Wie der EuGH schon heute in die Schweiz hineinwirkt von Martin Gollmer

Im Rahmen des Versuchs der Schweiz und der EU, ihre bilateralen Beziehungen auf ein neues institutionelles Fundament zu stellen, ist der Europäische Gerichtshof (EuGH) für viele Schweizerinnen und Schweizer zu einem roten Tuch geworden. Dabei spielt das höchste Gericht der EU im schweizerischen Rechtsalltag schon seit längerem – und von den meisten unbemerkt – eine bedeutende Rolle. Das zeigt Europarechtsprofessor Matthias Oesch in seinem aktuellen Buch «Der EuGH und die Schweiz» auf.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) habe sich in den über 70 Jahren seines Bestehens «zu einem mächtigen Gericht in Europa und zu einer unverzichtbaren Stütze der europäischen Integration entwickelt. Sein Beitrag zur Operationalisierung des in den EU-Verträgen angelegten Integrationsprogramms und zur Etablierung der EU als Rechtsunion ist überragend. Seine Urteile prägen das Leben in Europa nachhaltig. Das gilt auch für die Menschen in der Schweiz – und zwar (…) in deutlich grösserem Ausmass als dies hinlänglich bekannt ist. Die Urteile des EuGH sind im Schweizer Rechtsalltag allgegenwärtig. Kenntnisse des Fallrechts aus Luxemburg gehören zum unverzichtbaren Rüstzeug der Juristinnen und Juristen nicht nur in Brüssel, Lissabon, Stockholm und Zagreb, sondern auch in Bern, Lausanne, St. Gallen und Zürich.» Das schreibt der an der Universität Zürich lehrende Europarechtler Matthias Oesch in der Einleitung zu seinem neuesten Buch mit dem Titel «Der EuGH und die Schweiz».

Oesch hat sich deshalb mit seinem Buch vorgenommen, den EuGH und seinen Einfluss in der EU und in der Schweiz den Schweizerinnen und Schweizern vorzustellen. Das tut er – auch für juristische Laien verständlich – in vier Kapiteln. Im ersten Kapitel wirft er einen Blick auf die institutionellen Eigenheiten des Gerichtshofs der EU sowie die wichtigsten Klagen und Verfahren. Er lässt dabei die zentrale Rolle des EuGH bei der Entwicklung des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts anhand wegweisender Urteile Revue passieren. Und er überprüft den Vorwurf, der EuGH betreibe mitunter juristischen Aktivismus, auf seine Stichhaltigkeit. Schliesslich würdigt er das grossenteils fruchtbare, zeitweise aber auch spannungsgeladene Zusammenspiel zwischen EuGH und den mitgliedstaatlichen Gerichten.

Nicht systematisch gegen die Schweiz

Im zweiten Kapitel geht Oesch auf die prominente Rolle des EuGH bei der Durchsetzung völkerrechtlich verbriefter Rechte von Menschen und Unternehmen aus Drittstaaten in der EU ein. Das zeige sich anschaulich bei der Gewährung von Rechtsschutz nach Massgabe der bilateralen Abkommen mit der Schweiz, wo der EuGH bei Klagen gegen die Mitgliedstaaten das letzte Wort hat. Oesch rekapituliert die Praxis des EuGH zur Auslegung dieser Abkommen. Der EuGH entscheide dabei «ohne Rücksicht auf die Herkunft der Parteien», hält Oesch fest. Er gehe sachlich und unparteiisch vor, ohne Rücksicht auf Partikularinteressen. «Er urteilt nicht systematisch zum Nachteil der Schweiz bzw. beschwerdeführender Personen und Unternehmen.»

Schliesslich verweist Oesch in diesem Kapitel auf die Möglichkeit der Schweiz, im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren, in denen es um die Auslegung von EU-Recht geht, das etwa aufgrund des Schengen-/Dublin-Assoziierungsabkommens auch für die Schweiz einschlägig ist, Stellungnahmen beim EuGH einzureichen und so zu dessen Entscheidfindung beizutragen.

