteln sichergestellt werden kann. Dazu braucht der Handel vertraglich gesicherte, diskriminierungsfreie Rahmenbedingungen. Es geht schliesslich politisch darum, der Anschuldigung des Trittbrettfahrens zu begegnen. Die Kantonsregierungen unterstützen vor diesem Hintergrund das Verhandlungsmandat des Bundesrates und einen raschen Abschluss der Verhandlungen. (NZZ vom 2.2.24).

Die Teilnahme am europäischen Arbeitsmarkt bleibt zentral und bildet die Grundlage des gesamten Vertragswerkes. Die Forderung einer Kontingentierung der europäischen Arbeitskräfte (Interview NZZ vom 27.1.24) führt nicht nur zu einem korruptionsanfälligen administrativen Aufwand und Verteilungskampf zwischen Kantonen und Zentren, sondern erinnert auch an Zeiten im 19. Jahrhundert als Schwyz sich vor der Einwanderung aus Zürich fürchtete. Die Schweiz hatte während Jahrzehnten ein System der kontingentierten Zuwanderung in den Arbeitsmarkt. Es führte zu einer grossen Bürokratie, sozialen Missständen, Kosten für die Unternehmen und bewirkte keine Senkung der Zuwanderung – im Gegenteil.  Und die heutige Debatte um den Lohnschutz lässt verkennen, dass die Gewerkschaften damit in erster Linie die Ausweitung der Gesamtarbeitsverträge bezwecken und damit ein innenpolitisches Problem bewirtschaften. Der im EU-Recht heute anerkannte Grundsatz «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» vermag das Lohnniveau hinreichend zu schützen, auch gegen eine diesem Grundsatz gegenwärtig noch widersprechende Spesenordnung.

III. Freihandelsverträge genügen nicht

Anstelle der Bilateralen III wird erstens ein erweitertes Freihandelsankommen mit der EU nach dem Vorbild der Abkommen der EU mit Kanada oder mit Grossbritannien verlangt. Diese Abkommen sind im Vergleich mit dem Freihandelsabkommen der Schweiz und der EU von 1972 umfassender. Sie regeln Waren, Dienstleistungen und Investitionen, die Nachhaltigkeit, teilweise auch die Energie. Sie verzichten auf die Übernahme von EU-Recht. Sie umfassen aber auch keine gegenseitige Anerkennung von Vorschriften, was den Handel trotz Nullzöllen im nichttarifären Bereich erheblich erschwert. Sie schliessen sodann eine Mitsprache bei der Ausarbeitung inländischer Vorschriften aus. Sie beschränken sich mit andern Worten auf Markzugang. Sie umfassen keine Markteilnahme.

Diese Unterscheidung ist zentral für den Schweizer Wirtschaftsstandort. Der Marktzugang ermöglicht den Grenzübertritt für Güter und Dienstleistungen. Diese unterliegen aber dann andern Regulierungen, so namentlich bei der Zulassung, technischen Normen, Haftungsrecht, Marktüberwachung. Bei der Marktteilnahme gibt es diese Grenze in technischer und regulatorischer Hinsicht nicht mehr. Es gibt einen Markt mit den gleichen Spielregeln für alle Teilnehmer am Binnenmarkt. Für Produzenten und Käufer gelten dann in einem Markt mit rund 500 Millionen Konsumierenden die gleichen Marktregeln. Diese Integration hat gerade für die Schweiz mit vielen innovativen KMUs enorme Vorteile: Die Spezialisierung auf Nischen mit interessanten Möglichkeiten lohnt sich, es ergeben sich Skaleneffekte. Für konkurrenzfähige Unternehmen – auch wenn sie noch so klein sein mögen – ergeben sich dadurch interessante Geschäftsmöglichkeiten.

Die Beschränkung auf ein erweitertes Freihandelsabkommen verkennt das eherne empirische Gesetz, dass der Grossteil des Handels stets mit den Nachbarn erfolgt. Das ist heute so und wird auch so bleiben, namentlich für die vielen KMUs der Schweiz. Sie sind in erster Linie in den Nachbarstaaten tätig und auf Gleichbehandlung mit Konkurrenten aus andern EU/EWR-Staaten und damit auf unbürokratische Handelsbeziehungen angewiesen. Sie sind mit andern Worten auf die Markteilnahme angewiesen. Der Brexit zeigt, dass heute ein Freihandelsabkommen allein im europäischen Raum nicht genügt und erhebliche Wettbewerbsnachteile mit sich bringt. Das Abkommen mit Grossbritannien enthält sodann weitgehende Regeln zur Unterbindung von Dumping im Sozial-, Umwelt- und Subventionsbereich. Mit diesen Barrieren müsste auch die Schweiz rechnen.

Zweitens werden weitere Freihandelsabkommen mit Drittstaaten vor allem in Asien gefordert, welche die Abhängigkeit vom europäischen Markt reduzieren sollen. Solche Abkommen sind komplementär. Sie leisten einen Beitrag gegen den weltweit zunehmenden Protektionismus und tragen dazu bei, dass Schweizer Unternehmungen auch in den rasch wachsenden Märkten bestehen können.  Sie können aber die Teilnahme am europäischen Markt mit heute fast 60 Prozent des schweizerischen Handels und dem Gros der grenzüberschreitenden Investitionen nimmer ausgleichen oder ersetzen. Neben den USA und China entfallen auf die über 30 Freihandelsabkommen der Schweiz lediglich rund 4 Prozent des Handels der Schweiz. Die hochgradig protektionistische Landwirtschaftspolitik reduziert die Attraktivität der Schweiz als Freihandelspartner sodann stark. Sie macht ein Abkommen mit den USA illusorisch. Die Abkommen mit Mercosur und Indien sind noch nicht in trockenen Tüchern, eine Revision des Abkommens mit China ungewiss. Die geopolitische Entwicklung, die Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Autokratie begrenzt diese Politik zusätzlich.

Das gilt auch für den multilateralen Rahmen. Fortschritte im Rahmen der WTO werden in einer multipolaren Welt erschwert. Die Entwicklung verortet die Schweiz klar in Europa, wenn man die geopolitischen Herausforderungen einer schrittweisen De-globalisierung in für die Sicherheit kritischen Sektoren berücksichtigt. Der Glaube und die Hoffnung, dass die Schweiz ohne Marktteilnahme am europäischen Binnenmarkt eine erfolgreiche Aussenwirtschaftspolitik aufrechterhalten, gleichzeitig ihre Sicherheit gewährleisten und glaubhaft ohne engen Zusammenhalt mit ihren Nachbarn für ihre Werte und für Demokratie einstehen kann, entbehrt einer realistischen Grundlage.

IV. Institutionelle Einwände

Und gleichwohl sind die Bilateralen III höchst umstritten. Der wirtschaftlichen Notwendigkeit wird entgegengehalten, dass sie die Souveränität der Schweiz und ihre verfassungsrechtliche Ordnung gefährden. Sie unterwerfe sich der EU mit einem Kolonialvertrag ( dazu NZZ vom 20.1.24). Das Parlament verliere die Hoheit über die Gesetzgebung und das Bundesgericht über die Rechtsprechung (dazu NZZ vom 24.1.24). Umstritten sind aus institutioneller Sicht damit die Fragen der dynamischen Rechtsübernahme und der Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofes (EuGH).

A. Souveränität

Die Debatte um die Souveränität ist in der Schweiz auf die Frage fokussiert, ob sie weiterhin im Sinne des völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrechts eigenständig über ihre Gesetzgebung entscheiden kann. Dieses klassische Verständnis orientiert sich ausschliesslich am Nationalstaat. Es greift zu kurz und berücksichtigt den heutigen Grad der internationalen Vernetzung nicht. Souverän ist nicht nur, wer allein entscheidet, sondern wer sie oder ihn betreffende Entscheidungen auch auf den vorgelagerten Stufen des Gemeinwesens beeinflussen kann. Souveränität heute heisst heute vor allem auch Mitsprache und Mitbestimmung. Das wissen im Bund auch die Kantone. Sie nehmen ihre verfassungsrechtliche Souveränität auch durch Mitwirkung auf Bundesebene wahr.

Vermögen die Bilateralen III dem überlieferten wie dem modernen Verständnis der Souveränität gerecht zu werden? Vorauszuschicken ist, dass der freiwillige Abschluss eines Vertrages die Souveränität eines Staates nie verletzt. Die Frage ist, ob der Vertrag diese auf unnötige Weise einschränkt und damit abzulehnen ist. Das entscheidet sich institutionell an den folgenden Aspekten.

B. Die dynamische Rechtsübernahme und die Mitsprache

Die dynamische Rechtsübernahme bedeutet, dass Rechtsanpassungen im Rahmen der neuen Verträge – und nur in deren Geltungsbereich – formell nicht mehr beschlossen werden müssen, sondern unter Vorbehalt des Referendumsrechts übernommen werden. Praktisch bedeutet dies, dass Bundesrat und Parlament ihr Augenmerk auf die Aushandlung der Gesetzgebung in der EU richten müssen. Als Gegenzug zur dynamischen Übernahme wird seitens der EU die Mitsprache bei der Ausarbeitung von Erlassen eingeräumt, wie sie bislang nur im Rahmen von Schengen/Dublin besteht. Sie hat sich hier bewährt. Dank ihr können die Schweizer ihr Sturmgewehr selbst nach Abschluss der Wehrpflicht zu Hause behalten – wohlgemerkt als einziges Land im Schengen-Raum. Die Mitsprache erlaubt es, schweizerische Interessen gezielt einzubringen. Wird sie aktiv und klug wahrgenommen («the power of the pen»), kann die Souveränität über die Landesgrenzen hinaus erweitert werden. Die meisten Regelungsgegenstände fallen dabei in den Kompetenzbereich des Bundesrates und der Departemente. Das Parlament kann aber jederzeit über seine Kommissionen Einfluss nehmen und Interessen zuhanden des Bundesrates artikulieren. Das gleiche gilt auch für die Kantone mittels der Konferenz der Kantonsregierungen.

