Aussenpolitik 1994 und 2024: Plus ça change… von Daniel Woker

Die wie jedes Jahr hochinteressante Ausgabe 2025 von DODIS (Diplomatische Dokumente der Schweiz) zum aussenpolitischen Jahr 1994 – nach Freigabe durch das Bundesarchiv nach Ablauf der 30-jährigen Sperre – beginnt mit dem Satz: «Die schweizerische Aussenpolitik muss mit dem Volk rechnen». Was 1994 galt, gilt heute noch, und wie: Plus ça change, plus ça reste la même chose.

 

Entsprechend beginnt die gewichtige Publikation, immerhin eingeleitet durch eine rund 20-seitige konzise Zusammenfassung, mit aussenpolitisch relevanten Abstimmungen im Jahre 1994. Es folgen verschiedene Abschnitte, namentlich zu Migration, Besuchsdiplomatie, Aussenhandel, bilateralen Abkommen (EU!) und international relevanter Medienpolitik. Von speziellem Interesse in den DODIS-Bänden sind jeweils die Protokolle der Beratungen im Bundesrat.

 

Die Vorlage von Bundesrat und Parlament zur Erlaubnis von Auslandeinsätzen schweizerischer Soldaten, hier speziell was friedenserhaltende UNO-Missionen mit Blauhelmsoldaten anbelangt, wurde vom Volk verworfen. Dadurch wurde ein Meilenstein gesetzt, der grundsätzlich unverändert heute noch eine scheinbar unüberwindliche Schranke zum Einsatz der Schweizer Armee jenseits Landesgrenzen aufgerichtet hat. Kleinere Ausnahmen wie namentlich KFOR, die Friedensmission im Kosovo, bilden die Ausnahme, weil da schweizerische Interessen überwiegen – die grosse Anzahl von Migranten in der Schweiz aus dem ehemaligen Unruhegebiet und dem heutigen Staat Kosovo. Der Blauhelmentscheid erscheint als zeitgenössische Ausprägung des historisch bedingten «Mischet Euch nicht in fremde Händel». Das liest sich im Protokoll der damaligen Bundesratssitzungen so: Es bestehe ein zunehmendes Misstrauen der Bevölkerung gegenüber aussenpolitischen Vorlagen, Christoph Blocher finde mit seinem nationalkonservativen Kurs vermehrt Zustimmung und schliesslich ein erstaunlicher – oder von ihm wohl doch nicht überraschender – Kommentar von Dölf Ogi, offensichtlich auch gegen die eigene Partei gerichtet, dass Rechtsparteien an Boden gewinnen würden.

Die Annahme der Alpeninitiative mit Restriktionen bei der europaweiten Alpenüberquerung schien für einen Moment das nach dem EWR-Nein von 1992 sorgfältig wieder aufgebaute Verhältnis der Schweiz zur EU in Gefahr zu bringen, was dann allerdings via gesetzliche Umsetzung der Initiative kein Thema mehr war. Dass nicht nur Naturfreunde der Initiative zustimmten, sondern eine unheilige Allianz von linken und rechten Nationalisten war ebenfalls ein Thema.

 

Stich gegen Blocher

Von der nationalistischen Rechten, so den Schweizer Demokraten und der damals von Blocher präsidierten AUNS (Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz; heute Pro Schweiz) heftig bekämpft wurde der Beitritt der Schweiz zur UNO-Antirassismuskonvention, welcher aber auch dank einem engagierten Votum von Bundesrat Stich in einer SRF-Arena vom Volk angenommen wurde. So wie er sich 1992 für den ebenfalls erfolgreichen Beitritt der Schweiz zu den Bretton-Woods-Institutionen (Weltbank und Währungsfonds) ins Zeug gelegt hatte. Eine Lehre, die heute mehr denn je gilt. Ohne beherzten Einsatz der Regierung sind aussenpolitische Abstimmungen nur schwer zu gewinnen. Darum heute auch die in den grossen Medien der Schweiz aufgeworfene Frage, ob der aktuelle Aussenminister Ignazio Cassis der richtige Mann für die anstehende Aufgabe der Verteidigung der Bilateralen III sei.

 

Migration und EU

Diese zwei Dauerbrenner helvetischer Politik waren schon 1994 aktuell. Zwei rechtsnationalistische Initiativen zur Begrenzung der Zuwanderung, eine von der SVP und eine von den Schweizer Demokraten, wurden im Bundesrat ausgiebig und generell negativ beraten. Letztere wurde gar dem Parlament zur Ungültigerklärung weitergeleitet, was 1996 denn auch ausserordentlicherweise geschah. Auslöser solcher Initiativen waren insbesondere Kosovaren, die aus ihrem damals noch einen Teil von Serbien bildenden Land vertrieben wurden.

