Zur Rolle des Schiedsgerichts bei den Bilateralen von Ulrich E. Gut

Die Gegnerschaft einer neuen Vertragsgrundlage für die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) erweckt den Eindruck, die vorgesehene Streitschlichtung laufe faktisch auf eine umfassende Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg hinaus. Das vorgesehene Schiedsgericht sei ein Feigenblatt zur Verharmlosung des Souveränitätsverlusts, der der Schweiz drohe. Was ist davon zu halten?

Aktuelle Diskussionsgrundlage ist Kapitel 10, «Dispute Settlement», des «Common Understanding», das die beiden Verhandlungsparteien Schweiz und EU als Ausgangsbasis der laufenden Verhandlungen über das Vertragspaket «Bilaterale III» veröffentlichten:

«The European Commission and Switzerland share the view that, in the event of difficulty of interpretation or application of the bilateral agreements in the fields related to the internal market in which Switzerland participates, the parties should consult each other in the respective sectoral committees to find a mutually acceptable solution. If a sectoral committee does not manage to find a solution to the abovementioned difficulty, the parties should have the possibility to ask an arbitral tribunal, where both parties are represented, to settle the dispute. Where the dispute raises a question concerning the interpretation or application of a provision referred to in paragraph 8 second sentence, and if the interpretation of that provision is relevant to the settlement of the dispute and necessary to enable the arbitral tribunal to decide on the matter, the arbitral tribunal should refer that question to the Court of Justice of the EU for a ruling that would be binding on the arbitral tribunal. Where the dispute raises a question concerning the interpretation or application of a provision that falls within the scope of an exception from the dynamic alignment obligation set out in paragraph 9 and where such dispute does not involve the interpretation or application of concepts of Union law, the arbitral tribunal should decide the dispute without referring to the Court of Justice of the EU. »

Vorweg ist zu fragen, was im Streitfall geschähe, wenn kein rechtliches Streitschlichtungsverfahren vereinbart und kein Schiedsgericht vorgesehen wäre. Die Auseinandersetzungen würden zwischen politischen Behörden ausgetragen. Käme es zu keiner Einigung und würde eine Streitpartei deshalb Gegenmassnahmen treffen wollen, würde sie diese nach ihrem Gutdünken bestimmen. Wenn die andere Partei diese Gegenmassnahmen als unverhältnismässig betrachten würde, könnte sie vielleicht in bestimmten Fällen bei der Welthandelsorganisation WTO klagen, hätte aber oft kein Gegenmittel, ausser die Auseinandersetzung durch eigene Gegen-Gegenmassnahmen eskalieren zu lassen.
Die Schaffung eines Verfahrens zur rechtlichen Regelung von Streitigkeiten und eines Schiedsgerichts ist deshalb im Interesse beider Parteien, wenn sie dadurch vor unverhältnismässigen Gegenmassnahmen geschützt werden und eine für die bilateralen Beziehungen gefährliche Eskalation verhindert wird.

Unparteiische Rechtsprechung vonnöten

Voraussetzung ist allerdings, dass das Schiedsgericht zu einer unparteiischen Rechtsprechung befähigt wird. Die Gegnerschaft einer neuen Grundlage der bilateralen Verträge erweckt nun den Eindruck, die Streitfälle, die dem Schiedsgericht vorgelegt würden, würden faktisch samt und sonders und definitiv durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg entschieden. Das Schiedsgericht werde dessen Urteile nur noch abnicken können. Der EuGH sei aber eine Behörde der Gegenpartei, mit dem politischen Auftrag, die Integration Europas zu fördern, womit ihm schweizerische EU-Gegner geradezu absprechen, überhaupt ein Gericht zu sein. Was ist davon zu halten?
Paragraph 10 des «Common Understanding» besagt, was dem EuGH zu unterbreiten ist:

Where the dispute raises a question concerning the interpretation or application of a provision referred to in paragraph 8 second sentence, and if the interpretation of that provision is relevant to the settlement of the dispute and necessary to enable the arbitral tribunal to decide on the matter, the arbitral tribunal should refer that question to the Court of Justice of the EU for a ruling that would be binding on the arbitral tribunal.