Im dritten Kapitel zeigt Oesch auf, wie schweizerische Verwaltungsbehörden und Gerichte im Rechtsalltag die meisten bilateralen Abkommen routinemässig im Licht der Präjudizien des EuGH auslegen. Ähnliches gelte auch bei der Auslegung des schweizerischen Rechts, das dem EU-Recht autonom nachgebildet wurde, sowie im Rahmen der Rechtsvergleichung. «Viele der Leiturteile des EuGH, die wir beim Tour d’Horizon im ersten Kapitel streifen, treffen wir bei der Analyse der Praxis der schweizerischen Gerichte wieder an; ein beachtlicher Befund, der wenig bekannt ist!», schreibt Oesch. Die schweizerischen Gerichte würden so unaufgeregt und pragmatisch dazu beitragen, das EU-Recht auch in der Schweiz Fuss fasst – «auf leisen Sohlen, aber mit grossem Abdruck.»

Einbezug des EuGH nützt der Schweiz

Im vierten Kapitel geht es um die aktuelle Debatte, dem EuGH bei der Streitbeilegung zwischen der Schweiz und der EU im Rahmen der bilateralen Abkommen eine prominente Rolle zuzuweisen. Die Schweiz könne dabei «einem Modell, bei dem der EuGH für die Auslegung des EU-Rechts zuständig ist, mit guten Gründen zustimmen», meint Oesch. Denn der EuGH agiere in dieser Konstellation «nicht als verpöntes Gericht der Gegenpartei, sondern als Gericht des EU-Binnenmarkts, an dem die Schweiz sektoriell aus freien Stücken und zu ihrem eigenen Vorteil teilnimmt», präzisiert Oesch. Das EU-Recht, das auf die Schweiz ausgedehnt werde, bleibe wesensmässig EU-Recht, das letztinstanzlich von EuGH nach Massgabe der von ihm entwickelten Auslegungstopoi interpretiert werde. «Dabei deutet nichts darauf hin, dass der EuGH tendenziell ‘gegen die Schweiz’ entscheiden würde», schreibt Oesch. Das wird auch durch den Umstand bestärkt, dass die Entscheide des EuGH für alle EU-Mitgliedstaaten und die EWR-Länder Geltung haben, und die Regierungen sich durch Stellungnahmen an der Entscheidfindung beteiligen. Das Verfahren richtet sich nicht gegen die Schweiz, sondern dient im Einzelnen der Eruierung und Bestimmung des EU Rechts.

Oesch vertritt die Meinung, dass eine solche Vergerichtlichung im Interesse der Schweiz liege. «Die Streitbeilegung zwischen der Schweiz und der EU bei der Auslegung und Anwendung der bilateralen Abkommen, mit denen die Schweiz am Binnenmarkt teilnimmt, wird entpolitisiert und einer gerichtlichen Instanz überantwortet. Das spielt der Schweiz als politisch und wirtschaftlich weniger mächtige Vertragspartei in die Hände. Sie wird vor ungerechtfertigten einseitigen Massnahmen der EU geschützt. Sie kann den vereinbarten Marktzugang gerichtlich einfordern und ist nicht mehr allein auf den Goodwill der EU angewiesen.» Voraussetzung dafür sei aber, so schreibt Oesch weiter, dass die Schweiz dieses Verfahren bei Bedarf tatsächlich nutze und ihre traditionelle Zurückhaltung gegenüber der Streitbeilegung durch Gerichte aufgebe.

Oesch hat ein wichtiges Buch zur laufenden Debatte über die Bilateralen III – das neue bilaterale Vertragspaket, über das Bern und Brüssel gegenwärtig verhandeln – geschrieben. Er tut dies sachlich, kenntnisreich und überzeugend argumentierend, in einem flüssigen Schreibstil und in einem gut verdaubaren Umfang – das Buch zählt knapp 200 Seiten. So gelingt es ihm, das vielen unbekannte Wirken des EUGH in Europa und in der Schweiz den Schweizerinnen und Schweizern anschaulich näherzubringen. Das hilft hoffentlich, die hierzulande weitverbreiteten Vorurteile gegenüber dem EuGH – den von der SVP und anderen EU-kritischen Kreisen viel zitierten «fremden Richtern» aus Luxemburg – abzubauen und zu überwinden.

Matthias Oesch: Der EuGH und die Schweiz, unter Mitarbeit von Alexandru Badea. EIZ Publishing, Zürich 2023. 49.90 Fr. (Softcover)/69.90 Fr. (Hardcover).  

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