In den Beziehungen zur EU, durch das schweizerische Nein zum EWR 1992 nachhaltig zerrüttet, fanden 1994 die ersten behutsamen Schritte statt, die 1999 zu den Bilateralen I führen sollten. Auf der Basis einer Umfrage des EDA wurde – schon damals – eine schleichende Aushöhlung des bilateralen Verhältnisses zu Partnerländern, insbesondere Deutschland, beklagt. Was letztlich allein, so EDA-Staatssekretär Jakob Kellenberger im Fazit der Umfrage, durch einen Beitritt zur EU korrigiert werden könne. Im selben Jahr wurde Kellenberger vom Bundesrat mit der Verhandlungsführung gegenüber der EU betraut.

 

Auslandsreisen, Aussenhandel und ein Gipfel

Nicht weniger als drei schweizerische Minister reisten 1994 nach Russland, wo damals eine freiheitliche Aufbruchstimmung herrschte. Aussenminister Flavio Cotti und Wirtschaftsminister Jean-Pascal Delamuraz kamen mit positivem Fazit zurück, Justizminister Arnold Koller musste dagegen in Moskau dornige Fragen zu Umtrieben der russischen Mafia in der Schweiz aufnehmen. Bemerkenswert der Bericht von Bundesrat Delamuraz über Reisen nach Indonesien und Vietnam, gemeinsam mit Vertretern der schweizerischen Wirtschaft, wo er schon damals die heute sprichwörtliche Dynamik und das Zukunftspotenzial des Fernen Ostens hautnah erlebte und von dessen Zukunftspotenzial für die schweizerische Wirtschaft schwärmte.

In der umgekehrten Richtung wurde zum usanzgemäss einzigen Staatsbesuch pro Jahr in der Schweiz Lech Walesa, Präsident von Polen, empfangen; eine Premiere für einen Gast aus Mitteleuropa

1994 war das Jahr des Übergangs vom GATT (General Agreement on Tariffs and Trade) zur Welthandelsorganisation WTO (World Trade Organization); die energische deutsche Kandidatur von Bonn als Sitz dieser neuen Organisation rief in Bern Besorgnis hervor. Grosszügige Bauvorhaben in der Rhonestadt und die internationale Reputation von Genf triumphierten aber über die nach dem Umzug nach Berlin wieder beschauliche ehemalige Hauptstadt der Bundesrepublik.

 

Das internationale Genf war 1994 auch Ort eines Gipfeltreffens zwischen dem Präsidenten der USA, damals Bill Clinton, und Hafiz al Assad, dem Vater im syrischen Diktatorenduo. Clintons Grussworte an die Schweiz enthielten, nach der üblichen Einleitung zur schweizerischen Neutralität, ausdrückliches Lob für internationales Ausgreifen der Schweiz sowohl beim Einbinden der zentralasiatischen Stan-Staaten in die Bretton Woods Organisationen als auch   für ihre Hilfe an Palästinenser.

 

Medien und ein erster Schuldenbremser

Was heute von den Abbauern der SRG/SSR (Halbierungsinitiative und 10-Prozent-Kürzung durch SVP-Medienminister Albert Rösti) versucht wird, fand schon 1994 einen Vorläufer, indem die Bewilligung für ein Schweiz-Fenster des privaten deutschen Senders RTL im Bundesrat nur dank einem «Stichentscheid durch Stich» keine Gnade fand.

Finanzminister und Bundespräsident Otto Stich, im Bild bereits auf dem Einband zum DODIS-Band 1994 anlässlich der erwähnten Arena-Sendung zur Anti-Rassismusskonvention, wird auch die Ehre des Schlussbildes zuteil. Dies in Form der Entgegennahme eines riesengrossen Sparschweins, habe er doch, so weiss DODIS zu berichten, bei praktisch jeder Bundesratssitzung vor Ausgaben in den Vorlagen seiner Kollegin (Ruth Dreifuss) und seiner fünf Kollegen (Flavio Cotti, Jean-Pascal Delamuraz, Arnold Koller, Adolf Ogi und Kaspar Villiger) gewarnt.

 

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Soutenons l’accord négocié entre la Suisse et l’UE par Maurice Wagner

Les négociations entre la Suisse et l’UE sur les Bilatérales III sont terminées. Les résultats les plus importants, esquissés ci-dessous, montrent, que la Suisse a obtenu un bon accord. Être patriote, c’est soutenir ce nouvel accord, car il consolide la position de la Suisse vis-à-vis de l’UE.

La tradition d’ouverture de la Suisse a largement contribué à sa prospérité. Aujourd’hui, un enjeu majeur pour le pays est de préserver et de renforcer cette prospérité. Un pilier central de la stratégie de la Suisse doit résider dans le maintien de son ouverture vers les pays de l’Union européenne (UE), avec lesquels elle partage tant de valeurs, et dans le développement de ses relations avec l’UE, son principal partenaire économique. Bien que des puissances émergentes telles que la Chine, l’Inde, l’Indonésie ou encore le MERCOSUR méritent une attention particulière, elles ne sauraient remplacer l’importance stratégique de l’UE.

 

  1. L’accord négocié en 2024 entre la Suisse et l’UE

Bien que la teneur exacte de l’accord ne soit pas encore connue, des résumés des résultats des négociations entre Berne et Bruxelles, publiés par le Conseil fédéral, en esquissent les grandes lignes.