Wenn der Streit eine Frage der Auslegung von EU-Recht aufwirft, die für die Streitschlichtung relevant ist und deren Beantwortung nötig ist, damit das Schiedsgericht ein Urteil fällen kann, hat das Schiedsgericht diese Frage dem EuGH zu unterbreiten, und dessen Antwort ist für das Schiedsgericht verbindlich.
Sodann legt das Common Understanding dar, was dem, EuGH nicht zu unterbreiten ist:

« Where the dispute raises a question concerning the interpretation or application of a provision that falls within the scope of an exception from the dynamic alignment obligation set out in paragraph 9 and where such dispute does not involve the interpretation or application of concepts of Union law, the arbitral tribunal should decide the dispute without referring to the Court of Justice of the EU. »

Schiedsgericht ist kein Feigenblatt

Weshalb verdient das vorgesehene Schiedsgericht wirklich diese Bezeichnung und wäre kein Feigenblatt?
Erstens, weil nur ein Teil der Fälle, die vor das Schiedsgericht kommen werden, Fragen der Auslegung von EU-Recht aufwerfen werden.
Zweitens, weil auch in den Fällen, in EU-Recht auszulegen ist, dessen Auslegung nur einer von mehreren Faktoren ist, die zur Urteilsfindung des Schiedsgerichts beitragen. Wichtig sind auch die Abklärung eines Sachverhalts, der umstritten sein kann, die Anwendung der ausgelegten Norm auf den konkreten Sachverhalt, allfällige Ermessensentscheide, und schliesslich die Bestimmung angemessener, verhältnismässiger Konsequenzen, wenn eine Vertragsverletzung festgestellt wird.

Bedeutung der Auslegungskompetenz des EuGH

Die Auslegung von EU-Recht durch den EuGH kann in einem Streitfall von grosser Bedeutung sein. Es wäre rechtlich unrichtig und politisch kontraproduktiv, dies zu bestreiten.
Matthias Oesch, Professor für öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht am Institut für Völkerrecht und ausländisches Verfassungsrecht der Universität Zürich, legt in seinem kürzlich erschienenen Buch «Der EuGH und die Schweiz» einerseits dar, dass viele EuGH-Urteile bereits heute in der Schweiz bedeutsam sind. In einem am 21. Januar 2024 erschienenen Interview mit «Unser Recht» sagt er:

«Die Schweiz übernimmt seit Jahrzehnten Urteile des EuGH, sei es auf dem Weg der Rechtsvergleichung und des autonomen Nachvollzugs, sei es bei der Durchführung der bilateralen Abkommen. Unsere Juristinnen und Juristen sind sich gewohnt, Urteile des EuGH zu rezipieren und das schweizerische Recht im Licht der Dikta aus Luxemburg weiterzuentwickeln. Der Schritt, dem EuGH neu eine Rolle bei der Streitbeilegung zuzuordnen, wäre institutionell und rechtskulturell ein beachtlicher – praktisch wären die Folgen aber überschaubar.»

Präzisierung der Zuständigkeit des EuGH

Für die Verhandlungen schlägt Matthias Oesch jedoch einschränkende Präzisierungen der Zuständigkeit des EuGH vor. Auszug aus dem Interview:

«Die neuen Verhandlungen sollten tatsächlich genutzt werden, um das 2014-2018 entwickelte Modell weiter zu perfektionieren. Ein wesentliches Augenmerk sollte darauf gerichtet sein, die Verpflichtung eines Schiedsgerichts zur Anrufung des EuGH möglichst klar zu umreissen. Eine Vorlagepflicht, welche sich einzig um das Vorliegen eines «Begriffs des EU-Rechts» (gemäss Entwurf des institutionellen Abkommens von 2018) oder «eines Konzepts des EU-Rechts» (Common Understanding von 2023) dreht, ist konkretisierungsbedürftig.
Eine Vorlagepflicht scheint klarerweise zu bestehen, wenn es um die Klärung eines unionsrechtlichen Konzepts im EU-Recht geht, und die Einheitlichkeit der Auslegung und Anwendung in der EU gewährleistet sein muss. In dieser Konstellation beruht die Befassung des EuGH auf der unionsrechtlich bedingten, nachvollziehbaren Logik: Es handelt sich um EU-Recht, das zwar auf die Schweiz ausgedehnt wird, seinen genuin unionsrechtlichen Charakter aber nicht verliert. Es bleibt wesensmässig EU-Recht, dessen Auslegung dem EuGH obliegt.
Die Ausgangslage präsentiert sich nach meinem Dafürhalten anders, wenn ein Konzept des EU-Rechts im bilateralen Kontext EU-Schweiz geklärt werden muss. Hier mag einem Schiedsgericht eine durchaus eigenständige Rolle zukommen. Die der Klärung eines Konzepts des EU-Rechts im Binnenmarktkontext nachgelagerte Frage, ob im Verhältnis zur Schweiz auf der Grundlage eines bilateralen Abkommens eine parallele oder eine von der EuGH-Praxis abweichende Auslegung sachgerecht ist, muss dem EuGH nicht vorgelegt werden. Ein Schiedsgericht ist in der Lage, diese «Übersetzungsaufgabe» zu leisten, ohne dass die Einheitlichkeit des EU-Rechts gefährdet würde. Ein Schiedsgericht legt diesfalls – anders formuliert – nicht EU-Recht aus (was zwingend dem EuGH vorbehalten bleibt), sondern wendet die Praxis des EuGH im bilateralen Kontext EU-Schweiz an.
Es ist, wie Sie zu Recht anmerken, unklar, ob der EuGH eine solche Umschreibung der Vorlagepflicht eines Schiedsgerichts akzeptieren würde. Dessen ungeachtet argumentieren gewichtige Stimmen, dass eine dergestalt eigenständige Rolle eines Schiedsgerichts auch auf der Grundlage der Umschreibung der Vorlagepflicht im Entwurf des institutionellen Abkommens von 2018 möglich wäre. Es würde diesfalls an den Schiedsgerichten liegen, eine Praxis zur Vorlagepflicht zu entwickeln – selbstredend unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben in Bezug auf die Autonomie des EU-Rechts und die Zuständigkeit des EuGH zu seiner verbindlichen Auslegung.»
*
Die juristische und politische Beurteilung des Streitschlichtungsverfahrens und insbesondere des Schiedsgerichts wird nicht allein entscheiden, ob das Ergebnis der laufenden Verhandlungen zwischen der EU und der Schweiz in Parlament und beim Volk mehrheitsfähig wird. Aber sie kann sich umso stärker auswirken, je umstrittener andere wichtige Kriterien bleiben, wie vor allem der Nutzen und die Notwendigkeit eines staatsvertraglich gesicherten guten Marktzugangs.

Ulrich E. Gut ist Jurist sowie ehemaliger Politiker (FDP) und Chefredaktor (Zürichsee-Zeitung). Heute arbeitet er als freischaffender Publizist. Der vorliegende Artikel erschien zuerst in seinem Blog PolitReflex.ch.

Eine Meinung, aber keine Ahnung von Daniel Woker

Die von den Finanzmilliardären der Private-Equity-Gesellschaft Partners Group angeführte und üppig finanzierte Kampforganisation Kompass/Europa gibt sich bieder bürgerlich, fördert aber mit ihrer EU-feindlichen Rhetorik den nationalkonservativen Populismus und Extremismus in der Schweiz.

 

Weil sie dank Tiefzinsperiode und mit einer tüchtigen Prise von Kasinokapitalismus im Steuerparadies Zug zu Finanzmilliardären geworden sind, glauben Alfred Gantner, Marcel Erni und Urs Wietlisbach, die drei Gründer der Partners Group, sie seien nun auch zur Politik berufen. Mit einer Initiative wollen sie zunächst den Bilateralen III, über die die Schweiz und die EU gegenwärtig verhandeln, den Garaus machen.