Eine Untersuchung der Legislatur 2004-2007 hat ergeben, dass in der Schweiz rund 55 Prozent der Gesetzgebung des Bundes vom EU-Recht betroffen ist. Davon wurden bei knapp einem Drittel das EU-Recht ganz, teils durch vertragliche Verpflichtung und teils autonom übernommen. In zwei Dritteln wurde das EU-Recht teilweise, mit helvetischen Modifikationen, übernommen. Gesamthaft wurde das EU-Recht bei rund 15 Prozent aller Gesetzesvorlagen voll übernommen (Jusletter vom 31.8.2009). Die Verhältnisse dürften sich seither nur marginal verändert haben. Für das Verordnungsrecht fehlt eine entsprechende Untersuchung. Hier liegt der Anteil voller Übernahme vor allem in technischen Bereichen viel höher. Die freiwillige Anpassung an das EU-Recht (Europakompatibilität) wird nun in weiteren ausgewählten Teilbereichen mit der dynamischen Übernahme ergänzt und dem Verfahren von Schengen/Dublin angepasst. Sie ist nicht flächendeckend, sondern auf 5 von über 120 Abkommen mit der EU beschränkt. Sie wird durch die Mitsprache bei der Ausarbeitung der Erlasse aufgewogen. Was wegfällt ist die formelle Zustimmung im Einzelfall in Bereichen, wo das Recht bislang autonom oder durch vertragliche Verpflichtung in aller Regel übernommen wurde. Der praktische Unterschied auf dem Terrain wird gering sein, ausser dass die Schweiz ihre Interessen dank der Mitsprache nun frühzeitig einbringen kann.

C. Referendum und Opt-out

Entscheidend ist, dass das Referendumsrecht auch in mit der dynamischen Übernahme vorbehalten bleibt und damit von der Möglichkeit des Opt-out Gebrauch gemacht werden kann, wenn alle Stricke reissen und das Volk eine Vorlage mehrmals ablehnen würde. Die dynamische Rechtsübernahme setzt die Volksouveränität als Selbstbestimmungsrecht nicht ausser Kraft. Revidiert die EU z.B. die Bestimmungen zur Personenfreizügigkeit, unterstehen diese Anpassungen der dynamischen Anpassung im Rahmen des bilateralen Vertrages, d.h. ohne die Komponenten der Unionsbürgerschaft. Diese Anpassungen erfolgen ohne weiteres, unterstehen aber dem Referendum. Referenden werden es nicht schwieriger haben als bei anderen Vorlagen, wo die internationale Vernetzung eine wichtige Rolle spielt und die Ablehnung der Vorlage mit grossen Nachteilen verbunden ist. Das Volk kann die Anpassung aber ablehnen und nach Verhandlungen und allenfalls einem Schiedsverfahren Ausgleichsmassnahmen in Kauf nehmen. Diese Einschränkungen werden durch die aktive Mitsprache bei der Ausarbeitung der europäischen Gesetzgebung ausgeglichen. Es liegt an der Schweiz, diese zu nutzen und ihre Mitspracherechte souverän wahrzunehmen. Gesamthaft ist die Gleichung fair und ausgeglichen. Sie ist gegenüber der Guillotine Klausel der Bilateralen I klar eine Verbesserung.

D. Die Rolle des Schiedsgerichts und des Europäischen Gerichtshofes

In der Anwendung der bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU/EWR-Staaten haben der EuGH für Klagen Privater in den Mitgliedstaaten, und das Bundesgericht für Klagen in der Schweiz das letzte Wort. Die Bilateralen III führen neu für zwischenstaatliche Streitigkeiten – und nur dort – ein Schiedsverfahren ein. Ein solches besteht bislang nur im Versicherungsabkommen und dem Abkommen zur Erleichterung des Zollverfahrens. Es wurde noch nie gebraucht. Denn Lösungen werden in erster Linie in den gemischten Ausschüssen erarbeitet. Die neue Gerichtsbarkeit kann indessen Blockaden vermeiden, wie sie beispielsweise den Holding-Steuerstreit mit der EU über Jahre charakterisierten. Es verhindert auch, dass Gegenmassnahmen willkürlich ohne sachlichen Kontext getroffen werden. Eine gegen über Drittstaaten diskriminierende Verweigerung der Börsenaequivalenz oder die Aussetzung von Forschungsprogrammen sind so rechtlich ohne festgestellte Vertragsverletzung nicht mehr möglich. Die Rule of Law wird gestärkt und die Schweiz gewinnt damit an Souveränität. Sie kann sich mit einem Schiedsverfahren wehren und die Verhältnismässigkeit von Ausgleichsmassnahmen seitens der EU durchsetzen. Sie erhält mit den Bilateralen III ein zusätzliches Instrument zur Durchsetzung der eigenen Interessen auf dem Rechtsweg. Das ist ein entscheidender Fortschritt gegenüber heute und verdient in der Debatte wie die Mitsprache eine viel stärkere Beachtung.

Das Schiedsgericht entscheidet allein über die Auslegung der völkerrechtlichen Bestimmungen der Bilateralen III und über die Verhältnismässigkeit von Ausgleichsmassnahmen. Es hat keine Kompetenz, Bussgelder zu verhängen. Es ist rechtlich schon aus diesem Grunde unrichtig, das Schiedsverfahrens als Durchlauferhitzer und Vorstufe für den EuGH darzustellen. Denn der Gerichtshof kommt in diesem Verfahren nur zum Zuge, wenn eine Frage des EU-Rechts noch unklar ist und nicht bereits Präjudizen zur Sache vorliegen. Im Vorlageverfahren sind alle EU-Mitgliedstaaten beteiligt. Es geht darum, eine Entscheidung zu treffen, die für alle Mitgliedstaaten massgeblich ist. Die Streitfrage betrifft so nicht allein die Schweiz. Sie ist Partei unter vielen. Dem Gerichtshof steht die abschliessende Kompetenz zur Auslegung des EU-Rechts zu. Wird diese nicht gewahrt, wird er weiteren Verträgen mit der Schweiz in einem Gutachterverfahren schlicht nicht zustimmen.

Das Bundesgericht erleidet mit dem Schiedsverfahren keinen Machtverlust. Es unterliegt bereits heute internationalen Gerichten, so dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und den WTO-Streitbeilegungsorganen. Die europäische Menschenrechtskonvention hat die Stellung des Bundesgerichts gestärkt, indem das Bundesgericht auch Bundesgesetze in der Anwendung auf die Vertragskonformität überprüft. Das gleiche macht es in Bezug auf die bilateralen Verträge und kann dies ebenso in Bezug auf das WTO-Recht und andere Verträge tun. Die Bilateralen III sehen kein Verfahren vor, bei dem der EuGH im Vornherein um Klärung des EU Rechts gebeten werden muss, wie dies für die Gerichte der Mitgliedstaaten gilt. Das Bundesgericht wird weiterhin im Dialog mit dem EuGH nach kompatiblen Lösungen suchen. Denn auch es ist an den Grundsatz pacta sunt servanda gebunden und Konflikte mit dem EU-Recht so weit wie vermeiden. Und sollte es gleichwohl einmal abweichen, so greift neu die Möglichkeit eines Schiedsverfahrens und eines Opt-out, unter Inkaufnahme von verhältnismässigen Ausgleichsmassnahmen.

V. Respekt der direkten Demokratie der Schweiz

Die Europäische Union berücksichtigt in den Bilateralen III die zentrale geographische Lage der Schweiz. Sie respektiert deren wirtschaftliche Bedeutung, und die Rechtstaatlichkeit. Sie zollt aber vor allem den direkt-demokratischen Institutionen der Schweiz Respekt. Die Bilateralen III sind eine sinnvolle Weitentwicklung einer langjährigen Partnerschaft auf Augenhöhe und gegenseitiger Achtung. Die Schweiz muss anerkennen, dass die EU und die mächtigen Mitgliedstaaten nach dem Rückzug des Beitrittsgesuches und der Verwerfung des Rahmenabkommens ihr stark entgegenkommen und zu einer massgeschneiderten Lösung Hand bieten. Die Haltung der Union widerspricht den landläufigen Vorstellungen einer dogmatischen, jakobinischen EU-Kommission. Ein Kolonialvertrag liegt mitnichten vor. Das ist reine Polemik und Angstmacherei, die das Volk mit Blick auf die nächsten Wahlen an der Nase herumführen will. Sie hat keine sachliche Grundlage. Die Bilateralen III unterliegen der direkten Demokratie. Das Vertragswerk basiert auf Zustimmung. Die Schweiz könnte es durch einen souveränen Beschluss wieder beenden.  Imperialismus und Kolonialismus sind etwas ganz Anderes. Es genügt, die Ziele Russlands in der Ukraine oder die Politik Chinas gegenüber Taiwan und im südchinesischen Meer in Erinnerung zu rufen.

