Ein europäischer Schweizer und ein schweizerischer Europäer

Zum Tod von alt Botschafter Benedikt von Tscharner

von Thomas Cottier

Die schweizerische Aussenwirtschaftspolitik der Nachkriegszeit weist drei wesentliche Wegmarken auf. Benedikt von Tscharner hat sie alle stark mitgeprägt. Er war als junger Mitarbeiter der Handelsabteilung an der Kennedy-Runde des Gatt beteiligt. Sie brachte 1966 die definitive Hinwendung der Schweiz zum multilateralen System. Als Leiter des Integrationsbüros unterstützte er Paul Jolles und koordinierte die Verhandlungen zum Freihandelsabkommen mit der EWG von 1972. Dieses Abkommen bildet noch heute, wenn auch in die Jahre gekommen, die Grundlage der bilateralen Beziehungen.

Während der EWR-Verhandlungen vertrat er die Schweiz in Brüssel als Botschafter und Leiter der Mission. Die Ergebnisse dieser Verhandlungen haben das schweizerische Recht trotz und gerade wegen der Ablehnung des Vertrags nachhaltig verändert. Er überbrachte 1992 der Kommission das Beitrittsgesuch des Bundesrates, das als Wegmarke und Fanal das populistische Zeitalter und den Aufstieg der antieuropäischen nationalkonservativen Kräfte einläutete. Sie brachte die Bescheidung auf den bilateralen Weg, der sich seither durch wirtschaftliche Integration und institutionelle Abstinenz auszeichnet.

Brückenbauer zwischen Landesteilen

Von Tscharners Präsenz und Mitwirkung bei all diesen Wegmarken ist kein Zufall. Seine Vorgesetzten erkannten rasch die mit Bescheidenheit, Zuverlässigkeit und Verhandlungsgeschick gepaarte analytische Begabung des in Basel zum Doktor der Jurisprudenz ausgebildeten Diplomaten. Von Tscharner verstand es, in grösseren Zusammenhängen zu denken und fliessend von einer Sprache in die andere zu wechseln. 1937 in Lützelflüh im Pfarrhaus aufgewachsen, ging er in Burgdorf ins Gymnasium, war aber ebenso vertraut mit der Romandie und der französischen Sprache, die ihn ein Leben lang begleiteten und prägten. In Genf wurden sie ihm und seiner Familie zur Heimat. Von Tscharner war auf seinem Parkett ein Brückenbauer zwischen den Landesteilen, der Röstigraben war ihm völlig fremd.

Seine Fähigkeiten und Interessen führten ihn in weitere Dossiers. So war er als Delegierter des Bundesrates für Handelsverträge unter anderem für Energiefragen zuständig. Im Aussendepartement engagierte er sich für die Rotkreuzkonventionen und später, als Botschafter der Schweiz bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), für Fragen der Sicherheit und Stabilität im Europa nach dem Mauerfall. Schliesslich war er als Botschafter der Schweiz in Frankreich tätig.

Für eine Schweiz, die sich einbringt

Europa war zeitlebens von Tscharners zentrales Thema. Mit ihm begann er seine Laufbahn als Generalsekretär der Europa-Union der Schweiz. Und mit ihm beendete er sie als erster Präsident der Vereinigung «La Suisse en Europe», die er im Vorfeld der Masseneinwanderungsinitiative mitbegründet und in ihren ersten Jahren wesentlich beeinflusst hat. Europa motivierte ihn auch für die publizistische Tätigkeit; er war fasziniert von der Ausstrahlung grosser Schweizer Persönlichkeiten im Ausland, die er in seinen Werken und im Wirken als Präsident der Stiftung für die Geschichte der Auslandschweizer in verschiedenen Bänden würdigte.

Seine Erfahrungen als junger Diplomat in London und Brüssel haben von Tscharner geprägt. Er war in seinem Habitus ein europäischer Schweizer und ein schweizerischer Europäer von ganzem Herzen. Er wünschte sich eine Schweiz, die sich aktiv einbringt, ihre Werte, ihre Vielsprachigkeit, ihren Föderalismus, und nicht länger als Zaungast zuschaut. Eine Schweiz, die mit der EU zumindest in geregelten und stabilen Verhältnissen lebt zum Wohle aller, die hier und dort auf stabile Arbeitsplätze angewiesen sind. Er kämpfte gegen Fremdenfeindlichkeit und gegen ein Verständnis der Schweiz als Insel der Glückseligen.

In alter Berner Tradition trat er für gute Beziehungen zu Frankreich ein, wofür er zum Offizier der Ehrenlegion ernannt wurde. Von Tscharner begleitete den Bilateralismus als die Politik des hier und jetzt Möglichen, ohne den Blick in die Zukunft zu verlieren. Er war gewiss, dass die Schweiz ihren Platz in Europa einmal finden wird. Aber es war ihm nicht vergönnt, diesen Moment noch zu erleben. Nach einer langen und stoisch ertragenen Krankheit verstarb er am 12. November im Schosse seiner geliebten Familie in Genf. Wie alle Grossen ist er in aller Stille von uns gegangen. Sein Denken, sein Vorbild leben weiter. Seine Gewissheit gibt uns Mut und Zuversicht.

Der Nachruf erscheint am 19. November 2019 auf NZZonline, sowie am 20. November 2019 in der Printausgabe.