Kompass/Europa weiss, was sie nicht will – eine angebliche «Passivmitgliedschaft» der Schweiz in der EU –, aber nicht, wie der künftige Weg der Schweiz in Europa aussehen soll. Es wird vage auf überseeische Exportmärkte verwiesen sowie auf eine Fortführung bilateraler Zusammenarbeit auch ohne ein neues Abkommen mit der EU. Das ist unmöglich. Die zahlreichen Bereiche der Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU brauchen ein Dach, welches für beide gemeinsam ist, beide schützt und beide an anderen Problemen in Ruhe arbeiten lässt.

Von Brüssel einen Sonderweg allein für die Schweiz verlangen zu wollen, ist helvetischer Grössenwahnsinn. Höflicher, aber ebenso klar hat dies Brüssel gegenüber allen schweizerischen Unterhändlern immer wieder festgestellt. Entweder ein Abkommen mit institutionellen Bestimmungen oder ein schweizerisches (Wirtschafts-)Leben in der Kälte des europäischen Aussenseiters. Was in der Schweiz bislang von rechts-nationalistischen Populisten und Extremisten vertreten worden ist.

Finanzunternehmer und Mitläufer

Gehört Kompass/Europa mit ihrer lügnerischen Anti-EU Rhetorik nun nicht auch zu diesen, unbesehen der behaupteten Mittelstellung? Was die Partners Group sicher will, ist ihre offensichtlich lukrative Tätigkeit als Finanzdienstleistungsunternehmen ungestört von europäischen Regeln zum Schutz von Anlegern weiterführen.

Um mehr Publizität zu erlangen, hat sich Kompass/Europa mit einer Koterie helvetischer Prominenz von Kurt Aeschbacher bis Bernhard Russi umgeben. Was offensichtlich gelungen ist. Diese Promis haben sich von der trutzigen Rhetorik einer Tell-Schweiz einnehmen lassen, verstehen aber nicht, was für unser Land mit den Bilateralen III auf dem Spiel steht. Nicht nur der Verbleib im EU-Binnenmarkt, eingeschlossen Schengen und Dublin, sondern auch die Zukunft der Schweiz in Europa.

Schweiz zu klein

Kompass/Europa scheint keine Ahnung zu haben vom grossen Projekt der europäischen Einigung und den immensen Anstrengungen dahinter, unseren Kontinent wirtschaftlich und politisch auf Augenhöhe mit den Supermächten des 21. Jahrhunderts zu bringen. Die EU also, deren Vertreter sehen, dass die europäischen Länder einzeln weder wirtschaftlich noch politisch und schon gar nicht sicherheitspolitisch (Aggressor Putin!) in der Lage sind, sich gegenüber den Grossen (USA, China, Indien/ASEAN, dereinst wohl auch einmal Afrika) behaupten zu können. Man erinnert sich an den Ausspruch der ehemaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel: «Deutschland allein ist zu klein». Was für die Schweiz in noch erhöhtem Masse gilt.

Der hier oft gehörte Einwand der unabhängigen innovativen Kleinschweiz als dem künftigen «Singapur Europas» fällt flach. Singapur, wo der Schreibende sechs Jahre lang die Schweiz vertreten hat, ist ein Vorreiter des internationalen Zusammenschlusses zur Bündelung aller gleichgesinnten Kräfte, weil seine Dirigenten wissen, dass nur so der chinesische Drache im Zaun gehalten werden kann.

Ein David gegen zwei Goliaths von Martin Gollmer

Zwei schwerreiche Unternehmer ziehen gegen eine bilaterale Annäherung der Schweiz an die EU ins Feld: Ex-Ems-Chemie-Chef Christoph Blocher und seine SVP sowie neu auch Alfred Gantner mit Mitstreitern von der Private-Equity-Gesellschaft Partners Group mit ihrer Vereinigung Kompass/Europa. Gegen die beiden tritt eine finanziell wesentlich kleinere Brötchen backende Allianz um die GLP-Politikerin Sanija Ameti und ihre Operation Libero an. Die Allianz hatte im Frühjahr 2024 eine Initiative für eine aktive und ambitionierte Europapolitik der Schweiz lanciert.