Als die nach Luxembourg am stärksten in den europäischen Binnenmarkt integrierte Wirtschaft geniesst die Schweiz auch unter den Bilateralen III eine aussergewöhnliche Selbständigkeit, um die sie die Mitgliedstaaten beneiden mögen. Sie kann notfalls weiterhin ihre eigenen Vorstellungen unter Inkaufnahme von Ausgleichsmassnahmen rechtlich durchsetzen. Ihre Souveränität wird gewahrt und durch Mitsprache gestärkt. Die Bilateralen III versprechen ein faires Bündnis.

*Thomas Cottier ist emeritierter Professor für Europa- und Wirtschaftsvölkerrecht an der Universität Bern, Präsident der Vereinigung La Suisse en Europe. Der Autor dankt Jan Atteslander, Jean-Daniel Gerber, Martin Gollmer, Matthias Oesch und Daniel Woker für wertvolle Anregungen.       

Blocher – ein polternder Populist von Daniel Woker

In seiner Albisgüetli-Abschiedsrede vom Freitag, 19. Januar 2024, hat Altbundesrat Christoph Blocher einmal mehr seine üblichen Aussagen zu EU und Migration wiederholt, die voll von Verdrehungen und Unwahrheiten sind.

In einem langen Interview in den Tamedia-Zeitungen vom Wochenende vom 13./14. Januar 2024 spielte der Milliardär Christoph Blocher den Beschützer der Heimat mit Herz für die Armen: «Ich wäre …. sogar für eine 14. AHV-Rente». Seine darauf folgenden Aussagen zu EU und Migration, die er im Albisgüetli schlagwortartig wiederholte, zeigen aber, was er war und bleibt: ein polternder Populist – auch in seiner letzten Rede.

Unnötig? Kolonialvertrag? Einfach?

Eine Einigung mit der EU, wie sie mit den kommenden Verhandlungen über die zukünftige Gestaltung des Verhältnisses der Schweiz zur EU (Bilaterale III) allenfalls zu Stande kommt, sei ein «unnötiger Kolonialvertrag, Sachprobleme mit der EU könnten mit einem einfachen Abkommen geregelt werden». Das sind gleich drei Unwahrheiten hintereinander. Der Vertrag ist bitter nötig, um der Schweiz den Zugang zum europäischen Binnenmarkt zu erhalten. Das befürwortet gemäss Umfragen eine Mehrheit von Schweizerinnen und Schweizer.

Die Schweiz als Kolonie der EU, also von Deutschland, Frankreich, Italien und anderen europäischen Staaten, die uns politisch und wirtschaftlich am nächsten stehen? Diese zweite Unwahrheit ist einfach lächerlich. Blocher will wohl ein Alpenmonaco, in dem Reiche aus aller Welt sowie gewisse Banken und Finanzunternehmen profitieren, die grosse Mehrheit der Bevölkerung aber leiden würde. Wirtschaftlich beispielsweise unter erhöhten Importpreisen und der Abschnürung unserer bi- und trinationalen Grenzregionen von ihrem europäischen Hinterland, politisch unter einer weiteren Entfremdung des europäischen Kernlandes Schweiz von Europa.

Die dritte Unwahrheit vom «einfachen Vertrag» ist von bodenloser Frechheit. Es war nämlich Blocher, der 1992 mit einer millionenschwerer Schmutzkampagne gegen den Beitritt der Schweiz zum EWR (Europäischer Wirtschaftsraum) die Volksabstimmung zum Kippen ins knappe Nein brachte. Das wäre eine einfache Lösung für den Zugang zum EU-Binnenmarkt gewesen. Seither sind zwar Notlösungen gefunden worden, was nun aber zu Ende ist. Für einen Vertrag braucht es zwei Seiten; die EU hat seit Jahren das Ende von Notlösungen signalisiert.

Unreflektiertes vom Biertisch

Blochers im Interview weiter enthaltene Beschimpfung der «classe politique, welche die lästigen Volksabstimmungen und das Kantonsmehr (Ständemehr) beseitigen» will, ist sein übliches Echo vom unreflektierten Biertisch. Dass die beiden SVP-Bundesräte Guy Parmelin und Albert Rösti ohne Beschluss der Gesamtregierung in ihren internationalen Kontakten am Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos die These vom doppelten Mehr, also einer Mehrheit von Volk und Kantonen, bei der kommenden Volksbefragung über die Bilateralen III vertreten haben, wiegt schwerer. Das geht in Richtung Befehlsempfang aus Herrliberg für Minister, die unabhängig von ihrer Partei gemäss dem Wohl des Landes entscheiden sollten. Die Bilateralen I und II sind beide dem einfachen Referendum unterstellt worden, da darin keine Veränderung der Bundesverfassung – Grundvoraussetzung des obligatorischen Referendums mit doppeltem Mehr – vorgesehen war, was auch auf die Bilateralen III zutreffen wird.

Die EU brauche «Geld, Geld, Geld», behauptet Blocher weiter. Er meint damit den Kohäsionsbeitrag, der mit den Bilateralen III auf eine solide Basis gestellt werden soll. Die Schweiz leistet diesen Beitrag seit Jahren, um zum Ausgleich zwischen West und Ost im EU-Binnenmarkt beizutragen. Dies auch in unserem eigenen Interesse, ist doch gerade die exportabhängige Schweiz auf prosperierende  Märkte angewiesen. Es handelt sich um Mittel, die für das Wohl Gesamteuropas eingesetzt werden. An dessen Stärkung muss sich in diesen Zeiten von europäischen (Ukraine) und globalen geopolitischen Verwerfungen auch das Nichtmitglied Schweiz, das nichts für das reguläre EU-Budget leistet, beteiligen.

Geld braucht die EU tatsächlich für die Bewältigung der grossen Zukunftsprobleme: Klimawandel, Regulierung von Technologie, sicherheitspolitische Probleme mit einem Make-America-Great-Again-Präsidenten Trump in den USA, illegale Immigration. Alles Probleme, die auch die Schweiz betreffen, und die wir in enger Zusammenarbeit mit unseren europäischen Partnern besser und kostengünstiger regeln als allein.

Angriff auf die Personenfreizügigkeit

«Arbeitskräfte finden wir auch ohne Personenfreizügigkeit», meint Blocher weiter. Das ist zumindest eine grobe Verdrehung. Gerade die Personenfreizügigkeit im EU-Binnenmarkt, der sich die Schweiz mit dem bilateralen Freizügigkeitsabkommen von 1999 (FZA) angeschlossen hat, garantiert, dass die gesuchten, qualifizierten Fachkräfte, die wir dringend benötigen, ohne administrative Probleme gefunden werden können. Denn diese kommen primär aus der EU. Die SVP-Initiative gegen das FZA (Begrenzungsinitiative) haben Volk und Stände 2020 mit über 60 Prozent Nein-Stimmen verworfen.

In diesem wichtigen Bereich der nun abgeschlossenen Vorverhandlungen zwischen der Schweiz und der EU für die Bilateralen III konnten bereits die Umrisse von fairen Kompromissen zwischen allgemeinen EU-Regelungen und spezifisch schweizerischen Bedürfnissen gefunden werden. So insbesondere beim Lohnschutz, der Sozialhilfe und dem Landesverweis bei Strafverfahren.

Wo Beat Jans gefordert sein wird von Martin Gollmer

Der neu gewählte Bundestrat Beat Jans ist seit Anfang 2024 Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartements. Er ist dort gleich mehrfach gefordert – auch europapolitisch. Stichworte dazu sind etwa Zuwanderung, Asylpolitik und Personenfreizügigkeit. Im schwierigen EU-Dossier könnte er für neuen Schwung in der Landesregierung sorgen.

Seit dem 1. Januar 2024 ist der neu gewählte Bundesrat Beat Jans (SP) im Amt. Er ist für das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) zuständig. Dieses übernimmt er von seiner Parteikollegin Elisabeth Baume-Schneider, die nach nur einem Jahr ins Eidgenössische Departement des Inneren geflüchtet ist. Jans erbt von ihr einige auch europapolitisch bedeutsame Probleme, die dringend einer Lösung bedürfen. Hier eine Auswahl:

  • Hohe Zuwanderung. Die Zuwanderung in die Schweiz dürfte 2023 einen rekordverdächtigen Wert erreicht haben. Bis Ende November liessen sich rund 96’000 Personen hierzulande nieder – fast so viele wie im Spitzenjahr 2008. Die Auswanderung bei der ausländischen Bevölkerung betrug dabei 34’500 Personen. Das ergibt eine Nettozunahme der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung von 61’500 Personen oder von 3.9 Prozent. Nicht dazu zählen Asylsuchende, Personen mit Schutzstatus S und vorläufige Aufgenommene. Die Zuwanderung erfolgt fast ausschliesslich in den Arbeitsmarkt. Trotzdem beklagt die Wirtschaft einen Fachkräftemangel. Derweil kritisiert die nationalkonservative SVP, die mit Abstand wählerstärkste Partei der im Land, die hohe Zuwanderung und schürt die Angst vor einer 10-Millionen-Schweiz. Mit diesem Thema hat sie die Wahlen 2023 ins eidgenössische Parlament gewonnen.