Il est important de souligner que l’adhésion de la Suisse à l’UE n’est pas envisagée, contrairement à ce que certains opposants aux négociations actuelles laissent entendre. Par conséquent, les critiques visant l’UE et sa prétendue bureaucratie excessive sont hors de propos.

 

  1. Règlement des différends – La question du juge étranger

En cas de litige non résolu entre la Suisse et l’UE, un tribunal arbitral, comprenant un juge suisse, pourra être saisi. C’est ce tribunal qui prendra la décision réglant le différend.

Contrairement aux affirmations des opposants, la Cour de justice de l’UE (CJUE) ne disposera d’aucun pouvoir décisionnel. Elle pourra uniquement émettre un avis juridique sur une question de droit européen, à la demande du tribunal arbitral.

Le mécanisme du tribunal arbitral, dans lequel siégera un juge suisse, représente une amélioration pour la Suisse.

 

  1. « Alignement dynamique » de la Suisse au droit de l’UE relatif au marché intérieur

Les résultats des négociations prévoient un alignement dynamique de la Suisse aux évolutions du droit européen dans les domaines du marché intérieur auxquels elle participe. Il n’est en revanche pas question de reprise automatique. L’application du droit européen en dehors des domaines pertinents pour la Suisse n’est pas non plus envisagée.

Certains milieux politiques suisses critiquent cet alignement, mais ils n’expliquent pas en quoi la législation du marché intérieur de l’UE, adoptée par les 27 États membres, pourrait être favorable à ceux-ci mais nuirait aux intérêts suisses.

L’alignement visé par les résultats des négociations respecte les procédures suisses (débats parlementaires, adoption par les Chambres fédérales, référendum), ce qui confirme son caractère non automatique et constitue une avancée par rapport à la situation actuelle.

Si la Suisse refusait sans raison acceptable d’adopter un texte européen pertinent, le tribunal arbitral pourrait exiger une compensation proportionnée. Le fait que l’on évoque une compensation « proportionnée » est un progrès, car la Suisse ne dispose actuellement d’aucun moyen pour garantir des mesures proportionnées en cas de litige.

 

  1. Clause de sauvegarde sur la libre circulation des personnes (LCP) et l’immigration

 

L’accord sur la libre circulation des personnes de 1999 (ALCP) comprend une clause de sauvegarde (article 14, alinéa 2), activée une seule fois par la Suisse, pour les ressortissants de Croatie (2023-2024).

Ceux qui demandent un durcissement de cette clause par l’introduction par exemple de contingents ne précisent pas quel problème concret ils cherchent à résoudre. Le fait est que la majorité des citoyens de l’UE résidant en Suisse ont un emploi, preuve de leur utilité pour l’économie suisse. Limiter leur nombre reviendrait à fragiliser les conditions-cadres qui font la force de la Suisse.

Que se passerait-il si des pays voisins, comme la France, l’Allemagne ou l’Italie, empêchaient leurs citoyens de travailler en Suisse ? Des secteurs clés comme la santé et l’hôtellerie-restauration en souffriraient gravement.

Concernant les travailleurs non européens, des contingents existent déjà, engendrant une bureaucratie importante. Comment les opposants au nouvel accord peuvent-ils réclamer à la fois une réduction de la bureaucratie et davantage de contingents ?

 

  1. Frais des travailleurs détachés en Suisse

 

Cette problématique rappelle celle des « plombiers polonais », redoutés en France en 2005, mais qui n’ont jamais causé de difficultés d’emploi.

Si les règles actuelles sur le remboursement des frais ne conviennent pas à l’Union syndicale suisse (USS), rien ne l’empêche de négocier des accords avec les employeurs pour garantir le paiement des montants suisses. Cependant, soyons réalistes : la Suisse ne peut pas forcer l’UE à modifier sa législation. Rejeter l’accord négocié pour cette raison serait disproportionné et ne se justifie donc pas.

 

  1. Consultation populaire avant 2028 : Where there is a will, there is a way!

 

Vouloir planifier une consultation populaire en 2028 reflète le manque d’enthousiasme de plusieurs membres du Conseil fédéral. Pour éviter un échec populaire, il devra faire preuve de détermination.

Il est irréaliste d’affirmer qu’un vote en 2026 ou 2027 est impossible. Attendre quatre ans est inacceptable, car, pendant ce temps, des secteurs clés comme la medtech et l’industrie des machines vont continuer à souffrir.

Les conseillers fédéraux Guy Parmelin et Ignazio Cassis pourraient ne plus être en poste en 2028 : une raison de plus pour organiser cette consultation pendant la législature actuelle.

