Neutralität als helvetische Überheblichkeit von Daniel Woker

Neben den Autoren, die aus der rechten Ecke über die Neutralitätsinitiative von Christoph Blocher schreiben, gibt es auch eine NATO-feindliche, pazifistische Bewegung, die die schweizerische Neutralität als helvetische Mission für Weltfrieden sieht. Sie unterstützt die Initiative von der linken Seite her. Was taugen deren Argumente?

 

Unter der geistigen und finanziellen Führung des SVP-Doyens und -Vordenkers Christoph Blocher will die Vereinigung Pro Schweiz mit der Neutralitätsinitiative eine enge, rigide Form der schweizerischen Neutralität in der Bundesverfassung verankern. Damit soll zweierlei erreicht werden. Erstens soll durch die Festschreibung eines Sanktionsverbots in der Verfassung die schweizerische Aussenpolitik entmündigt und insbesondere das Verhältnis der Schweiz zur EU irreparabel beschädigt werden. Zweitens sollen unter dem Mantel von «Neutralität» im Konfliktfall Geschäfte in alle Himmelsrichtungen erlaubt bleiben, auch mit Aggressoren wie aktuell Russland. Die Neutralitätsinitiative hat deshalb von Gegnern den Namen «Pro-Putin-Initiative» (PPI) verpasst erhalten.

 

Die Argumente für die PPI von linker Seite sind diffuser. Gemäss einem kürzlichen Beitrag des emeritierten Politikprofessors Wolf Linder in der NZZ seien es insbesondere die Glaubwürdigkeit der Schweiz als internationaler Friedensstifter und der völlige Verzicht auf Sanktionen, welche für die Neutralitätsinitiative sprechen würden. Völlig ausgeklammert wird in dieser Argumentation die durch den von Russlands Präsident Wladimir Putin lancierten Angriffskrieg gegen die Ukraine veränderte sicherheitspolitische Lage in Europa. Davon ist auch die Schweiz direkt betroffen. Diese drei Punkte werden im Folgenden einer näheren Betrachtung unterzogen.

 

Glaubwürdigkeit?

 

Die Glaubwürdigkeit der Schweiz weltweit, abgesehen von Tourismus-Clichés, ist eine Funktion unserer Aussen- und Aussenwirtschaftspolitik. Aussenpolitisch zählt, dass die Schweiz in der Rangliste der Unterstützer der Ukraine ganz am Schluss westlicher Länder liegt. Dass die Schweiz wegen ihrer Neutralität angeblich kein Kriegsmaterial – auch nicht indirekt – liefern könne, interessiert niemanden im Ausland. Insbesondere nicht unsere westlichen Partner, die bilateral und im Rahmen der NATO und der EU – bei beiden steht die Schweiz bekanntlich vornehm abseits – grosse Anstrengungen unternehmen, der Ukraine gegen die brutale russische Aggression zu helfen. Freiwillige Beiträge der Schweiz wären hier ebenso möglich wie gewünscht. Das wäre ungleich substanzieller als Gastgeberdienste wie jene für eine sogenannte Friedenskonferenz auf dem Bürgenstock.

 

In der Aussenwirtschaftspolitik will die Schweiz eine Erweiterung des bilateralen Freihandelsabkommens mit China. Dies zu einem Zeitpunkt, wo sich angesichts der aggressiven Politik von Xi Jinping im Innern – Neokolonialismus in Tibet, Xijiang (Uiguren) und der Inneren Mongolei – und gegen aussen alle anderen westlichen Länder von China abwenden. Dies ebenso wie bedeutende Wirtschaftsakteure, darunter auch grosse Finanzinstitutionen. In Afrika erscheint die Schweiz als Sitz von Firmenimperien der Nahrungsmittelindustrie und von Rohstoffhändlern, die sich mehr, erstere, oder weniger, Glencore und andere, um gerechtes, nachhaltiges Wachstum im Herkunftsland ihrer Produkte kümmern.