Jans wird entscheiden müssen, welches Problem er höher gewichtet: Fachkräftemangel oder Überbevölkerung. Dabei fällt ins Gewicht, dass die Schweiz aufgrund des bilateralen Personenfreizügigkeitsabkommens mit der EU die Zuwanderung nur beschränkt selbst steuern kann. Was Jans hier tut und wie er sich entscheidet, ist durchaus von Belang: Die SVP sammelt Unterschriften für die «Nachhaltigkeitsinitiative», mit der sie die Zuwanderung begrenzen will. 2024 steht zudem eine Bilanz zu den Massnahmen an, die die Schweiz seit der Annahme der «Masseneinwanderungsinitiative» im Jahr 2014 ergriffen hat. Ziel deren Umsetzung war es, das Arbeitskräftepotenzial im Inland besser auszuschöpfen.

  • Unterbringung von Asylsuchenden, Dauer der Asylverfahren und Rückführung von abgelehnten Asylbewerbern. Rund 28’000 Personen haben bis Ende November 2023 ein Asylgesuch in der Schweiz gestellt. Rund 30’000 dürften es bis Ende 2023 werden. Das ist zwar weniger als im Rekordjahr 2015, als fast 40’000 Asylsuchende ins Land kamen, aber mehr als in den vergangenen Jahren. Dazu kommen noch die Flüchtlinge aus der Ukraine, die den Schutzstatus S erhalten haben. Die Unterbringung dieser Asylsuchenden und Flüchtlinge und deren Verteilung auf die Kantone ist ein Dauerthema, das Jans auch 2024 beschäftigen wird.

Kommt dazu dass die Asylverfahren immer noch zu lange dauern. Ziel der letzten Asylreform war es, diese Verfahren zu beschleunigen – etwa durch deren Konzentration auf sechs Zentren. Noch immer betreibt der Bund aber Dutzende solcher Standorte. Ein Problem ist auch, dass das System eigentlich nur auf 24’000 Personen pro Jahr ausgelegt. Kommen mehr Asylsuchende und Flüchtlinge wie dieses Jahr, zeigt sich das System überfordert und häufen sich die Pendenzen.

Ungelöst ist nach wie vor auch die Rückführung abgelehnter Asylbewerber in ihre Herkunftsstaaten. Viele von ihnen verweigern deren Rücknahme. Zahlreiche abgelehnte Asylbewerber bleiben deshalb in der Schweiz – ein unbefriedigender Zustand. Im Nationalrat ist deshalb jüngst ein asyl- und völkerrechtlich fragwürdiger Vorstoss zur Abstimmung gekommen, abgewiesene Asylsuchende in irgend ein sicheres Drittland zu schicken. Trotz Zustimmung der SVP und FDP scheiterte der Vorstoss nur knapp.

  • Positionierung in der europäischen Asylpolitik. Aufgrund des bilateralen Dublin-Assoziierungsabkommens ist die Schweiz an der Asyl- und Migrationspolitik der EU beteiligt. Ende 2023 haben sich die EU-Mitgliedstaaten nach langen Jahren des Streits auf eine Reform dieser Politik geeinigt. So sollen vor allem in den Grenzstaaten im Süden grosse Auffanglager errichtet werden. Dort sollen für Flüchtlinge mit geringer Chance auf Asyl schnelle Verfahren durchgeführt werden.

Zudem beschlossen die Mitgliedstaaten einen Verteilungsmechanismus für Flüchtlinge, der auf Solidarität beruht. Entweder übernimmt ein EU-Land Flüchtlinge aus den Grenzstaaten oder – wenn es dies nicht will – bezahlt es finanzielle Beiträge an die Betreuung von Flüchtlingen an die anderen EU-Länder. Einfach nichts tun, soll nicht mehr möglich sein. Für die Schweiz – und somit für Jans – stellt sich nun die Frage, soll sie Flüchtlinge aus den Grenzstaaten aufnehmen oder finanzielle Beiträge leisten.

  • Bilaterale III und Personenfreizügigkeit. Jans ist als Vorsteher des EJPD auch für die Umsetzung des bilateralen Personenfreizügigkeitsabkommens mit der EU zuständig. Deshalb gehört er – zusammen mit Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) sowie Wirtschafts-, Forschungs- und Bildungsminister Guy Parmelin (SVP) – auch dem Europaausschuss des Bundesrats an. Dieser ist angesichts anstehender Verhandlungen mit der EU über ein neues bilaterales Vertragspaket namens Bilaterale III besonders gefordert. Jans hat in Interviews vor seiner Wahl in den Bundesrat betont, dass er für geregelte Beziehungen mit der EU und somit auch für den raschen Abschluss eines neuen Vertragspakets eintritt. Das dürfte neuen europapolitischen Schwung in den Bundesrat bringen.

Besonders gefragt dürfte Jans’ Einschätzung aber in Sachen Personenfreizügigkeit gefragt sein. Dort fordert die EU die Übernahme ihrer Unionsbürgerrichtlinie in schweizerisches Recht. Befürchtet wird hierzulande, dass dies zu einer Zuwanderung ins schweizerische Sozialsystem führen könnte. Die Schweiz will deshalb in den Verhandlungen mit der EU Ausnahmen bei den Aufenthaltsrechten von EU-Bürgern erreichen. Umstritten ist in diesen Verhandlungen auch der Lohnschutz für schweizerische Arbeitskräfte. Sollen etwa bei den Spesen für in die Schweiz entsandte ausländische Arbeitnehmer nur die oftmals niedrigeren Ansätze in deren Herkunftsländern gelten, wie das in der EU üblich ist? Nein, sagen die hiesigen Gewerkschaften, die Lohndumping befürchten. Jans hat nach seiner Wahl angekündigt, alles zu tun, um in dieser Frage wie insgesamt im Lohnschutz zu einer Lösung zu kommen – auch unter Einbezug der schweizerischen Arbeitgeber.

  • Europakompatible Gesetzgebung. In den Aufgabenbereich des EJPD fällt auch die Prüfung der Europakompatibilität vorgeschlagener Erlasse auf allen Gebieten des Bundesrechts. Das gilt nicht nur für die Umsetzung von Verträgen, sondern auch der Frage, inwieweit autonome Erlasse vom EU-Recht abweichen können und sollen und inwieweit sich eine europakompatible Lösung zur Vermeidung von Handelshemmnissen und politischen Schwierigkeiten aufdrängt. Die Frage wird sich vor allem im Bereich der Konzernverantwortung stellen, bei der der Bundesrat eine international abgestützte Regelung versprochen hat, die über das geltende schweizerische Recht hinausgeht.

Jans steht also in einem nur scheinbar unbedeutenden Departement wie dem EJPD gleich vor mehreren gewichtigen Herausforderungen. Wie er sie angeht, dürfte in den kommenden Jahren auch das seit längerem schwierige Verhältnis der Schweizerinnen und Schweizer zur EU wesentlich bestimmen.

La Suisse et l’UE: des opportunités! par Maurice Wagner

Un accord Suisse-UE aurait beaucoup d’avantages – notamment pour l’industrie, la recherche et l’éducation dans notre pays. Et pourquoi ne pas travailler à la reconnaissance mutuelle entre l’UE et la Suisse des homologations de médicaments?   

Les chances d’un accord Suisse-UE sont bonnes, titrait Le Temps le 21 décembre 2023. Un accord avec l’UE est nécessaire, quoi qu’en pensent l’UDC et l’USS. Swissmem, l’organisation faîtière suisse de l’industrie technologique, est la dernière organisation ayant réclamé un accord entre la Suisse et l’UE. Elle vient effet de lancer un appel à l’aide en raison du franc suisse fort et elle  exige une amélioration des conditions-cadres. Heureusement que la Suisse a appris à vivre avec un franc fort, car influencer les cours de change entre le franc suisse et le dollar ainsi que l’euro est à la fois difficile et problématique.

En revanche, il est dans le pouvoir de la Suisse de négocier professionnellement et de signer un accord avec l’UE afin d’améliorer les conditions-cadres et de corriger les conséquences délétères du claquage de porte de mai 2021 à Bruxelles. Un accord entre la Suisse et l’UE devrait couvrir notamment la santé, la sécurité alimentaire  et l’énergie. Il permettrait par ailleurs à la Suisse non seulement de réintégrer les programmes Horizon (recherche) et Erasmus (étudiants), mais aussi de remettre sur les rails l’accord de reconnaissance mutuelle concernant le MedTech et de reconduire l’accord correspondant concernant l’industrie technologique, qui ne tient plus qu’à un fil.

Les dommages réels ou potentiels subis par l’industrie MedTech et l’industrie technologique pèsent plus lourd que la question des remboursements des notes de frais de quelques travailleurs détachés, même si l’industrie est insuffisamment vocale sur cette question. Les coûts réglementaires additionnels dans le secteur MedTech doivent être financés et ont un impact sur le niveau des prix et donc des primes d’assurance-maladie. Ceux qui bloquent les négociations Suisse-UE contribuent ainsi à augmenter les primes d’assurance… Le président de l’USS, toujours le premier à critiquer le niveau des primes de l’assurance-maladie, comprendra assurément…

Passant du secteur MedTech au secteur pharma, j’ai lu avec intérêt que Swissmedic venait   d’homologuer un médicament préventif contre la bronchiolite. Ce médicament est déjà utilisé en France depuis trois mois. Cela pose la question des multiples procédures d’enregistrement. Est-il nécessaire que la Suisse (Swissmedic) réinvente la roue pour chaque nouveau médicament ? Et vice versa, dans le cas, certes peu probable, où la Suisse homologuerait un médicament avant les pays de l’UE ? Ne serait-il pas intelligent de travailler à la reconnaissance mutuelle entre l’UE et la Suisse des homologations de médicaments? Cette reconnaissance mutuelle a fait ses preuves dans le domaine MedTech, et permettrait de diminuer les coûts de la santé, puisqu’on éviterait ainsi de multiplier sans raison les coûts des enregistrements! La Conseillère fédérale Elisabeth Baume-Schneider sera-t-elle plus sensible à cette problématique que ses prédécesseurs?