 

  1. Remarques finales
  • La souveraineté suisse est en jeu. Sans les Bilatérales III, la Suisse verra sa souveraineté continuer à s’éroder progressivement. La situation suisse vis-à-vis de l’UE est comparable à celle des glaciers : leur érosion est imperceptible au quotidien, mais une fois disparus, il est trop tard pour agir.
  • Les Bilatérales III permettront à la Suisse d’accroître son influence au sein de l’UE sans en devenir membre.
  • Les Bilatérales III permettront à la Suisse de ne pas être contrainte, à terme, de quémander son adhésion à l’UE dans une position de faiblesse.

 

Conclusion

Sur la base des résultats des négociations, le futur accord devrait renforcer la position de la Suisse en lui conférant davantage de droits, que ce soit lors de l’élaboration des règles du marché intérieur, lors de leur mise en œuvre ou encore dans le cadre des mécanismes de règlement des différends.

Être patriote, c’est soutenir ce nouvel accord, car il consolide la position de la Suisse tout en favorisant une coopération ouverte avec ses voisins et partenaires. Un échec lors du référendum exposerait la Suisse à des cadres décidés par l’UE sans participation de la Suisse. Ce serait une « soumission librement consentie », ce que la population suisse ne souhaite certainement pas.

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Bilaterale III: Eine wichtige Etappe ist absolviert von Martin Gollmer

Die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU über ein neues bilaterales Vertragspaket sind inhaltlich beendet. Was jetzt folgt, ist der innenpolitische Umsetzungsprozess, der unter Umständen erst 2028 in eine Volksabstimmung münden könnte. Das Vertragspaket ist gross, ebenso dessen Bedeutung für die Schweiz.

Nach neun Monaten und knapp zweihundert Sitzungen der Unterhändler ist ein wichtiges Zwischenziel erreicht: Die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU über ein neues, drittes Vertragspaket – wir nennen es hier die Bilateralen III – sind materiell abgeschlossen. Das Paket umfasst institutionelle, handels-  und wettbewerbsrechtliche Regelungen für einzelne bilaterale Abkommen, Bestimmungen über den Zugang der Schweiz zu EU-Förderprogrammen, insbesondere zu den Forschungs- und Bildungsprogrammen Horizon Europe und Erasmus+, eine Vereinbarung über einen finanziellen Beitrag der Schweiz an die Bestrebungen der EU, die wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten  auf deren Gebiet zu verringern, sowie drei neue bilaterale Abkommen in den Bereichen Strom, Lebensmittelsicherheit und Gesundheit.

Der Umfang und die Bedeutung dieses Pakets für die Schweiz lassen sich mit den folgenden zehn Punkten umreissen:

  1. Die Schweiz kann den seit 25 Jahren erfolgreich begangenen bilateralen Weg mit der EU stabilisieren und weiterentwickeln. Mit der EU, der wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Organisation Europas, ist die Schweiz auf vielfältige und enge Weise verbunden. Insbesondere ist die EU der mit Abstand wichtigste Handelspartner der Schweiz.
  2. Mit den Bilateralen III kann die Schweiz ihren hindernisfreien partiellen Zugang zum EU-Binnenmarkt mit 450 Millionen Konsumentinnen und Konsumenten sichern und ausbauen. Einen vergleichbaren Zugang hat kein anderes EU-Nichtmitgliedsland, selbst das einstige EU-Mitglied Grossbritannien nicht. Der EU-Binnenmarkt ist der grösste grenzüberschreitende Markt der Welt.
  3. Das Vertragspaket beinhaltet auch einen Rechtsrahmen für die Assoziierung der Schweiz an die EU-Förderprogramme für Bildung, Forschung und Innovation. Im Vordergrund stehen die Programme für Forschung «Horizon Europe» und für Bildung «Erasmus+». Die Beteiligung der Schweiz an diesen EU-Programmen tritt mit der Ratifizierung des Gesamtpakets in Kraft. Bis es so weit ist, gilt eine Übergangsregelung, die eine Beteiligung der Schweiz an einzelnen Programmen – etwa an Horizon Europe – schon ab 2025 ermöglicht. Die EU-Förderprogramme gehören weltweit zu den renommiertesten im Bereich der Bildung, Forschung und Innovation.
  4. Die Bilateralen III sehen eine dynamische Übernahme von EU-Recht vor in Bereichen, in denen sich die Schweiz am EU-Binnenmarkt beteiligt (zurzeit: Personenfreizügigkeit, Landverkehr, Luftverkehr, verarbeitete landwirtschaftliche Produkte und Anerkennung von Konformitätsbewertungen; neu auch: Strom und Lebensmittelsicherheit). Dynamisch heisst dabei fortlaufend – im Gegensatz zur gegenwärtigen laufenden Entwertung der bilateralen Verträge durch Stillstand bis mühsam die Übernahme neuen EU-Rechts ausgehandelt ist. Weil so schweizerisches und EU-Recht jederzeit übereinstimmen, schafft das Rechtssicherheit. Dynamisch heisst nicht automatisch: Der ordentliche schweizerische Gesetzgebungsprozess bleibt in Kraft. Bundesrat und Parlament können jederzeit Nein sagen zur Übernahme eines bestimmten EU-Rechtsakts. Auch die direktdemokratischen Rechte des Volks bleiben gewahrt: Ein Referendum gegen einen zu übernehmenden EU-Rechtserlass bleibt jederzeit möglich. Sagt die Schweiz definitiv Nein zur Übernahme eines Rechtsakts der EU, kann diese Ausgleichsmassnahmen ergreifen, um zu verhindern, dass die Schweiz einen Wettbewerbsvorteil erhält. Diese Ausgleichsmassnahmen müssen verhältnismässig sein; ob dies der Fall ist, beurteilt notfalls ein paritätisch zusammengesetztes Schiedsgericht.
  5. Im Rahmen der dynamischen Rechtsübernahme wird das Mitspracherecht der Schweiz bei der Ausarbeitung von EU-Recht, das die Binnenmarktabkommen betrifft, ausgeweitet. Sie kann so erreichen, dass neues EU-Recht in diesen Bereichen schweizerische Eigenheiten berücksichtigt. Das ist ein Souveränitätsgewinn.
  6. Dem Schutz der Schweiz als dem kleineren Vertragspartner dient das neue Streitbeilegungsverfahren. Können die Schweiz und die EU bei Vertragsstreitigkeiten im Gemischten Ausschuss keine Einigung erzielen, kann jede Vertragspartei die Beurteilung des Falls durch ein paritätisch zusammengesetztes Schiedsgericht verlangen. Dieses muss den Europäischen Gerichtshof (EuGH) beiziehen, wenn die Auslegung von EU-Recht strittig ist. Dessen Urteil ist für das Schiedsgericht bindend, aber auch für alle Mitgliedstaaten der EU und des EWR massgebend. Diese beteiligten sich entsprechend am Verfahren vor dem EuGH. Dieses richtet sich somit nicht gegen die Schweiz an sich. Über den Streit zwischen der EU und der Schweiz selbst entscheidet aber zuletzt immer das paritätisch zusammengesetzte Schiedsgericht.
  7. Die Zuwanderung aus der EU bleibt in der Regel an eine Erwerbstätigkeit gebunden. Die umstrittene Unionsbürgerrichtlinie wird dabei von der Schweiz lediglich teilweise übernommen. Ausnahmen und Absicherungen sollen verhindern, dass es insbesondere zu einer unerwünschten Einwanderung in das schweizerische Sozialsystem kommt. Zusätzlich kann die Schweiz im Fall einer übermässigen Zuwanderung aus der EU eine konkretisierte Schutzklausel aktivieren. Dazu gelangt sie wie schon heute zunächst an den Gemischten Ausschuss Schweiz-EU. Ist dort keine Einigung möglich, kann die Schweiz ein paritätisch besetztes Schiedsgericht einberufen. Dieses prüft, ob die Voraussetzungen für Schutzmassnahmen gegeben sind. Bei einem positiven Bescheid kann die Schweiz solche Massnahmen ergreifen. Führen diese zu einem Ungleichgewicht der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien unter dem Personenfreizügigkeitsabkommen, könnte die EU Ausgleichsmassnahmen treffen. Diese müssen aber verhältnismässig sein.
  8. Der Schutz der schweizerischen Löhne bleibt im Rahmen der Bilateralen III weitgehend gewährleistet. Es gilt weiterhin der Grundsatz «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort». EU-Unternehmen müssen demnach bei Entsendungen von Arbeitnehmern in die Schweiz diesen die hiesigen Löhne zahlen. Eine Ausnahme gibt es allerdings: Bei den Spesen soll das Heimatlandprinzip gelten. Das heisst, aus der EU entsandte Arbeitnehmer erhalten Spesen nach den Ansätzen ihres Herkunftslandes und nicht nach den in der Schweiz geltenden Vorgaben. Diese Regelung ist auch in EU-Mitgliedstaaten umstritten und kann künftig vor allem in der Rechtsprechung des EuGH noch Anpassungen erfahren.
  9. Ein Akt der Solidarität ist es, dass die Schweiz sich verpflichtet, einen dem EWR-Vertrag vergleichbaren Beitrag an den Ausgleich wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheiten in der EU zu leisten. Dieser sogenannte Kohäsionsbeitrag beträgt ab 2030 und vorerst bis 2036 350 Millionen Franken pro Jahr. Zurzeit zahlt die Schweiz einen Beitrag in der Höhe von 130 Millionen Franken jährlich. Der Schweizer Kohäsionsbeitrag fliesst nicht ins EU-Budget, sondern wird wie heute direkt in den unterstützten EU-Staaten für gemeinsam vereinbarte Projekte eingesetzt.
  10. Von den drei neuen Abkommen, die die Bilateralen III vorsehen, ist vor allem dasjenige über Strom von grosser Bedeutung für die Schweiz. Diese gilt als Stromdrehscheibe Europas und ist mit über 40 grenzüberschreitenden Stromleitungen eng mit dem Stromnetz ihrer Nachbarländer verbunden. Das Stromabkommen sieht nun vor, dass hiesige Akteure gleichberechtigt und hindernisfrei am europäischen Strombinnenmarkt teilnehmen können sowie an EU-Handelsplattformen, Agenturen und Gremien, die für den Stromhandel, die Netzstabilität, die Versorgungssicherheit und die Krisenvorsorge wichtig sind. Gleichzeitig soll der Schweizer Strommarkt geöffnet werden. Endverbraucherinnen und -verbraucher können mit dem Stromabkommen den Stromlieferanten in Zukunft frei wählen. Haushalt und Unternehmen unter einer gewissen Verbrauchsschwelle haben dabei die Wahl, weiterhin in der Grundversorgung mit reguliert Priesen zu bleiben oder (unter Berücksichtigung von Fristen und allfälligen Wechselgebühren) in diese zurückzukehren. Schweizer Stromversorger und Verteilnetzbetreiber können in der öffentlichen Hand und in der öffentlichen Verwaltung integriert bleiben.