Dem Bilateralismus, den die Schweiz seit 25 Jahren im Verhältnis zur EU pflegt, weht ein immer steiferer Wind entgegen: Neu will nun auch die EU-skeptische Vereinigung Kompass/Europa dagegen antreten. Sie hat Anfang Oktober die «Kompass-Initiative: für eine direkt-demokratische und wettbewerbsfähige Schweiz – keine EU-Passivmitgliedschaft» lanciert. Damit soll verhindert werden, dass die Schweiz «automatisch» EU-Recht übernimmt und der Europäische Gerichtshof (EuGH) als «oberste gerichtliche Instanz» in den Beziehungen Schweiz-EU eingesetzt wird. Das beeinträchtige die Souveränität der Schweiz und untergrabe die hierzulande gepflegte direkte Demokratie.

Mit der Kompass-Initiative soll zudem erreicht werden, dass «völkerrechtliche Verträge, die eine Übernahme wichtiger rechtssetzender Bestimmungen vorsehen» dem obligatorischen Referendum unterstellt werden. Die Bilateralen III, über die die Schweiz und die EU gegenwärtig verhandeln, müssten damit die Zustimmung einer Mehrheit von Volk und Ständen (Kantonen) erhalten, um in Kraft treten zu können. Mit einer Rückwirkungsklausel soll zudem sichergestellt werden, dass bei einer allfälligen Annahme der Kompass-Initiative nach Inkrafttreten der Bilateralen III diese nur Bestand hätten, wenn sie in einem obligatorischen Referendum mit Mehrheit von Volk und Ständen angenommen wurden. Ein Blick auf die Website von Kompass/Europa zeigt, dass es dabei nicht um möglichst viel Demokratie geht, sondern um möglichst keine Bilaterale III: «Die Bewegung spricht sich klar gegen ein Rahmenabkommen 2.0 aus und engagiert sich kraftvoll und entschieden dagegen.»

Verfassungsrechtlich hebelt die Initiative den Grundsatz des Parallelismus der Formen aus: So unterliegen heute Staatsverträge den gleichen Kriterien wie innerstaatliche Erlasse für das Referendum. Die Initiative will dies nun für Staatsverträge verschärfen und alle wichtigen Verträge dem obligatorischen Referendum von Volk und Ständen unterbreiten – selbst wenn es sich um Bestimmungen technischer Natur handelt wie z.B. Produkte- oder Produktionsstandards. Im Ergebnis wird die EU unter solchen Bedingungen an Verhandlungen mit der Schweiz kein Interesse haben. Die Schweiz kann dann solche Normen einseitig nachvollziehen, aber ohne Wirkung im EU-Binnenmarkt – ganz zum Nachteil von Unternehmen mit Standort Schweiz.

Verbreitung von Unwahrheiten

Auf der Website der Kompass-Initiative finden sich auch allerlei – wohl bewusst eingestreute – Unwahrheiten. Zwei Beispiele: So soll EU-Recht in Zukunft «automatisch» von der Schweiz übernommen werden müssen. Das ist falsch. Dynamische Rechtsübernahme heisst nicht automatisch, sondern fortlaufend (statt wie bisher nur periodisch). Dabei müssen Bundesrat, Parlament und – sofern das Referendum ergriffen wird – das Volk in jedem Fall zustimmen. Der (direkt-)demokratische Prozess in der Schweiz wird also nicht ausser Kraft gesetzt. Die Schweiz bleibt souverän und kann jederzeit die Übernahme von EU-Recht ablehnen. Allerdings müsste sie dann mit Ausgleichsmassnahmen der EU rechnen. Dies um zu verhindern, dass die Schweiz bei jeder erstbesten Gelegenheit ein Extrazüglein fährt.