Schweizerische Europapolitik: Hektische Stagnation von Daniel Woker

Im neuesten Bericht zu den Diplomatischen Dokumenten der Schweiz (Dodis), nach einer Sperrfrist von 30 Jahren freigegeben am 1. Januar 2024, wird das Jahr 1993 beleuchtet. Hauptthema war damals und bleibt heute das Verhältnis der Schweiz zur EU. Auch andere aussenpolitische Realitäten sind seither unverändert geblieben.

Seit der knappen, aber negativen Volksabstimmung über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) von 1992 ist das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU zerrüttet. Die danach abgeschlossenen bilateralen Abkommen I und II sind ein Heftpflaster, das der Schweiz einen Notzugang zum europäischen Binnenmarkt erlaubt. Die nie genesene Wunde muss nun neu durch die Bilateralen III verarztet werden. Es ist ein Lichtblick, dass die Weiterführung des Zugangs zum Binnenmarkt sowohl von Seiten der EU als auch der Schweiz positiv beurteilt wird. Gemäss einer kürzlich veröffentlichen Umfrage will eine klare Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer ein geordnetes Verhältnis mit der EU. Offen bleibt die Wunde, da in zahlreichen anderen gesamteuropäischen Belangen – Klimaschutz, Regelung von Zukunftstechnologien, Sicherheitspolitik insbesondere mit einem möglichen neuerlichen Präsidenten Donald Trump in Washington – die Schweiz nicht an Entscheidungsfindung und Beschlussfassung der EU beteiligt ist. Ihr bleibt nolens volens nur der Nachvollzug.

1993: Europäischer Optimismus trotz allem

 Trotz dem deprimierenden Nein zum EWR Ende 1992 – am berühmte Dimanche Noir des damaligen Bundesrates Jean-Pascal Delamuraz – blieb die Landesregierung auch im unmittelbaren Nachgang dazu optimistisch, dass die folgende Epoche mit einem bilateralen Zugang zur damaligen EG (Europäische Gemeinschaft) ein kurzzeitiges Provisorium bleiben würde. Dies vor einem definitiven Entscheid, ob voller Beitritt zur EG oder doch ein zweiter Anlauf zum EWR. 1993 signalisierte der Bundesrat im aussenpolitischen Bericht, dass ein Beitritt «noch in diesem Jahrhundert» wahrscheinlich sei.

Das wurde damals auch an bilateralen Treffen mit den Chefs der wichtigsten Partnerländer so dargelegt. Das förderte deren Entgegenkommen, der Schweiz die Extrawurst eines vorläufigen bilateralen Zugangs zum europäischen Binnenmarkt zu erlauben. So wird der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl im Dodis-Bericht mit dem Zitat erwähnt «Schweizer Trotz hilft auf  die Dauer nichts». Und auch der frühere französische Staatspräsident François Mitterrand liess sich überzeugen, dass die Schweiz in ihrem eigenen Interesse bald der EG beitreten würde, wie sich das für die übrigen europäischen Neutralen Österreich, Schweden und Finnland damals abzeichnete.

Auf konservativen Nationalismus eingeschwenkt

Wie man nun weiss, trat dies leider nicht ein. Vielmehr folgten 30 Jahre hektischer Stagnation in der schweizerischen Europapolitik. Diese kaprizierte sich primär darauf, möglichst viele bilaterale Vorteile zu erreichen, ohne bleibende Verpflichtungen übernehmen zu müssen. Auch wenn 2024 mit den Bilateralen III eine weitere provisorische Lösung gefunden werden sollte, ist emotionslos festzustellen, dass die Schweiz in den vergangenen 30 Jahren im Verhältnis zur EU auf einen Kurs des konservativem Nationalismus eingeschwenkt ist.

Der von Blochers SVP 1992 mit ihrer Schmutzpropaganda gegen Europa – «Brüssel als moderner Habsburger Drache, der die wehrhafte Schweiz verschlingen will» eingeleitete Prozess hatte ungeahnten Erfolg über weite Teile der politischen Schweiz hinweg. Er führte zu einem generellen Rechtsruck auch links von der Schweizerischen Volkspartei. Hatte die FDP Anfang der 90er-Jahre den EG-Beitritt noch in ihrem Parteiprogramm, so meinte der Präsident der Jungen (!) FDP in einer öffentlichen Diskussion kürzlich im Brustton der Überzeugung eines Zürcher Bahnhofstrasse-Liberalen «Beitritt der Schweiz zur EU: nie».

Kein europäisches Bewusstsein vorhanden

 Dies ist umso kurzsichtiger, als spätestens seit dem kürzlichen Entscheid der EU mit Kiew Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, die Ukraine ein unverzichtbarer Teil von Europa geworden ist. Die schweizerische Ukrainepolitik ist also damit ebenfalls Teil unserer Europapolitik. Auch hier ist heutzutage nichts von einem europäischen Bewusstsein der Schweiz auszumachen. Es herrscht primär Verweigerung: keine Waffenlieferungen wegen dem Neutralitätsdogma, keine Finanzhilfe wegen der Schuldenbremse und der konservativen Nationalbank und auch keine schweizerische Friedensvermittlung, die offensichtlich nicht gefragt ist. Der Lichtblick besteht hier in der Absicht des Auswärtigen Departements, über zehn Jahre sechs Milliarden Franken Wiederaufbauhilfe zu leisten. Aber auch diese Geste ist mit Schatten behaftet, sollte diese Summe zulasten der Unterstützung des globalen Südens gehen.

Europäisches Bewusstsein wäre hier einmal angezeigt, weil auch uns wohl geneigte internationale Beobachter der schweizerischen Ukrainepolitik mit Unverständnis und Kritik begegnen. So etwa der ehemalige deutsche Bundespräsident Joachim Gauck, das verkörperte Gewissen Deutschlands, in einem Jahreswechsel-Gespräch in den Tamedia-Zeitungen. Er sieht mehr Solidarität mit der von Wladimir Putins Aggression schwer geprüften Ukraine als Jahrhundertaufgabe Europas an.

Sicherheitspolitik: Mehr Nato und EU notwendig

Aber auch im ureigenen Interesse unseres Landes sind grössere europäische Anstrengungen der Schweiz dringend nötig. So beispielsweise in der Sicherheitspolitik. Wie von Verteidigungsministerin Viola Amherd eben betont – und vom neu ernannten Staatssekretär im VBS, Brigadier Markus Mäder nachdrücklich unterstrichen –, wird die massive Erhöhung des schweizerischen Wehrbudgets, um sinnvoll zu sein, auch engere und mehr Zusammenarbeit mit der Nato und der sicherheitspolitischen EU mit sich bringen. Um in beiden Organisationen ernst genommen zu werden, muss die Jungfrau Helvetia von der unbefleckten (Neutralitäts-)Empfängnis abrücken und schönen Worten Taten zu Gunsten der Ukraine folgen lassen, dem gegenwärtig dringendsten Brennpunkt von Nato und EU.

Auch hier kontrastiert die ergebnisorientierte, offene Politik von Anfang der 1990er-Jahre mit der gegenwärtigen Neutralitätsängstlichkeit. Wie im Dodis- Bericht nachzulesen ist, erlaubte der Bundesrat damals im Rahmen der primär serbischen Aggression in Bosnien-Herzegowina ein erstes Mal militärische Überflüge der Nato über die Schweiz – «neutrality be damned».

Gute Dienste trotz Neutralität nicht gefragt

Neutralitäts-Fetischisten verweisen gerne auf die angeblich nur wegen der Neutralität möglichen Guten Dienste der Schweiz, im Sinne einer geschichtlichen, unverrückbaren Realität. Die Dodis-Dokumente von 1993 gehen auch auf die damalige Nahostpolitik des Bundesrates ein, mit Berichten über Kontakte mit Israel ebenso wie mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO); dies aber immer im Rahmen der damals dominanten Verträge von Oslo. Die wichtigsten im Spannungsfeld Nahost je geführten Verhandlungen fanden unter der Ägide der USA in der Hauptstadt des Nato-Mitglieds Norwegen statt und nicht im internationalen Begegnungsort Genf in der neutralen Schweiz.

Dies entspricht einem im Dodis-Bericht erwähnten Résumé des damals als schweizerischer Botschafter in Washington abtretenden Edouard Brunner, der ausdrücklich festhielt, dass die USA seit Ende des Kalten Krieges ihr Interesse an der schweizerischen Neutralität verloren hätten.