Mit dem materiellen Abschluss der Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU ist aber erst ein erster, wenn auch wichtiger Schritt auf dem Weg zur Inkraftsetzung der Bilateralen III getan. Was jetzt folgt ist die juristische Bereinigung und Finalisierung des Abkommens. Daran schliesst dann die Paraphierung des finalen Textes durch die Chefunterhändler an. Das könnte im Frühjahr 2025 der Fall sein.

Gleichzeitig können mit dem materiellen Abschluss der Verhandlungen das schweizerische Gesetzespaket geschnürt und die für die innenpolitische Umsetzung erforderlichen flankierenden Massnahmen getroffen werden. Dann wird der Bundesrat voraussichtlich vor der Sommerpause 2025 die ordentliche Vernehmlassung zum Botschaftsentwurf eröffnen, bevor der Entwurf wahrscheinlich Anfang 2026 dem Parlament unterbreitet wird. Diese wird die Botschaft im gleichen Jahr beraten und verabschieden. Da die Parteien möglicherweise das umstrittene EU-Thema aus den Parlamentswahlen im Jahr 2027 heraushalten wollen, könnte es erst 2028 zu einer Volksabstimmung über die Bilateralen III kommen.

Was die Struktur der Botschaft ans Parlament betrifft, bevorzugt der Bundesrat zurzeit einen Ansatz, der die Abkommen zur Stabilisierung des bilateralen Wegs (Anpassung bestehender Abkommen, staatliche Beihilferegeln, Teilnahme an EU-Programmen und Kohäsionsbeitrag) in einen Bundesbeschluss «Stabilisierung» giesst. Die drei neuen Abkommen zur Weiterentwicklung des bilateralen Wegs würden dann in separaten Bundesbeschlüssen präsentiert. Das könnte heissen, dass es dereinst zu vier getrennten Volksabstimmungen über die Bilateralen III kommt.

Fahrplan wirft Fragen auf    

Der vorgesehene Fahrplan lässt offen, wann der Bundesrat die Verträge unterzeichnen wird und sich damit auch völkerrechtlich verpflichtet, den Erfolg der Verhandlungen innenpolitisch nach Treu und Glauben voranzutreiben.  Wahrscheinlich wird dies nach der erfolgten Vernehmlassung erfolgen, die erneut die Gefahr mit sich bringt, dass das Paket wie bei Rahmenvertrag zerredet wird, unter dem Dauerbeschluss der Fundamentalopposition der SVP und ihren zugewandten Orten. Mit Fug stellt sich die Frage, ob dieses Vorgehen sinnvoll und nötig ist, nachdem alle Beteiligten bereits während den Vorverhandlungen eingehend zu Rate gezogen worden waren.

Die Schweiz ist es der EU schuldig, dass das Paket nun zügig behandelt wird und der Bundesrat seine Führungsaufgabe wahrnimmt. Eine erneute Vernehmlassung ist verfassungsrechtlich nicht erforderlich. Der Bundesrat kann die Bilateralen III nach der rechtlichen Bereinigung und Paraphierung unterzeichnen und in der Folge mit der Botschaft und seinen Vorschlägen für die Anpassung einschlägiger Gesetze dem Parlament überweisen. Dieses hat es dann in der Hand, das Tempo Beratungen in den Kommissionen und den Räten so zu bestimmen, so dass das Geschäft noch in dieser Legislatur abgeschlossen werden kann und die mit Sicherheit zu erwartenden Referenden noch vor den Wahlen im Jahren 2027 durchgeführt werden können. Auch hier besteht die Gefahr weiterer Verzögerungen. Diese riskieren, dass die EU die vorläufige Anwendung von gewissen Programmen erneut zurückzieht und nicht bereit sein wird, weitere Abkommen namentlich im Bereich der Resilienz und der Sicherheitspolitik, z.B. der Rüstungsbeschaffung, mit der Schweiz abzuschliessen. Bei allem Verständnis für die Langsamkeit der direkten Demokratie müssen neu auftauchende Verhandlungsfelder und auch die Interessen der EU an einer zügigeren Inkraftsetzung der Bilateralen III mitbedacht werden.

