Europa ruft! von Thomas Cottier
«Die Schweiz ist unsere Heimat. Aber die Heimat der Schweiz ist Europa». Diesen Satz hat uns der eben verstorbene Peter von Matt hinterlassen. Er trifft seit langem zu für die Kultur. Die Schweiz ist Teil des europäischen Kulturraumes. Er trifft auch zu für die wirtschaftlichen Beziehungen. Die Schweiz ist Teil des europäischen Binnenmarkts und verdankt diesem ihren Wohlstand zu einem grossen Teil. Für Staat, Recht und Politik ist der Satz indessen Programm. Er macht uns Hoffnung und ist Ansporn zugleich.
Heimat ist, wo wir leben, lieben, wo unser Mittelpunkt ist; wo wir vertraut sind und uns engagieren. Für Staat und Politik sind dies die Gemeinden, die Kantone und der Bund. Europa gehört nicht dazu. Vielmehr versucht die neutrale Schweiz, mit allen gleichermassen im Geschäft und blockfrei zu bleiben. Sie setzt sich in internationalen Organisationen für ihre Interessen und Werte ein als einsame Spielerin auf dem Parkett. Sie hat keine wirklichen Verbündeten, auch in nicht in Europa. Sie ist einsam. An ihren offiziellen Gebäuden flattern am 9. Mai keine Europafahnen, anders als noch im späten 20. Jahrhundert. Das Engagement für Europa ist verblasst.
Bundesrat und Parlament tragen diese verblasste Politik. Noch immer sind die Bilateralen III nicht unterzeichnet und werden auf die lange Bank geschoben. Eine positive Stellungnahme des Bundesrates bleibt aus, während er gleichzeitig mit Autokraten in Washington und Peking verhandelt, in der Hoffnung, auch in Europa möglichst eigenständig und neutral zu bleiben. Die EU wird von der Wirtschaft als bürokratisches Monster verschrien. Dahinter steckt die Ablehnung von Politiken und Erlassen zur Nachhaltigkeit im Klimawandel und den damit verbundenen Verpflichtungen der Privatwirtschaft. Eine Beteiligung an CBAM (Carbon Border Adjustment) wird abgelehnt, ebenso wie klimapolitische Handlungspflichten im Rahmen der Europäischen Menschenrechtkonvention. In der Unterstützung der Ukraine, also dort wo heute die Freiheit verteidigt wird, steht sie am Schluss der Rangliste. Den Autokraten in Washington verkauft man all dies als Attribute schweizerischer Eigenart.
Diese Grundhaltung war solange möglich, solange die Pax Americana der letzten 80 Jahre trug und auf einer demokratischen, transatlantischen Allianz zwischen den USA und der EU und ihren Mitgliedstaaten basierte. Sie bot der Schweiz eine Plattform, in den internationalen Beziehungen selbständig zu navigieren. Diese Allianz besteht nicht mehr. Die Schweiz muss sich entscheiden und darauf besinnen, dass auch ihre politische Heimat klar in Europa liegt. Sie muss das Vermächtnis von Peter von Matt ernst und an die Hand nehmen.
Vordringlich ist der Handlungsbedarf in der Sicherheitspolitik. Es ist unbestritten, dass sich die Schweiz allein nicht verteidigen kann. Sie kann, mit anderen Worten, den zentralen Verfassungsauftrag nicht mehr im herkömmlichen Alleingang sicherstellen. Ihre Neutralität wird von unseren Nachbarn als Trittbrettfahren (Freeriding) verstanden und hat – im Unterschied zum 19. Jahrhundert – keine Legitimität und Glaubwürdigkeit mehr. Sie hat, mit anderen Worten auch keine tragfähige Schutzfunktion mehr. Die Fiktion der Selbständigkeit führt dazu, dass die Schweiz zunehmend europäisches Recht übernimmt, zu dessen Entstehung sie zumeist keine Mitsprache, geschweige denn Mitbestimmung ausübt. Auch hier kann sie im Alleingang grundlegende Werte der Verfassung demokratischer Willensbildung im Diskurs nicht mehr allein sicherstellen. Die direkte Demokratie ist dagegen kein Bollwerk. Kulturelle und wirtschaftliche Integration in Europa, gepaart mit politischer Abstinenz genügen nicht mehr.
Will die Schweiz ihre Würde, ihre demokratischen und liberalen Werte und damit auch unsere Selbstachtung erhalten, muss sie sich in Europa aktiv einbringen. Dazu gehört kurzfristig ein Engagement in der europäischen Sicherheitsarchitektur, die im heute im Entstehen ist. Dazu gehört ein aktives Engagement in der Europäischen Union, über die Bilateralen III hinaus. Die Frage der Migration kann nur gemeinsam gelöst werden. So wird Europa auch politisch zur Heimat. Mit Jon Pult gilt es, den Patriotismus über die Landesgrenzen hinaus zu tragen und zu erweitern. Er ist nicht ein Vorrecht national-konservativer Kreise, sondern kann und muss ebenso von der fortschrittlichen, offenen, liberalen und sozialen Schweiz beansprucht werden. Sie liebt unser Land ebenso und hängt an ihrer Heimat. Das Rütli gehört uns allen.
Unsere Nachbarn und die EU sind interessiert an einem stärkeren Engagement der Schweiz in der grundlegenden Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Autokratie, welche das europäische Projekt heute mehr als zuvor gefährdet. Sie sind auf die Unterstützung Grossbritannien und aller EFTA-Staaten angewiesen in der Verteidigung der Demokratie. Es gilt heute, den demokratischen Westen in Europa zu stärken. Die Schweiz kann hier mit ihrer Wirtschaft und Finanzmacht, ihrer Rechtstaatlichkeit ihrer Wissenschaft und vor allem ihrer eigenen politischen Kultur des demokratischen Diskurses und des kooperativen Föderalismus wesentlich beitragen. Ihre Politikerinnen und ihre Diplomatie können konstruktive Vorschläge einbringen. In welcher Form dies geschieht, ist zweitrangig. Ob der beste Weg über einen Beitritt zur EU und NATO führt, oder über eine variable Geometrie ist im heutigen Zeitpunkt nicht massgebend. Entscheidend ist der Wille zum Engagement. Die Frage ist in Anlehnung an John F. Kennedy nicht, was Europa für uns tut, sondern was wir Europa tun können.
Politik ist immer bestimmt durch Eigeninteressen. Das gilt auch in Europa, wo Nationalstaaten weiterhin dominieren. Der springende Punkt ist, dass die Interessen der Schweiz, ihrer Nachbarn und der Europäischen Union heute gleichgerichtet sind. Sie basieren auf den gleichen Werten, die es heute in der Welt nach dem Zusammenbruch der Pax Americana zu verteidigen gilt. Europa ist die politische Heimat der Schweiz. Es gilt, beiden zugleich Sorge zu tragen. Hissen wir am 9. Mai die Europafahne. Das ist ein Anfang und eine Hommage an Peter von Matt.
Dieses Paper erschien als Gastbeitrag bei Operation Libero.
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