Heute steht mit Blick auf den Nahen Osten mit der Aktualität des Krieges zwischen der palästinensischen Terrororganisation Hamas und Israel das Mittun der Schweiz im Uno-Sicherheitsrat im Mittelpunkt. Die Schweiz hat sich in New York im Rahmen ihrer Möglichkeiten bislang gut geschlagen. Positiv ist insbesondere, dass sich so die  aussenpolitische Diskussion in der Schweiz – und damit ein entsprechendes Bewusstsein hierzulande – verstärkt hat. Das Bewusstsein nämlich, was ein mittelgrosser europäischer Staat angesichts zunehmender Schwerpunktverlagerung von Europa weg auf der globalen Bühne ausrichten kann und – vor allem – was nicht. Insbesondere, wenn ihm das spezifisch schweizerische Handicap anhaftet, nicht an den zwei Strukturen EU und Nato teilzuhaben, die global für ein starkes Europa stehen.

Im Nahen Osten wird weiterhin eine schweizerische Vermittlung von den Konfliktparteien offenbar nicht nachgefragt. Das lässt deren konstantes Anbieten eigenartig erscheinen. Genf und das Weltwirtschaftsforum in Davos sind internationale Treffpunkte, welche mit spezifisch schweizerischer Leistung nur mehr wenig zu tun haben.

Wenn Innenpolitik die Aussenpolitik dominiert

Schliesslich werfen auch institutionelle Probleme Schatten auf die schweizerische Aussenpolitik. Entgegen einem oft gehörten Bonmot ist nicht alle Aussenpolitik auch Innenpolitik, sondern gerade umgekehrt: Dominiert die Innenpolitik die Aussenpolitik, wird letztere zur Mühsal und Peinlichkeit. Beispielhaft steht dafür etwa die kleinliche innerschweizerische Diskussion über die Spesenentschädigung für entsandte ausländische Arbeitnehmer zu einem Zeitpunkt, wo in Brüssel um Unterstützung für die Ukraine und damit um die Antwort auf die Schicksalsfrage nach der Zukunft der Demokratie in Europa gerungen wird.

Dem dabei aktiv als europäische Abrissbirne tätigen und dem russischen Autokraten und Kriegsherrn Wladimir Putin zudienenden ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban haben rechtskonservative Kreise, angeführt von Blochers SVP, kürzlich in Zürich zugejubelt. Ausgerechnet die zwei Vertreter dieser Partei im Bundesrat – Guy Parmelin und Albert Rösti – sind mit zentralen Dossiers in den bilateralen Verhandlungen Berns mit Brüssel betraut. Werden Sie über den Schatten ihrer Parteidoktrin, die grundsätzlich zu allem, was mit der EU zu tun hat, nein sagt, springen wollen, springen können?

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Auch die Hausaufgaben müssen gemacht werden von Martin Gollmer

Der Bundesrat hat den Entwurf des Verhandlungsmandats für ein neues bilaterales Vertragspaket mit der EU verabschiedet. Damit ist ein wichtiger Schritt zur Verbesserung des gestörten Verhältnisses zwischen der Schweiz und der EU getan. Gleichwohl dürften die kommenden Verhandlungen mit der EU-Kommission schwierig werden – vor allem aus schweizerisch-innenpolitischen Gründen.

Das Positive vorneweg: Die Schweiz will mit der EU über ein neues bilaterales Vertragspaket verhandeln. Das ist klar, nachdem der Bundesrat am Freitag, 15. Dezember, den Entwurf eines entsprechenden Verhandlungsmandats verabschiedet hat. Zweieinhalb Jahre nach dem Abbruch der Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen mit der EU und eineinhalb Jahr nach dem Beginn von Sondierungsgesprächen mit der EU über ein neues Vertragspaket ist das eine gute Nachricht. Endlich scheint es vorwärts zu gehen in den lange Zeit gestörten Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU.

Das Paket, das in der Öffentlichkeit den Namen «Bilaterale III» erhalten hat, umfasst unter anderem die Aktualisierung der fünf bestehenden Binnenmarktabkommen mit der EU zur Personenfreizügigkeit, zum Abbau technischer Handelshemmnisse, zum Land- und Luftverkehr sowie zur Landwirtschaft. Zudem sollen zwei neue Binnenmarktabkommen mit der EU abgeschlossen werden in den Bereichen Strom und Lebensmittelsicherheit. Auf den Gebieten Forschung, Bildung, und Gesundheit sieht das Paket schliesslich Kooperationsabkommen mit der EU vor. Der vom Bundesrat der EU vorgeschlagene Paketansatz der Bilateralen III ist breiter als es der Inhalt des gescheiterten Rahmenabkommens war. Damit soll in den Verhandlungen leichter ein Ausgleich der Interessen der beiden Seiten erreicht werden können.

In der Schweiz gibt es noch Widerstand

Trotzdem: Die Verhandlungen werden schwierig werden. Dies, obwohl man sich in den insgesamt elf Sondierungsgesprächen der Chefunterhändler der beiden Seiten sowie in 46 Gesprächen auf technischer Ebene in den trennenden Fragen näher gekommen ist und «Landezonen» für ungelöste Probleme definiert werden konnten. Die Gründe dafür liegen nicht zuletzt in der Schweiz. Innenpolitisch ist nämlich seit Beginn der Sondierungsgespräche mit der EU vor anderthalb Jahren noch nicht viel erreicht worden. Noch immer gibt es hierzulande erheblichen Widerstand gegen Teile der Festlegungen, die die Schweiz und die EU im Verlauf der bisherigen Gespräche gemacht haben. Teilweise dient der Widerstand gegen die Bilateralen III auch innenpolitischen Zielen, namentlich der Ausweitung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Gesamtarbeitsverträgen. Hier deshalb eine Übersicht der wichtigsten noch umstrittenen Punkte:

  • Dynamische Rechtsübernahme: Die Schweiz soll EU-Recht in den Binnenmarktabkommen fortan dynamisch übernehmen, d.h. fortlaufend und nicht nur periodisch. Die Schweiz könnte dabei weiterhin selbständig entscheiden, ob sie EU-Recht übernehmen will. Auch bliebe der Rechtsweg gegen in schweizerische Gesetze übergeführtes EU-Recht bis zu einem allfälligen Referendum offen. Verweigert die Schweiz aber die Übernahme von EU-Recht, müsste sie mit Ausgleichsmassnahmen der EU rechnen.
  • Streitbeilegung: Werden sich die Schweiz und die EU bei der Auslegung von EU-Recht in den Binnenmarktabkommen nicht einig, soll in letzter Instanz der Europäische Gerichtshof (EuGH), das oberste Gericht der EU, entscheiden. Dies aber erst, wenn zuvor eine Streitbeilegung in einem gemischten Ausschuss gescheitert ist und ein paritätisch besetztes Schiedsgericht den EuGH anruft.

Gegen diese beiden institutionellen Regelungen läuft vor allem die national-konservative Schweizerische Volkspartei (SVP) Sturm. Sie sieht die Souveränität der Schweiz bedroht und fürchtet, dass «fremde Richter» hierzulande Recht sprechen könnten. Der Milliardär Alfred Gantner, Gründer der Private-Equity-Firma Partners Group und Mitglied der EU-skeptischen Vereinigung «Kompass/Europa», erwägt diese institutionellen Regelungen mit einer Volksinitiative zu bekämpfen, wie er dem «SonntagsBlick» sagte.

  • Lohnschutz: Aus der EU entsandte Arbeitnehmer sollen in der Schweiz für gleiche Arbeit den gleichen Lohn erhalten wie hiesige Arbeitskräfte. Spesen müssten jedoch nur nach den Ansätzen des Heimatslandes und nicht nach den Gepflogenheiten des Gastlandes bezahlt werden. Damit würden dem Lohndumping Tür und Tor geöffnet, fürchten die schweizerischen Gewerkschaften und kämpfen deshalb gegen das Verhandlungspaket an. Immerhin lässt sich sagen, dass diese Spesenregelung gegen den Grundsatz gleicher Lohn für gleiche Arbeit verstösst und auch innerhalb der EU umstritten ist. Hier ist das letzte Wort noch kaum gesprochen. Verstösse gegen das Entsenderecht könnten von den schweizerischen Behörden mit Bussen geahndet werden. Um diese sicherzustellen, mussten ausländische Firmen, die Arbeitnehmer in die Schweiz entsenden, bisher generell eine Kaution hinterlegen. Neu sollen diese Kaution nur noch Firmen leisten müssen, die schon einmal straffällig geworden sind. Die Gewerkschaften sehen darin eine weitere Abschwächung des Lohnschutzes.
  • Landverkehr: Die Schweiz soll den internationalen Schienenpersonenverkehr öffnen. Das heisst, dass künftig auch ausländische Bahnunternehmen eigenständig Bahnverbindungen in die Schweiz anbieten können. Bisher konnten sie dies nur in Kooperation mit den SBB. Ausländische Bahnunternehmen müssten aber die hiesigen Lohn- und Arbeitsbedingungen einhalten. Auch müssten sie den Taktfahrplan und die Tarife in der Schweiz (bspw. Generalabonnement und Halbtax-Abonnement) berücksichtigen. Die Gewerkschaften fürchten trotzdem eine Schwächung des hiesigen Service Public im öffentlichen Verkehr.
  • Kohäsionszahlung: Die in den Sondierungsgesprächen besprochene Lösung sieht vor, dass ein rechtsverbindlicher Mechanismus für regelmässige Schweizer Beiträge zugunsten wirtschaftlich schwächerer EU-Mitgliedstaaten ausgehandelt werden soll. Die Ausgestaltung eines solchen Mechanismus wurde aber noch nicht definiert. Gleiches gilt für die Eckwerte des nächsten Schweizer Kohäsionsbeitrags, wie bspw. Dauer, Höhe, zu begünstigende Länder oder thematische Prioritäten. Wird die Rechnung für die Schweiz zu teuer, könnte in der Bevölkerung breiter Widerstand gegen das Verhandlungspaket entstehen.