 

Die Vorstellung, dass im Globalen Süden Konflikte warten würden, um durch schweizerische Neutralität gelöst zu werden, ist anmassend und unrealistisch. Die dreiste Einmischung des ruandischen Präsidenten Paul Kagame im Nachbarland Volksrepublik Kongo figuriert, soweit bekannt, nicht unter helvetischen Friedensmissionen. Schweizerische Politik in Ruanda war bekanntlich in der Vergangenheit alles andere als «neutral». Ebenso wenig kann die Schweiz im aktuellen Ölkonflikt zwischen Guyana und Venezuela vermitteln, bei dem sich der grosse Nachbar Brasilien um eine Beruhigung bemüht.

 

Sanktionsverzicht?

 

Sanktionen stellen einen hohen Grad der Verurteilung eines Aggressors dar, in moralischer, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht. Mögliche zukünftige Beispiele sind ein weiteres Ausgreifen des putinistischen Russlands in Osteuropa. Ebenfalls absehbar sind chinesische Aggressionen, etwa gegen Taiwan oder im Südchinesischen Meer. In solchen Fällen keine Sanktionen anwenden zu können, würde für die Schweiz moralischer Boykott bedeuten sowie politische Isolation und wirtschaftliche Konsequenzen nach sich ziehen. Sich nicht an westlichen Sanktionen zu beteiligen, bedeutet de facto die Unterstützung des Aggressors und wäre alles andere als «neutral».

 

Neutralität und Sicherheit

 

Das Manifest Neutralität 21 (der Schreibende ist einer der sieben Autoren) will den Bundesrat ermutigen, die Neutralität vorrangig als Instrument der Sicherheitspolitik zu handhaben. Heute ist leider unbestritten, dass die schweizerische Armee auf Jahrzehnte hinaus nicht autonom verteidigungsfähig ist. Damit besteht eine Pflicht des Bundesrats, zur Behebung dieses schwerwiegenden Mangels auch eine operative sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit Nachbarländern zu prüfen. Ausser Österreich sind dies alles Mitgliedstaaten des transatlantischen Verteidigungsbündnisses NATO. So wie Schweden, wo seit Jahren die schweizerische Luftwaffe realistische Übungsbedingungen vorfindet. Das Manifest Neutralität 21 will keinen Beitritt zur NATO, aber eine auf Gegenseitigkeit beruhende operative Kooperation.

Das momentan im Kriegsmaterialgesetz festgeschriebene (Wieder-)Ausfuhrverbot an ein in einen bewaffneten Konflikt involviertes Land beruht auf dem auch von Linder in der NZZ propagierten überholten Neutralitätsbegriff der Haager Abkommen von 1907. Dort wird zwischen Aggressor und Opfer kein Unterschied gemacht, was durch das Aggressionsverbot in der UNO-Charta und die dort festgehaltene Pflicht, dem Aggressionsopfer zu helfen und den Aggressor zu isolieren, aufgehoben worden ist.

Ungeachtet davon machen im UNO-Mitgliedsland Schweiz auch der Bundesrat, die konservativen Ecke im Parlament und die pazifistische Linke fälschlicherweise immer wieder die Haager Abkommen geltend. Das darauf basierende Ausfuhrverbot für Kriegsmaterial hat ausser für das Aggressionsopfer – so momentan die Ukraine, zukünftig ein Land in Osteuropa oder in Asien – auch für die Schweiz gravierende sicherheitspolitische Konsequenzen. Westliche Länder sehen davon ab, der Schweiz noch Kriegsmaterial zu verkaufen oder es von uns zu beziehen, da sie befürchten, im Falle einer Aggression verweigere die Schweiz Ausfuhr und Wiederausfuhr. Ohne substanziellen Ex-und Import von Kriegsmaterial kann es keine schweizerische Armee geben.

 

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Die Neutralitäts- oder Pro-Putin-Initiative, vom Bundesrat und dem Parlament dem Stimmvolk bereits zur Ablehnung empfohlen, ist der wohl letzte Versuch von Blocher, mit fast unbegrenzten Finanzmitteln die Schweiz zur isolierten Insel von moralisch gleichgültigen Sonderlingen zu machen. Dass die Initiative auch von linker Seite unterstützt wird, ist bedauerlich.

