Lehren aus den Verhandlungen Schweiz-EU von Philippe G. Nell
ASE-Vizepräsident Philippe G. Nell untersucht in seinem neuen Buch «Négociations Suisse-Union Européenne: regard critique sur deux grands échecs et nouveaux espoirs» drei wichtige Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU. Zwei dieser Verhandlungen scheiterten, die letzte gibt Anlass zu Hoffnungen. Im Folgenden fasst der Autor das Buch kurz zusammen.
Die im Herzen Europas gelegene Schweiz verfolgt seit Ende der 1950er-Jahre eine aktive Integrationspolitik. In den ersten Phasen war sie sehr erfolgreich, konnte jedoch mit der plötzlichen Beschleunigung nicht Schritt halten, die Ende der 1990er-Jahre durch die Verwirklichung des Binnenmarktes der Europäischen Union (EU) und den Zusammenbruch des Ostblocks ausgelöst wurde. Warum eigentlich?
Wären das Scheitern des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) 1992 und das Scheitern des institutionellen Rahmenabkommens mit der EU im Jahr 2021 vermeidbar gewesen? Welche Rolle spielte der Antrag auf einen EU-Beitritt? Welche Faktoren waren ausschlaggebend? Wer waren die wichtigsten Akteure und aus welchen Gründen? Wie stehen die Aussichten für die Ratifizierung der 2025 abgeschlossenen Abkommen (Bilaterale III) zur Stabilisierung und zum Ausbau der Beziehungen zur EU?
Der Autor vergleicht die Situation des EWR und des institutionellen Rahmenabkommens. Er hebt insbesondere die Fragen der 2025 abgeschlossenen Abkommen zur Stabilisierung und zum Ausbau der Beziehungen zur EU, die institutionellen Fragen, die Ausnahmen von den EU-Regeln und die Rolle der Souveränisten bei der Entstehung einer wachsenden Kluft zur EU hervor. Die Partikularinteressen der Gewerkschaften zeigen auch die Rolle der Machtelite und ihren enormen Einfluss auf das Parlament und die Wirtschaftsverbände. All dies führte 2021 zum Scheitern des institutionellen Rahmenabkommens.
Doch zur allgemeinen Überraschung kam Bundesrat Ignazio Cassis mit einer neuen Strategie zurück, welche die EU überzeugte und kurz vor Weihnachten 2024 von Erfolg gekrönt war. Ein Geniestreich, der diesmal massive Unterstützung aus Wirtschaftskreisen erhielt, die sich in einem Machtkampf mit den Gewerkschaften befanden.
Für die Schweiz eröffnen sich neue Perspektiven. Die Verhandlungsergebnisse der Bilateralen III sind für sie weitgehend günstig. Sie hat fast alle ihre Ziele und dabei wesentliche Verbesserungen gegenüber dem institutionellen Rahmenabkommen erreicht. Im Anschluss daran einigten sich Gewerkschaften und Arbeitgeber am 21. März 2025 auf einen Kompromiss über interne Massnahmen zur Sicherung der Löhne und erfüllten damit eine wesentliche Voraussetzung für die Annahme des Abkommenpakets.
Angesichts eines von allen Seiten unter Druck stehenden Europas hat die EU die Vorteile erkannt, einen in jeder Hinsicht so wichtigen Partner in ihrem Lager zu verankern. Sie hat es verstanden, dort, wo es für den Erfolg notwendig war, über ihre sakrosankte rechtliche Homogenität hinwegzusehen.
Unsere Zukunft liegt eindeutig in Europa. Das Buch richtet sich an alle Bürgerinnen und Bürger und enthält abschliessend dreissig gut illustrierte Verhandlungslektionen, die sich sowohl an Regierungsvertreter als auch an die Wirtschaft richten. Es soll dazu beitragen, die Annahme des Abkommenpakets Bilaterale III durch das Parlament und anschliessend der Bevölkerung in einem Referendum vorzubereiten. Die Integration in die EU hat eine lange Geschichte; sie kann nicht aufhören und muss fortgesetzt werden. Ein Blick auf zwei Misserfolge soll helfen, einen dritten zu vermeiden, der eine gewaltigen Kluft zu Europa öffnen würde.
Über den Autor
Philippe G. Nell ist Absolvent der Universitäten Freiburg (Lizentiat in Wirtschaftswissenschaften), Carleton in Ottawa (Master in Internationalen Beziehungen) und Denver (Master und Ph.D. in Internationalen Studien). Er ist heute Privatdozent an der Universität Freiburg. Seit seinem Eintritt in den Dienst der Eidgenossenschaft im Jahr 1985 hat er seine Karriere der Schweizer Aussenwirtschaftspolitik gewidmet und war direkt an den Verhandlungen über den Europäischen Wirtschaftsraum und die engmaschige Begleitung der darauffolgenden Schritte beteiligt. Er verfügt über umfangreiche Erfahrungen in diesem Bereich, die er 23 Jahre lang an der Universität Basel weitergab und derzeit jedes Jahr an den Universitäten Freiburg und Lausanne als Gastdozent weitergibt. Er ist Ehrenbotschafter und Vizepräsident der Vereinigung «La Suisse en Europe/Die Schweiz in Europa» (ASE).
Philippe G. Nell: Négociations Suisse-Union Européenne: regard critique sur deux grands échecs et nouveaux espoirs. Éditions Slatkine, Genève 2025.