Breite europapolitische Allianz vonnöten

In den anstehenden Verhandlungen auf die Bedenken der SVP Rücksicht zu nehmen, ist vergebene Mühe, auch wenn sie die mit Abstand wählerstärkste Partei in der Schweiz ist. Die SVP stemmt sich nämlich gegen jegliche Annäherung an die EU. Ob man den Gewerkschaften in den Verhandlungen entgegenkommen kann, ist fraglich, weil auch die EU ihre roten Linien hat. Vielleicht liessen sie sich mit einer Ausweitung der Gesamtarbeitsvertragspflicht in der Schweiz zum Einlenken bewegen. Aber dagegen wehrten sich bisher die Arbeitgeberverbände. Hier sind Bundesrat und Parlament gefordert.

Bleibt es beim Widerstand von SVP und Gewerkschaften, dürfte es schwierig werden das zukünftige Verhandlungsergebnis mit der EU durch eine allfällige Volksabstimmung zu bringen. Dies, obgleich sich in Umfragen stets über 60 Prozent für ein Abkommen und stabile Beziehungen mit der EU ausgesprochen haben und der taktische Widerstand der Gewerkschaften nicht überschätzt werden kann. Trotzdem bleibt es wichtig,  dass sich schon jetzt eine möglichst breite Koalition der europapolitischen Vernunft zugunsten der Bilateralen III bildet. Dieser sollten alle Mitte-Links-Parteien inklusive der gewerkschaftsnahen SP sowie die Wirtschaftsverbände angehören. Nur dann wird das vom Bundesrat aufgegleiste Verhandlungspaket mit der EU vor dem Volk eine Chance haben.

Zwiespältige Bilanz der Wahlen 2023 aus europapolitischer Sicht von Martin Gollmer

Die Zusammensetzung des neuen Bundesparlaments steht nach den zweiten Wahlgängen für den Ständerat fest. Europapolitisch interessant ist, dass die EU-freundlichen Kräfte im Ständerat gestärkt wurden, im Nationalrat dagegen geschwächt. Die Fortsetzung des bilateralen Wegs mit der EU dürfte damit nicht einfacher werden.

Die Beziehungen zur EU sind das wichtigste ungelöste aussenpolitische Problem der Schweiz. Dennoch war es im Vorfeld der Wahlen 2023 ins eidgenössische Parlament seltsam abwesend. Die Parteien vermieden das Sujet im Wahlkampf tunlichst. Die EU-feindliche SVP hatte mit dem Schreckgespenst einer unkontrollierte Migration und einer 10-Millionen-Schweiz ein zugkräftigeres Thema gefunden. Die anderen, tendenziell EU-freundlichen Parteien griffen die in der Bevölkerung kontrovers diskutierten Beziehungen zur EU aus Angst vor Wählerverlusten nicht auf. Sie wollten von der wählerstarken national-konservativen SVP nicht als Euroturbos gebrandmarkt werden können.

Nun sind die Wahlen vorbei und die Beziehungen zur EU kommen wieder aufs Tapet. Bereits hat der Bundesrat angekündigt, bis Ende Dezember ein Mandat für Verhandlungen mit der EU über ein weiteres Vertragspaket namens Bilaterale III zu verabschieden. Danach soll das Mandat im Januar den aussenpolitischen Kommissionen der eidgenössischen Räte, den Kantonen und den Sozialpartnern zur Vernehmlassung weitergeleitet werden. Das endgültige Mandat dürfte dann im Verlauf des Februars feststehen. In der Folge könnten im März die Verhandlungen mit der EU beginnen.

Spätestens mit der Vernehmlassung im Januar sind verbindliche europapolitische Stellungnahmen der Parteien gefragt. Dann wird sich zeigen, wie sich die neuen Kräfteverhältnisse in National- und Ständerat auf die vom Bundesrat angestrebte Fortsetzung des bilateralen Wegs mit der EU auswirken. Was ist dabei vom neuen Bundesparlament zu erwarten?

Ständerat: Keine Chance für die Isolationisten

Zunächst zum Ständerat. Dort gingen in der Deutschschweiz die zweiten Wahlgänge vom Sonntag, 19. November 2023, allesamt zugunsten von Kandidatinnen und Kandidaten aus, die für geregelte Beziehungen zur EU eintreten. Tiana Moser (GLP) gewann in Zürich, Franziska Roth (SP) in Solothurn, Simon Stocker (SP) in Schaffhausen und Marianne Binder (Mitte) im Aargau. Die SVP- und SVP-nahen Herausforderer, die für eine isolationistische Schweiz stehen, hatten keine Chance.

Damit sind in der kleinen Kammer die tendenziell EU-freundlichen Kräfte gestärkt worden. Zu diesen gehören die Vertreterinnen und Vertreter der Mitte (15 Sitze), der FDP (11), der SP (9), der Grünen (3) und der GLP (1). Diese verfügen damit über 39 von insgesamt 46 Sitzen im Ständerat – eigentlich eine solide Mehrheit. Allerdings gibt es in einigen dieser Parteien etliche Abweichler von der EU-freundlichen Linie – bei der SP etwa die Vertreter der Gewerkschaften. Auch reicht der Konsens in dieser Koalition nicht über die Fortsetzung des bilateralen Wegs mit der EU hinaus. Ein zweiter Anlauf zu einem EWR-Beitritt fände gegenwärtig nur wenige Anhänger. Und kaum jemand würde sich zum jetzigen Zeitpunkt für einen EU-Beitritt stark machen.

Das Lager der EU-feindlichen Kräfte ging dagegen geschwächt aus den Ständeratswahlen hervor. Die Vertreterinnen und Vertreter der SVP (6 Sitze) sowie des rechtspopulistischen Mouvement Citoyens Genevois (MCG; 1) können deshalb zumindest eine Fortsetzung des bilateralen Wegs mit der EU nicht verhindern. Dies auch dann nicht, wenn sich zu ihnen noch Abweichler aus den tendenziell EU-freundlichen Parteien gesellen.

Nationalrat: EU-Mehrheit könnte schnell kippen

Die Ergebnisse zumindest der zweiten Wahlgänge für den Ständerat korrigieren zum Teil den Rechtsrutsch, der sich im Nationalrat einstellte. Dort gewann die SVP 9 Sitze und kommt nun auf insgesamt 62 Mandate. Rechnet man noch die Vertreterinnen und Vertreter der EDU (2), des MCG (2) und der Lega (1) dazu, die sich der SVP-Fraktion anschliessen wollen, sind es sogar 67 Sitze. Das ist damit die mit Abstand grösste Gruppe im 200-köpfigen Nationalrat. Die SVP wehrt sich traditionell gegen jeglichen Ausbau der Beziehungen der Schweiz zur EU. Doch trotz ihrer Stärke kann sie auch in der grossen Kammer die Fortsetzung des bilateralen Wegs allein nicht blockieren.

Findet die SVP aber Partner im Nationalrat oder ausserhalb, könnte die Mehrheit zugunsten der EU schnell einmal kippen. Im Vordergrund steht dabei vor allem die Asylpolitik – ein Dossier, das aufgrund der Dublin- und Schengen-Assoziierungsabkommen mit der EU ebenfalls europapolitischen Charakter hat. In diesem Bereich tritt aufgrund der verstärkten illegalen Migration nicht nur die SVP, sondern etwa auch die FDP (28 Mandate, -1) für Verschärfungen ein. Zusammen kommen die rechtsbürgerlichen Parteien auf 95 Sitze im Nationalrat. Zur Mehrheit fehlen damit noch 6 Stimmen. Und die lassen sich angesichts der Brisanz des Asyl- und Migrationsthemas etwa in der politischen Mitte leicht finden.

Einen starken Partner hat die SVP mit den Gewerkschaften auch in der Ablehnung der Personenfreizügigkeit mit der EU gefunden. Diese wehren sich vehement gegen eine Abschwächung des Lohnschutzes für Schweizer Arbeitnehmer. Zusammen könnten die beiden in einer Volksabstimmung die Fortsetzung des bilateralen Wegs torpedieren.

Die SVP macht auch Opposition gegen ein Stromabkommen mit der EU, das gemäss Bundesrat Teil der Bilateralen III sein soll. Mit einem solchen Abkommen würde sich die Schweiz weiter mit der EU verzahnen, das gefährde die Souveränität des Landes. Die Stromversorgung der Schweiz soll im Land selbst sichergestellt werden, fordert die Partei. Einer der beiden Männer der SVP im Bundesrat, Energieminister Albert Rösti, sagte in einem Zeitungsinterview, er sei für ein Stromabkommen, aber nicht um jeden Preis. Einer der Preise, den die EU in diesem Bereich fordert, ist die Liberalisierung des Strommarktes in der Schweiz. Das ist in der Bevölkerung nicht populär. Bereits haben die Gewerkschaften Widerstand gegen eine solche Liberalisierung angemeldet – selbst wenn es der Schweiz in  den Verhandlungen mit der EU gelingen sollte, eine nur teilweise Öffnung des Strommarktes durchzusetzen. Da Marktliberalisierungen von linken Parteien kritisch gesehen werden, könnten sich auch diese dem Widerstand der Gewerkschaften und der SVP anschliessen.