Putin und Trump: Zeitenwenden für Europa und die Schweiz von Daniel Woker

Die europäische Sicherheitspolitik, bereits durch Russlands nackte Aggression in der Ukraine aufgescheucht, wird sich mit Trump als Präsidenten der bisherigen Schutzmacht USA rasch entwickeln müssen. Auch die Schweiz ist von diesen beiden sicherheitspolitischen Zeitenwenden direkt betroffen

Wladimir Putins Wahnidee als moderner Peter der Grosse das imperialistische Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erneut aufleben zu lassen, muss – unbesehen von Donald Trumps allfälligem Deal mit ihm zur Ukraine – eine deutliche sicherheitspolitische Grenze gesetzt werden. Die Hauptlast davon wird Europa tragen müssen, denn eine Umlagerung amerikanischer Truppenstärke Richtung Fernost wird auf jeden Fall stattfinden. Sollte Trump den amerikanischen Militärpfeiler in Europa zumindest für einige Zeit stehen lassen, wird er sich das teuer bezahlen lassen. Mit viel Geld für europäische Aufrüstung und mit massiven Rüstungskäufen made in the USA. Genau das, also eine noch grössere Abhängigkeit von den USA im Krisenfall wollen die EU und auch Grossbritannien mit zukünftigen Eigenanstrengungen vermeiden. Da die Schweiz bislang wie alle anderen europäischen Länder vom konventionellen und nuklearen amerikanischen Schutzschirm profitierte, ist sie ebenso von diesen Entwicklungen betroffen wie diese.

Die Sicherheits- und insbesondere die Verteidigungspolitik gehören zu den Kernkompetenzen von Nationalstaaten. Dazu gehört auch eine eigene Rüstungsindustrie. Die europäische Vereinheitlichung dieser Bereiche ist entsprechend schwierig; die bisherigen Ansätze dazu sind bis anhin nur teilweise erfolgreich, bieten aber immerhin eine gewisse Basis. Dies gilt in erster Linie für die im Rahmen der Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU geschaffene PESCO (Permanent Structured Cooperation) und im Rüstungsbereich für die Generaldirektion (GD) für Rüstungsindustrie und Weltall.

 

Ein europäischer Verteidigungskommissar

 

Die eben eingesetzte neue EU-Kommission umfasst nun zum ersten Mal einen Verteidigungskommissar. Im Moment würde wohl der Titel Rüstungskommissar seine Aufgabe besser umschreiben, soll er doch erstens mehr länderübergreifende Produktion von Rüstungsgütern fördern und zweitens einen Binnenmarkt für Rüstung schaffen, was die EU-weite Ausschreibung auch von nationalen Projekten bedeutet. Dies wiederum müsste zwangsläufig zu vermehrten gemeinsamen Offerten von Rüstungsfirmen führen. Folgerichtig ist nun die erwähnte GD für Rüstung und Weltall dem neuen Kommissar unterstellt. Zur Finanzierung von gemeinsamen Verteidigungs- und Rüstungsvorhaben wird in Brüssel im Moment ein Verteidigungsfonds von 500 Milliarden Euro diskutiert, der von der Europäischen Investitionsbank verwaltet und durch Anleihen geäufnet würde, welche von den daran teilhabenden Mitgliedstaaten garantiert werden.

Solange die direkte militärische Kooperation der europäischen nationalen Streitkräfte primär über die NATO-Schiene läuft, wird sich diese kaum substanziell in die EU verlagern. Aber mit Trump als amerikanischem Oberkommandierenden kann sich das schnell ändern. Das Prinzip der bestehenden EU-Kampfgruppen – ein bescheidener Anfang, aktuell nicht für die Verteidigung von EU-Gebiet, sondern für Einsätze etwa in Afrika geplant, aber noch nie im Konfliktfall eingesetzt – könnte dann rasch ausgeweitet werden.

 

Grossbritannien zwischen Trump und der EU

 

Grundsätzlich ist Grossbritannien sicherheitspolitisch eng mit den USA verzahnt, von seinen Nuklearwaffen über nuklear angetriebene U-Boote – wo Australien einbezogen werden soll –– bis hin zur sogenannten Five eyes, eine nachrichtendienstliche Zusammenarbeit in der Anglosphere (USA, UK, CND, AUS, NZ). Die Unberechenbarkeit von Trump stellt die enge Kooperation aber in Frage. Bereits vor Amtsantritt sind es seine Nominationen in entscheidende Schaltstellen solcher Zusammenarbeit, die signalisieren, dass er keineswegs geneigt erscheint, die special relationship nahtlos weiterzuführen. In Trumps transactional Aussenpolitik – Aussenpolitik als Nullsummenspiel, wo nur Macht entscheidend ist – zählen als Gegner China, Indien, Russland und die EU. Einzelne europäische Länder sind für ihn von zeremoniellem Wert – eine Einladung ins Schloss Windsor oder an die Wiedereröffnung der Notre Dame – zählen als Machtfaktor aber nur in zweiter Linie.