Das Ständemehr der Bundesverfassung aus individualrechtlicher Sicht von Thomas Cottier

In seinem neuen Artikel hinterfragt Prof. Thomas Cottier die Notwendigkeit eines Ständemehrs für die anstehenden Verträge mit der Europäischen Union (Bilaterale III). Er stützt sich dabei unter anderem auf ein Gutachten des Bundesamts für Justiz und beleuchtet die weitreichenden rechtlichen und politischen Implikationen. Cottier warnt vor einer Ungleichbehandlung der Stimmkraft der Bürgerinnen und Bürger und kritisiert die unklare Haltung des Bundesrats.

Den ganzen Artikel lesen Sie hier.

Schweizer Verteidigungspolitik: Mut zur Kooperation von Leo Hurni

Joachim Adler, Chef Verteidigungspolitik und nationale Koordination im Staatssekretariat für Sicherheitspolitik (SEPOS) des Verteidigungsdepartements (VBS), spricht an der Generalversammlung 2024 der Association La Suisse en Europe (ASE) über die sicherheitspolitische Zusammenarbeit der Schweiz mit der Nato und der EU und überzeugt dabei ein durchaus kritisches Publikum.

 

Die Einstimmung vermittelt Adler mit dem Bild einer Lenkwaffe, die in einem zivilen Gebäude in Mariupol, Ukraine explodiert. «Was Europa bedroht, bedroht die Schweiz in gleichem Masse», sagt Adler dazu. Das sicherheitspolitische Umfeld sei so angespannt wie seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr. Man müsse mit einer Vielzahl verschiedener Akteure umgehen (und nicht wie im Kalten Krieg nur mit zwei), deren Agenda sich nicht einfach einordnen lasse. Auch Russland gehöre da dazu. Putin sei aber nicht per se ein irrationaler Akteur, dafür aber schwer lesbar. Sinnbildlich für die verschlechterte und deutlich komplexere Sicherheitslage stehen für Adler die Konflikte in der Ukraine und im Nahen Osten.

 

Adler scheut sich nicht, schwierige Themen direkt anzusprechen. Was, wenn Russland den Krieg gegen die Ukraine gewinnt? Das ehemalige Zarenreich habe immer wieder gesagt, es wolle seine alte Grösse wiederherstellen. Können wir also so naiv sein und glauben, nach Kiew sei Schluss? Rhetorische Fragen können manchmal Antwort genug sein. Dennoch lässt der Chef Verteidigungspolitik im SEPOS einen gewissen Optimismus durchschimmern. Es sei richtig, dass die Armee nicht erst seit dem Krieg gegen die Ukraine begonnen hat, ihre Verteidigungsfähigkeit zu stärken. Zumindest finanziell soll es der Armee bald besser gehen. Dies zeigten zumindest die Diskussionen im Parlament in den vergangenen Monaten. Der Bundesrat hatte eine Obergrenze für Militärausgaben von 25,8 Milliarden Franken für den Zeitraum 2025 bis 2028 vorgeschlagen. Der Ständerat beschloss daraufhin, diese auf 29,8 Milliarden Franken zu erhöhen.

 

«Rosinenpicken ist möglich»

 

Kooperationen mit anderen Ländern und Bündnissen seien wichtig, doch mit leeren Händen könne man nicht kooperieren, erklärt Adler. Dass die eigene Verteidigungsfähigkeit und die internationale Kooperation sich gegenseitig bedingen und verstärken, ist eine seiner Kernbotschaften. Dementsprechend sei die internationale Kooperation Voraussetzung für sicherheitspolitische Handlungsfreiheit, lautet seine zweite Kernbotschaft.  Doch um kooperieren zu können, müsse sich die Schweiz überlegen, was sie ihren Partnern bieten könne. «Rosinenpicken ist möglich, aber nicht ohne auch eine Gegenleistung zu erbringen» sagt Adler. Die militärische Friedensförderung sei etwa ein Bereich, in dem die Schweiz einen Beitrag leisten könne.

