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Bilaterale III: Eine wichtige Etappe ist absolviert von Martin Gollmer

Die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU über ein neues bilaterales Vertragspaket sind inhaltlich beendet. Was jetzt folgt, ist der innenpolitische Umsetzungsprozess, der unter Umständen erst 2028 in eine Volksabstimmung münden könnte. Das Vertragspaket ist gross, ebenso dessen Bedeutung für die Schweiz.

Nach neun Monaten und knapp zweihundert Sitzungen der Unterhändler ist ein wichtiges Zwischenziel erreicht: Die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU über ein neues, drittes Vertragspaket – wir nennen es hier die Bilateralen III – sind materiell abgeschlossen. Das Paket umfasst institutionelle, handels-  und wettbewerbsrechtliche Regelungen für einzelne bilaterale Abkommen, Bestimmungen über den Zugang der Schweiz zu EU-Förderprogrammen, insbesondere zu den Forschungs- und Bildungsprogrammen Horizon Europe und Erasmus+, eine Vereinbarung über einen finanziellen Beitrag der Schweiz an die Bestrebungen der EU, die wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten  auf deren Gebiet zu verringern, sowie drei neue bilaterale Abkommen in den Bereichen Strom, Lebensmittelsicherheit und Gesundheit.

Der Umfang und die Bedeutung dieses Pakets für die Schweiz lassen sich mit den folgenden zehn Punkten umreissen:

  1. Die Schweiz kann den seit 25 Jahren erfolgreich begangenen bilateralen Weg mit der EU stabilisieren und weiterentwickeln. Mit der EU, der wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Organisation Europas, ist die Schweiz auf vielfältige und enge Weise verbunden. Insbesondere ist die EU der mit Abstand wichtigste Handelspartner der Schweiz.
  2. Mit den Bilateralen III kann die Schweiz ihren hindernisfreien partiellen Zugang zum EU-Binnenmarkt mit 450 Millionen Konsumentinnen und Konsumenten sichern und ausbauen. Einen vergleichbaren Zugang hat kein anderes EU-Nichtmitgliedsland, selbst das einstige EU-Mitglied Grossbritannien nicht. Der EU-Binnenmarkt ist der grösste grenzüberschreitende Markt der Welt.
  3. Das Vertragspaket beinhaltet auch einen Rechtsrahmen für die Assoziierung der Schweiz an die EU-Förderprogramme für Bildung, Forschung und Innovation. Im Vordergrund stehen die Programme für Forschung «Horizon Europe» und für Bildung «Erasmus+». Die Beteiligung der Schweiz an diesen EU-Programmen tritt mit der Ratifizierung des Gesamtpakets in Kraft. Bis es so weit ist, gilt eine Übergangsregelung, die eine Beteiligung der Schweiz an einzelnen Programmen – etwa an Horizon Europe – schon ab 2025 ermöglicht. Die EU-Förderprogramme gehören weltweit zu den renommiertesten im Bereich der Bildung, Forschung und Innovation.
  4. Die Bilateralen III sehen eine dynamische Übernahme von EU-Recht vor in Bereichen, in denen sich die Schweiz am EU-Binnenmarkt beteiligt (zurzeit: Personenfreizügigkeit, Landverkehr, Luftverkehr, verarbeitete landwirtschaftliche Produkte und Anerkennung von Konformitätsbewertungen; neu auch: Strom und Lebensmittelsicherheit). Dynamisch heisst dabei fortlaufend – im Gegensatz zur gegenwärtigen laufenden Entwertung der bilateralen Verträge durch Stillstand bis mühsam die Übernahme neuen EU-Rechts ausgehandelt ist. Weil so schweizerisches und EU-Recht jederzeit übereinstimmen, schafft das Rechtssicherheit. Dynamisch heisst nicht automatisch: Der ordentliche schweizerische Gesetzgebungsprozess bleibt in Kraft. Bundesrat und Parlament können jederzeit Nein sagen zur Übernahme eines bestimmten EU-Rechtsakts. Auch die direktdemokratischen Rechte des Volks bleiben gewahrt: Ein Referendum gegen einen zu übernehmenden EU-Rechtserlass bleibt jederzeit möglich. Sagt die Schweiz definitiv Nein zur Übernahme eines Rechtsakts der EU, kann diese Ausgleichsmassnahmen ergreifen, um zu verhindern, dass die Schweiz einen Wettbewerbsvorteil erhält. Diese Ausgleichsmassnahmen müssen verhältnismässig sein; ob dies der Fall ist, beurteilt notfalls ein paritätisch zusammengesetztes Schiedsgericht.
  5. Im Rahmen der dynamischen Rechtsübernahme wird das Mitspracherecht der Schweiz bei der Ausarbeitung von EU-Recht, das die Binnenmarktabkommen betrifft, ausgeweitet. Sie kann so erreichen, dass neues EU-Recht in diesen Bereichen schweizerische Eigenheiten berücksichtigt. Das ist ein Souveränitätsgewinn.
  6. Dem Schutz der Schweiz als dem kleineren Vertragspartner dient das neue Streitbeilegungsverfahren. Können die Schweiz und die EU bei Vertragsstreitigkeiten im Gemischten Ausschuss keine Einigung erzielen, kann jede Vertragspartei die Beurteilung des Falls durch ein paritätisch zusammengesetztes Schiedsgericht verlangen. Dieses muss den Europäischen Gerichtshof (EuGH) beiziehen, wenn die Auslegung von EU-Recht strittig ist. Dessen Urteil ist für das Schiedsgericht bindend, aber auch für alle Mitgliedstaaten der EU und des EWR massgebend. Diese beteiligten sich entsprechend am Verfahren vor dem EuGH. Dieses richtet sich somit nicht gegen die Schweiz an sich. Über den Streit zwischen der EU und der Schweiz selbst entscheidet aber zuletzt immer das paritätisch zusammengesetzte Schiedsgericht.
  7. Die Zuwanderung aus der EU bleibt in der Regel an eine Erwerbstätigkeit gebunden. Die umstrittene Unionsbürgerrichtlinie wird dabei von der Schweiz lediglich teilweise übernommen. Ausnahmen und Absicherungen sollen verhindern, dass es insbesondere zu einer unerwünschten Einwanderung in das schweizerische Sozialsystem kommt. Zusätzlich kann die Schweiz im Fall einer übermässigen Zuwanderung aus der EU eine konkretisierte Schutzklausel aktivieren. Dazu gelangt sie wie schon heute zunächst an den Gemischten Ausschuss Schweiz-EU. Ist dort keine Einigung möglich, kann die Schweiz ein paritätisch besetztes Schiedsgericht einberufen. Dieses prüft, ob die Voraussetzungen für Schutzmassnahmen gegeben sind. Bei einem positiven Bescheid kann die Schweiz solche Massnahmen ergreifen. Führen diese zu einem Ungleichgewicht der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien unter dem Personenfreizügigkeitsabkommen, könnte die EU Ausgleichsmassnahmen treffen. Diese müssen aber verhältnismässig sein.
  8. Der Schutz der schweizerischen Löhne bleibt im Rahmen der Bilateralen III weitgehend gewährleistet. Es gilt weiterhin der Grundsatz «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort». EU-Unternehmen müssen demnach bei Entsendungen von Arbeitnehmern in die Schweiz diesen die hiesigen Löhne zahlen. Eine Ausnahme gibt es allerdings: Bei den Spesen soll das Heimatlandprinzip gelten. Das heisst, aus der EU entsandte Arbeitnehmer erhalten Spesen nach den Ansätzen ihres Herkunftslandes und nicht nach den in der Schweiz geltenden Vorgaben. Diese Regelung ist auch in EU-Mitgliedstaaten umstritten und kann künftig vor allem in der Rechtsprechung des EuGH noch Anpassungen erfahren.
  9. Ein Akt der Solidarität ist es, dass die Schweiz sich verpflichtet, einen dem EWR-Vertrag vergleichbaren Beitrag an den Ausgleich wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheiten in der EU zu leisten. Dieser sogenannte Kohäsionsbeitrag beträgt ab 2030 und vorerst bis 2036 350 Millionen Franken pro Jahr. Zurzeit zahlt die Schweiz einen Beitrag in der Höhe von 130 Millionen Franken jährlich. Der Schweizer Kohäsionsbeitrag fliesst nicht ins EU-Budget, sondern wird wie heute direkt in den unterstützten EU-Staaten für gemeinsam vereinbarte Projekte eingesetzt.
  10. Von den drei neuen Abkommen, die die Bilateralen III vorsehen, ist vor allem dasjenige über Strom von grosser Bedeutung für die Schweiz. Diese gilt als Stromdrehscheibe Europas und ist mit über 40 grenzüberschreitenden Stromleitungen eng mit dem Stromnetz ihrer Nachbarländer verbunden. Das Stromabkommen sieht nun vor, dass hiesige Akteure gleichberechtigt und hindernisfrei am europäischen Strombinnenmarkt teilnehmen können sowie an EU-Handelsplattformen, Agenturen und Gremien, die für den Stromhandel, die Netzstabilität, die Versorgungssicherheit und die Krisenvorsorge wichtig sind. Gleichzeitig soll der Schweizer Strommarkt geöffnet werden. Endverbraucherinnen und -verbraucher können mit dem Stromabkommen den Stromlieferanten in Zukunft frei wählen. Haushalt und Unternehmen unter einer gewissen Verbrauchsschwelle haben dabei die Wahl, weiterhin in der Grundversorgung mit reguliert Priesen zu bleiben oder (unter Berücksichtigung von Fristen und allfälligen Wechselgebühren) in diese zurückzukehren. Schweizer Stromversorger und Verteilnetzbetreiber können in der öffentlichen Hand und in der öffentlichen Verwaltung integriert bleiben.