Auch wird der EuGH nicht «oberste gerichtliche Instanz» in den Beziehungen Schweiz-EU, wie das Initiativ-Komitee behauptet. Er kommt nur dann und nur bei sogenannten Binnenmarktabkommen zum Zug, wenn sich die Schweiz und die EU im Streitfall in einem Schiedsgerichtverfahren nicht über die Auslegung von Begriffen des EU-Rechts einigen können. Abschliessend entscheidet in jedem Fall ein paritätisch zusammengesetztes Schiedsgericht, das sich dabei an die Begriffsauslegung des EuGH halten muss.

Die Kompass-Initiative nimmt für sich in Anspruch, die Standortvorteile der Schweiz zu «sichern» – die hiesigen Unternehmen hätten «auch ohne spezifische Verträge Zugang zum EU-Markt». In Tat und Wahrheit verschlechtern sich die Standortvorteile der Schweiz, wenn die Initiative angenommen würde. Die schweizerischen Unternehmen verlören die kostensparende hindernisfreie Beteiligung an wichtigen Teilen des Binnenmarkts – einen Zugang, den Unternehmen aus anderen Nicht-Mitgliedstaaten der EU so nicht haben. Die schweizerischen Unternehmen büssten so im Verkehr mit der EU Wettbewerbsvorteile ein. Das trifft vor allem KMU und damit das Rückgrat der schweizerischen Volkswirtschaft.

Angst vor strengen EU-Regeln

Wenn es darum geht, Standortvorteile zu sichern, dann dürfte es den Initianten der Kompass-Initiative vor allem um die Vorteile für ihr eigenes Geschäft gehen. Alfred Gantner sowie seine Mitstreiter Marcel Erni und Urs Wietlisbach, die die Vereinigung Kompass/Europa ins Leben gerufen haben, sind auch die Gründer der in Baar im Kanton Zug ansässigen Private-Equity-Gesellschaft Partners Group. Mit dieser auf Privatmarktanlagen spezialisierten Firma haben sie es zu einem Milliardenvermögen gebracht. Sie wollen mit möglichst hohen Hürden für neue bilaterale Verträge mit der EU verhindern, dass die Schweiz als heutiger sicherer Hafen dereinst auch die Bestimmungen für Finanzdienstleistungen von der EU übernimmt. Diese sind dort strenger reguliert als in der Schweiz.

Souveränität bewahren, direkte Demokratie erhalten, Standortvorteile sichern – von den Schalmeienklängen der drei Finanzhaie aus der Innerschweiz haben sich auch mehrere Schweizer Prominente verführen lassen. So unterstützen etwa die Ex-Skirennfahrer Bernhard Russi und Urs Lehmann, der Ex-Fernsehmoderator Kurt Aeschbacher sowie die Musiker Dieter Meier (Yello) und Chris von Rohr (Krokus) die Kompass-Initiative. Das macht diese nicht besser. Die Boulevardzeitung «Blick» hat nämlich mit den meisten dieser Prominenten gesprochen und dabei herausgeschält, dass sich diese bisher kaum mit dem Bilateralismus Schweiz-EU beschäftigt haben und deshalb von der Sache nur wenig verstehen. «Das ist nicht mein Metier, da habe ich zu wenig Ahnung», sagte etwa Dieter Meier.

Kampf für eine souveräne Schweiz

Gantner und Mitstreiter sind mit ihrer Vereinigung Kompass/Europa nicht die einzigen schwerreichen Unternehmer, die gegen die Bilateralen III ins Feld ziehen. Da sind auch noch Christoph Blocher und die von ihm aus dem Hintergrund mitgelenkte SVP. Blocher brachte es als ehemaliger Besitzer des in Domat/Ems im Kanton Graubünden ansässigen Spezialitätenchemiekonzerns Ems Chemie zu einem Milliardenvermögen. Blocher und die SVP schiessen aus allen Rohren gegen das neue bilaterale Vertragspaket, über das die Schweiz und die EU gegenwärtig verhandeln. Mit diesem Paket will die Schweiz unter anderem den hindernisfreien Zugang zu Teilen des EU-Binnenmarkts sichern und ausbauen sowie die Wiederaufnahme in die Forschungs- und Bildungsprogramme der EU erreichen.