Wichtigster sicherheitspolitischer Kooperationspartner für die Schweiz sei nach wie vor die NATO. Eine Intensivierung der Zusammenarbeit sei durchaus eine Möglichkeit. Dabei sei jedoch eine Teilnahme an Übungen zu Artikel 5 des Nordatlantikvertrags erforderlich, denn praktisch alle Übungen der NATO würden sich damit befassen. Nur in Kenntnis der Planung und Koordination seitens der NATO könne sich die Schweizer Armee ihre eigenen Verteidigungsanstrengungen für den Kriegsfall sachgerecht und wirksam vorbereiten und einüben.

Anders sieht das hingegen die Mehrheit des Nationalrates. Während der Sommersession hat er einer Motion der Sicherheitspolitischen Kommission zugestimmt, die es der Schweiz verbieten will, an NATO-Übungen gemäss Artikel 5 teilzunehmen. Gemäss Adler wird  Artikel 5 des Nordatlantikvertrags immer noch binär ausgelegt. Als Mitglied der NATO helfe man im Kriegsfall den anderen Mitglieder, aber nicht einem nicht-Mitglied. Das sei schlussendlich auch in der Ukraine der Fall, der man nur indirekt beistehe. Die Schweiz würde sich als Partner und nicht als Mitglied bei solchen Übungen beteiligen. Damit räumt er Kritik der Gegnerinnen und Gegner aus dem Weg, die Schweiz sei mit der Teilnahme an solchen Übungen bereits mit halbem Fusse einer Verteidigung der NATO-Partnerländer verpflichtet.

Schwieriger scheint es in der Kooperation mit der EU. Hier sei die Zusammenarbeit mit Drittstaaten noch nicht gleich institutionalisiert, so Adler. Zusammenarbeit sei vor allem in den Projekten der «Permanent Structured Cooperation» (PESCO) möglich, einem Programm der  europäischen gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP). Für eine Kooperation in den Projekten von PESCO müsse die Schweiz zuerst jedes einzelne Projekt evaluieren und sich anschliessend für eine Teilnahme bewerben. Viele der Projekte liessen Drittstaaten nicht zu. Anschliessend gehe die Bewerbung vor den Rat der Europäischen Union, so Adler. Die Verhandlungen mit der EU könnten durchaus einen Einfluss auf die Aufnahme in diesen Projekten haben, vermutet er.

 

Schweiz sitzt zwischen den Stühlen

 

Von aussen gesehen scheinen gemäss Adler die Erwartungen an die Schweiz klar zu sein. Die Ermöglichung der Wiederausfuhr von Schweizer Rüstungsgüter, die Nichtunterzeichnung des Kernwaffenverbotsvertrag (TPNW), Beiträge zur militärischen Friedensförderung und genügend Eigenschutz werden  von den NATO-Mitgliedsstaaten gegenüber der Schweiz erwartet.  Die Grundfrage, wie viel militärische Kooperation für die Schweiz möglich sei, und wie das die Neutralität beeinflusst, bleibe, zumindest innenpolitisch, bestehen. Auf die Frage, wie die von der SVP lancierte Neutralitäts-Initiative die militärische Kooperation der Schweiz mit Partnerstaaten beeinflussen würde, gibt es derzeit seitens des Bundes noch keine klaren Antworten.

Adler macht klar, dass die Schweiz von mehr militärischer Kooperation profitieren würde, diese aber auch nicht gratis bekomme. Damit reiht sich Adlers Vortrag in die Debatten und Themen ein, die auch schon zuvor an der Generalversammlung der ASE diskutiert wurden. Personenfreizügigkeit, Bilaterale, Souveränität, Neutralität. Die Parallelen zwischen den Verhandlungen mit Brüssel und den Verhandlungen mit unseren militärischen Kooperationspartnern sind unverkennbar. So sehr die Schweiz an ihren traditionellen Werten festhält, scheint sie oft zögerlich und unschlüssig, wenn es darum geht, diese Werte den Anforderungen einer modernen Welt anzupassen. In ihrem Bestreben, sich weder zu stark zu binden noch völlig isoliert zu sein, läuft sie Gefahr, zwischen den Stühlen zu sitzen und sich damit selbst ins Abseits zu bewegen.