Für die EU-freundlichen Kräfte verliefen die Nationalratswahlen enttäuschend. Die GLP, die als einzige Partei vorbehaltlos für das gescheiterte institutionelle Rahmenabkommen mit der EU eingetreten war, verlor mit 6 Sitze und kommt jetzt noch auf 10 Mandate in der grossen Kammer. Die Grünen, die zusammen mit der Operation Libero eine Europa-Initiative lancieren wollen, büssten 5 Sitze ein und haben neu nur noch 23 Vertreterinnen und Vertreter im Nationalrat. Einen Mandatsverlust gab es auch für die EVP (-1 auf 2 Sitze). Verbessern konnten sich dagegen – allerdings nur leicht – die SP (+2 auf 41 Sitze) und die Mitte (+1 auf 29 Sitze).

Europa hat die Wahlen in der Schweiz verloren – oder doch nicht ganz? Von Thomas Cottier

Die EU-feindliche SVP legt im Nationalrat deutlich Sitze zu, die EU-freundliche GLP büsst mehrere Mandate ein. Das zeigt: Europa hat die Wahlen 2023 ins eidgenössische Parlament verloren. Umso wichtiger ist deshalb jetzt, dass alle politischen Kräfte diesseits der SVP eine Allianz der europäischen Vernunft schliessen.

Die Bemühungen um ein geregeltes Verhältnis zur Europäischen Union (EU) gehören klar zu den Verlierern der National- und Ständeratswahlen vom 22. Oktober 2023. Die Schweizerische Volkspartei (SVP/UDC), die weitere Integrationsschritte kategorisch ablehnt, hat ihren Wähleranteil im Nationalrat auf 27.9 Prozent erhöht und ist fortan mit 61 Sitzen im Nationalrat vertreten; die Ergebnisse im Ständerat sind noch offen. Die Partei konnte sich auf Kosten nicht stimmberechtigter Personen mit dem Thema und dem Feindbild Migration durchsetzen. Sie sieht sich in ihrer EU-feindlichen Haltung und ihrer Betonung nationaler Souveränität bestätigt. Die Grünliberale Partei (GLP/VLS), die sich als einzige für den Rahmenvertrag mit der EU eingesetzt hat, fällt auf 7.6 Prozent Prozent zurück und verliert 6 von 16 Sitzen im Nationalrat. Die Grünen (les Vert-e-s), die sich für eine starke Klimapolitik einsetzen, büssen 8.4 Prozent Wähleranteil ein und kommen noch auf 9.8 Prozent im Nationalrat. Sie fallen von 28 auf 23 Sitze zurück.

Alle Parteien, auch der Freisinn (FDP/PLR) mit 14.3 Prozent und 28 Sitzen, die Sozialdemokraten (SP/PS) mit 18.3 Prozent und 41 Sitzen sowie die Mitte (le Centre) neu mit 14.1 Prozent und 29 Sitzen im Nationalrat, haben das Thema Europa und die Beziehungen zur EU im Wahlkampf tunlichst vermieden. Die Frage ist müssig, ob das den Ausgang angesichts dringenderer Probleme namentlich bei der GLP und den Grünen verändert hätte. Interessanter ist die Frage, wie sich die verdrängten europapolitischen Herausforderungen in der kommenden Legislatur auswirken werden.

Es braucht internationale Zusammenarbeit

Die SVP wird vorerst selbstbewusst auf eine restriktivere Einwanderungspolitik drängen. Sie wird erneut die Umsetzung der 2014 knapp gewonnenen Masseneinwanderungsinitiative und damit von Artikel 121a der Bundesverfassung zur Arbeitsmigration einfordern. Sie wird Kontrollen an der Grenze und abschreckende Massnahmen gegen asylsuchende Wirtschaftsflüchtlinge verlangen. Im Einklang mit ihrer nationalkonservativen Ausrichtung und Ideologie wird sie autonome Massnahmen der Schweiz vorschlagen. Sie wird dabei bald feststellen müssen, dass all die Fragen der Migration nicht im Alleingang gelöst werden können. Dieser führt in die Sackgasse.

Die Abschiebung und Rückweisung von Flüchtenden in die Nachbarstaaten wird zu harschen Reaktionen und Vergeltungsmassnahmen führen, zumal Rückführungsverträge schwierig umzusetzen sind. Es bedarf der Solidarität und geregelter Verfahren mit der EU, es sei denn die SVP schlage die Errichtung von Internierungslagern vor. Weltweit wird die Klimamigration zunehmen und auch an den Schweizer Grenzen nicht haltmachen. Lösungen können auch hier nur mit der EU und in internationaler Zusammenarbeit gefunden werden.

Die Kündigung der Freizügigkeit und Einführung eines Punktesystems sowie von Kontingenten wird den Bedarf an Fachkräften nur mit grossen bürokratischem Aufwand seitens der Unternehmen sicherstellen können. Und gut qualifizierte Kräfte wollen ihre Familie mitnehmen, so dass das Ziel einer effektiven Beschränkung gegenüber dem heute in Europa freien Markt in der Praxis angesichts hier rückläufiger Geburtenraten kaum erreicht werden kann. Die ablehnende Haltung gegenüber ausserfamiliärer Kinderbetreuung wird das Problem des Fachkräftemangels weiter verschärfen. Die Erosion der bilateralen Verträge setzt die Industrie zusätzlich unter Druck, und mit dem einstweiligen Ausschluss der Schweiz aus der Forschungszusammenarbeit mit der EU verliert unser Land ihre besten Nachwuchskräfte in der Wissenschaft.

Autarkie ist keine tragfähige Lösung

Das gleiche gilt für die Sicherheitspolitik. Die nationale Sicherheit kann nicht im Alleingang mit der Aufrüstung der Schweizer Armee erzielt werden. Es genügt nicht, allein an der Grenze zu stehen und auf die nationale Souveränität und integrale Neutralität zu pochen. Die Rüstung kann autonom nicht finanziert werden und ist auf zuverlässige Kooperation mit den EU- und den Nato-Staaten angewiesen. Die heutigen Bedrohungen verlangen eine enge internationale Zusammenarbeit.

Das gleiche gilt für die Versorgung. Die Versorgung mit Energie kann nicht im Alleingang bewältigt werden, es sei denn die Wähler nehmen massiv höhere Kosten für notabene vermehrt fossil produzierten Strom in Kauf. Das Stromabkommen bleibt unabhängig der Wählergunst notwendig. Kommt es nicht, werden dies die Leute mit dem Portemonnaie, allenfalls auch mit Blackouts bezahlen. Sicherheit ist anders. Eine abgeschottete Landwirtschaft ist ebenfalls mit hohen Kosten verbunden und vermag im Fall eines klimabedingten Ernteausfalles das Land nicht annährend zu versorgen. Autarkie ist auch hier keine tragfähige Antwort.

SVP wird Verantwortung übernehmen müssen

Die SVP wird in all diesen Fragen Verantwortung übernehmen müssen. Sie wird ihre Wahlversprechen nur umsetzen können, wenn sie der Zusammenarbeit mit der EU zustimmt – in Fragen der Migration, der Klimapolitik und der Sicherheitspolitik, hier auch mit der Nato. Sie wird ihre Vorstellungen der nationalen Souveränität und Neutralität überdenken müssen. All die aufgestauten und verdrängten Probleme werden sich sonst weiter verschärfen. Bleiben sie ungelöst, hinterlassen sie enttäuschte und frustrierte WechselwählerInnen. Die heute verdrängte Europafrage wird dann unter Druck mit Bestimmtheit die Wahlen 2027 dominieren. Es liegt daher im Interesse gerade der SVP, tragfähige Lösungen schon vorher einzufahren. Auch die nächsten Wahlen werden über das Portemonnaie entschieden.

Aufgabe und Chance all der anderen Parteien mit ihrer grossen Mehrheit ist es, den Druck der verdrängten Probleme zu nutzen und nun eine Allianz der europäischen Vernunft zu schliessen. Sie gewinnen alle, wenn sie sich zusammenraufen und am gleichen Strick ziehen. Die Europafrage ist in dieser Legislatur Schlüssel nicht nur für die Erreichung der Klimaziele, sondern auch für die sozialen Anliegen der SP und der Grünen. Die Lebensmittelkosten, die Gesundheitskosten lassen sich ohne Abkommen mit der EU und mehr Wettbewerb nicht senken. Die FDP und GLP können hier ihren Beitrag leisten zur Stärkung des Schweizer Standortes. Die Gewerkschaften müssen einsehen, dass die nur Dank der SVP mögliche sture Haltung zum Lohnschutz zu viel Kollateralschaden verursacht. Sie trägt zur Erosion des Werkplatzes Schweiz bei und gefährdet zahlreiche Stellen im Land. Sie verspielt Chancen zu Gunsten einer prosperierenden Wirtschaft, die in innovativen Branchen neue Jobs schafft. Und der Mitte kommt das Vorrecht zu, in der nächsten Legislatur als Zünglein an der Waage zu entscheiden und sich für die oder eine andere Lösung einzusetzen. Alle aber müssen aus sachlichen Gründen in die richtige Richtung nach Europa gehen. Polen hat es uns mit seinen Wahlen vom 15. Oktober 2023 vorgemacht.