Blocher unterstützt auch die von der SVP lancierte sogenannte Nachhaltigkeitsinitiative gegen eine 10-Millionen-Einwohner-Schweiz. Würde sie angenommen, müsste die Schweiz eventuell das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU kündigen. Dieses ist eines der Kernelemente der bilateralen Verträge und mitverantwortlich für den Erfolg des Wirtschaftsstandorts Schweiz. Die SVP mit Doyen Blocher im Hintergrund steht auch hinter der Grenzschutzinitiative, mit der die illegale Migration in die Schweiz bekämpft werden soll. Sie fordert etwa die Wiedereinführung systematischer Grenzkontrollen. Zudem sollen Migranten, die über einen sicheren Drittstaat einreisen, keine Einreise und kein Asyl mehr gewährt werden. Die Grenzschutzinitiative stellt damit die Schengen- und Dublin-Assoziierungsabkommen mit der EU in Frage – zwei weitere Kernelemente der bilateralen Verträge.

Blocher sieht die Eigenart der Schweiz – wie sie etwa in der direkten Demokratie, dem föderalistischen Staatsaufbau oder der immerwährenden Neutralität zum Ausdruck kommt – bedroht, wenn sich die Schweiz der EU annähert. Er tritt deshalb für eine möglichst souveräne und eigenständige Schweiz ein. Dabei blendet er aus, dass es eine absolute Souveränität in der heutigen globalisierten Welt gar nicht mehr gibt – schon gar nicht für einen Kleinstaat wie die Schweiz, dessen weltweite Vernetzung für seinen Wohlstand mitverantwortlich ist.

Gewinnt Geld oder Vernunft?

Gantner und Mitstreiter sowie Blocher – sie alle bekämpfen also die bilateralen Verträge und insbesondere die Bilateralen III. Sie können dabei zusammen mit Kompass/Europa und der SVP Millionen für ihren Kampf aufwenden. Sie wollen die Schweiz auf Distanz zur EU halten. Sie sind die Goliaths. Da hat Sanija Ameti mit ihrer Europa-Allianz einen schweren Stand. Die GLP-Politikerin ist nicht Unternehmerin und kann kein grosses Vermögen für ihr Anliegen einsetzen. Zudem ist ihre Reputation angeschlagen, seit bekannt geworden ist, dass sie mit einer Waffe auf ein Heiligenbild geschossen hat. Obwohl sie Reue gezeigt und sich entschuldigt hat, ist sie seither einer mittelalterlich anmutenden Hexenjagd ausgesetzt. Sie ist David.

Ameti ist Co-Präsidentin der Operation Libero, die eine europapolitische Allianz von Organisationen der Zivilgesellschaft anführt. Zu dieser Allianz gehören auch die Vereinigung Die Schweiz in Europa, die Europäische Bewegung Schweiz, Studierendenverbände, die Grüne Partei Schweiz und weitere Organisationen. Die Allianz hat im Frühjahr die sogenannte Europa-Initiative lanciert, mit der Bundesrat und Parlament zu einer aktiven und ambitionierten Europapolitik verpflichtet werden sollen. Ameti und ihre Allianz tragen damit den vielfältigen und sehr engen Beziehungen der Schweiz zur EU Rechnung. Sie unterstützen Verhandlungen für die Bilateralen III und treten für ein umfassend geregeltes Verhältnis der Schweiz zur EU ein. Gemäss neuen Umfragen tut das eine klare Mehrheit der Schweizer Stimmberechtigten genauso und bestätigt damit frühere Umfragen, die alle stets eine Unterstützung des bilateralen Wegs von über 60 Prozent aufwiesen.

Man darf gespannt sein, wer diesen Kampf David – die Europa-Allianz mit Ameti – gegen zwei Goliaths – Kompass/Europa mit Gantner und Mitstreitern sowie die SVP mit Blocher – gewinnt. Zu hoffen ist, dass in der Schweizer Europapolitik schliesslich nicht das Geld obsiegt, sondern die Vernunft. Frei nach dem britischen Ökonomen und Politiker John Maynard Keynes lässt sich sagen: «They have all the money bags, but we have the brains.»