Mit dem materiellen Abschluss der Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU ist aber erst ein erster, wenn auch wichtiger Schritt auf dem Weg zur Inkraftsetzung der Bilateralen III getan. Was jetzt folgt ist die juristische Bereinigung und Finalisierung des Abkommens. Daran schliesst dann die Paraphierung des finalen Textes durch die Chefunterhändler an. Das könnte im Frühjahr 2025 der Fall sein.

Gleichzeitig können mit dem materiellen Abschluss der Verhandlungen das schweizerische Gesetzespaket geschnürt und die für die innenpolitische Umsetzung erforderlichen flankierenden Massnahmen getroffen werden. Dann wird der Bundesrat voraussichtlich vor der Sommerpause 2025 die ordentliche Vernehmlassung zum Botschaftsentwurf eröffnen, bevor der Entwurf wahrscheinlich Anfang 2026 dem Parlament unterbreitet wird. Diese wird die Botschaft im gleichen Jahr beraten und verabschieden. Da die Parteien möglicherweise das umstrittene EU-Thema aus den Parlamentswahlen im Jahr 2027 heraushalten wollen, könnte es erst 2028 zu einer Volksabstimmung über die Bilateralen III kommen.

Was die Struktur der Botschaft ans Parlament betrifft, bevorzugt der Bundesrat zurzeit einen Ansatz, der die Abkommen zur Stabilisierung des bilateralen Wegs (Anpassung bestehender Abkommen, staatliche Beihilferegeln, Teilnahme an EU-Programmen und Kohäsionsbeitrag) in einen Bundesbeschluss «Stabilisierung» giesst. Die drei neuen Abkommen zur Weiterentwicklung des bilateralen Wegs würden dann in separaten Bundesbeschlüssen präsentiert. Das könnte heissen, dass es dereinst zu vier getrennten Volksabstimmungen über die Bilateralen III kommt.

Fahrplan wirft Fragen auf    

Der vorgesehene Fahrplan lässt offen, wann der Bundesrat die Verträge unterzeichnen wird und sich damit auch völkerrechtlich verpflichtet, den Erfolg der Verhandlungen innenpolitisch nach Treu und Glauben voranzutreiben.  Wahrscheinlich wird dies nach der erfolgten Vernehmlassung erfolgen, die erneut die Gefahr mit sich bringt, dass das Paket wie bei Rahmenvertrag zerredet wird, unter dem Dauerbeschluss der Fundamentalopposition der SVP und ihren zugewandten Orten. Mit Fug stellt sich die Frage, ob dieses Vorgehen sinnvoll und nötig ist, nachdem alle Beteiligten bereits während den Vorverhandlungen eingehend zu Rate gezogen worden waren.

Die Schweiz ist es der EU schuldig, dass das Paket nun zügig behandelt wird und der Bundesrat seine Führungsaufgabe wahrnimmt. Eine erneute Vernehmlassung ist verfassungsrechtlich nicht erforderlich. Der Bundesrat kann die Bilateralen III nach der rechtlichen Bereinigung und Paraphierung unterzeichnen und in der Folge mit der Botschaft und seinen Vorschlägen für die Anpassung einschlägiger Gesetze dem Parlament überweisen. Dieses hat es dann in der Hand, das Tempo Beratungen in den Kommissionen und den Räten so zu bestimmen, so dass das Geschäft noch in dieser Legislatur abgeschlossen werden kann und die mit Sicherheit zu erwartenden Referenden noch vor den Wahlen im Jahren 2027 durchgeführt werden können. Auch hier besteht die Gefahr weiterer Verzögerungen. Diese riskieren, dass die EU die vorläufige Anwendung von gewissen Programmen erneut zurückzieht und nicht bereit sein wird, weitere Abkommen namentlich im Bereich der Resilienz und der Sicherheitspolitik, z.B. der Rüstungsbeschaffung, mit der Schweiz abzuschliessen. Bei allem Verständnis für die Langsamkeit der direkten Demokratie müssen neu auftauchende Verhandlungsfelder und auch die Interessen der EU an einer zügigeren Inkraftsetzung der Bilateralen III mitbedacht werden.

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