Das Vereinigte Königreich wird sich also europäisch gegen atlantische Störungen rückversichern müssen. Das erscheint nach dem Brexit nicht einfach, jedenfalls was die Wirtschaftspolitik anbelangt. In der Sicherheitspolitik sieht das indessen etwas anders aus, da London hier bereits als NATO-Mitglied schwergewichtige Beiträge einbringen kann. Allem voran durch seine Marine und Nuklearkapazität, deren Vereinigung mit der französischen force de frappe zu einer europäischen Atommacht im Moment zwar noch utopisch erscheint. Aber auch das kann sich rasch ändern, wenn Washington die Eindämmung russischer Aggression auf Europa abwälzt.

Ein Anfang auf den Einbezug des Vereinigten Königreichs wurde eben gemacht, indem London neu an EU-finanzierten Rüstungsprojekten beteiligt ist, und am erwähnten Europäischen Verteidigungsfonds teilnehmen kann.

 

Und was macht die Schweiz?

 

«Die Schweiz hat ein Budget, aber keine Politik», hat Daniel Binswanger kürzlich die Auswirkungen der unheilvollen eidgenössischen Schuldenbremse zusammengefasst. Selbst der mutmassliche nächste Bundeskanzler Deutschlands, der Konservative Friedrich Merz, hat in Aussicht gestellt, der goldenen Regel aller Schuldenbremsen folgen zu wollen, welche ausserbudgetäre Ausgaben für absolut notwendige Investitionen in die Zukunft erlaubt.

So etwa wie die im eidgenössischen Parlament diskutierte Vorlage, welche einen Fonds für schweizerische Rüstung und Hilfe an die Ukraine vorgesehen hatte, aber von einer Mehrheit von Rotstiftrittern abgelehnt wurde. Man verkennt, dass eine massive Aufrüstung der Verteidigung nie mit dem ordentlichen Budget erfolgte, sondern mittels Wehranleihen oder Sonderabgaben wie die damals ausserkonstitutionelle Wehrsteuer. Mehr Unterstützung der Ukraine wäre eigentlich eine Kernaufgabe der «ältesten Demokratie Europas», aber auch da galoppiert eine sparbesessene Mehrheit in die Gegenrichtung, wie die eben beschlossene Teilverweigerung des Schutzstatus’ S für Ukrainer – verbunden mit der Hoffnung auf weniger Flüchtlinge und damit Ausgaben – zeigt.

Dass mit Blick auf Putins Aggression grundsätzlich mehr Geld in die schweizerischen Streitkräfte fliessen muss, ist kaum bestritten. Nicht ganz unberechtigt wird dabei die Frage gestellt: Für was genau? Russische Panzer am Bodensee auftauchen zu sehen, bleibt eher unwahrscheinlich. Nicht aber, und immer weniger, eine direkte Bedrohung der Schweiz durch russische Aggression via Cyber, Luft und generell hybrider Kriegsführung oder durch Drohnen und Marschflugkörper, die auf kritische Infrastrukturen wie beispielsweise Stauseen eingesetzt werden könnten. Russische Raketen auf das Schaltzentrum der europäischen Elektrizitätsversorgung in der Schweiz sind denkbar, auch generell Präventiv- und Demonstrativschläge gegen österreichische und schweizerische Ziele, da bei einem Angriff auf beide die automatische, gegenseitige Beistandsklausel der NATO nicht greifen würde, und damit ein automatischer casus belli für das übrige Europa nicht gegeben wäre.

Noch wichtiger und realistischer allerdings erscheint es, die schweizerische Armee möglichst NATO- und EU-kompatibel auszustatten und auszubilden, um im Notfall – wo die klassische Neutralität ohnehin wegfallen würde – vorbereitet zu sein. Die schweizerische Luftwaffe, ausgestattet mit NATO-kompatiblem Gerät, trainiert seit langem mit und im Luftraum des NATO-Mitgliedes Schweden. Warum dies nicht auf andere Waffengattungen ausweiten?

 

Rüstungsindustrie nur für die Schweiz ist Unsinn

 

Und weiter muss dringend dafür gesorgt werden, dass die schweizerische Rüstungsindustrie wegen dem trotzigen Festhalten an einem überholten Neutralitätskonzept aus dem 19. Jahrhundert, den Haager Konventionen, ihre internationale Kooperations- und Wettbewerbsfähigkeit nicht noch vollends verliert. In den Plänen von Brüssel für vermehrte europäische Rüstung scheinen Konzerne des Nicht-EU-Mitglieds Norwegen auf, natürlich auch das deutsche Firmenkonglomerat Rheinmetall. Von schweizerischer Beteiligung ist nicht die Rede, obwohl ja wichtige Teile der Ruag in der Rheinmetall aufgegangen sind. Als erstes muss hier in Europa das Verbot der bewilllungsfreien Wiederausfuhr fallen. Kann sich das Parlament nicht bald einigen, kann der Bundesrat dies durch eine Praxisänderung auf der Grundlage des bestehenden Rechts tun. Eine auf die Schweiz beschränkte Rüstungsindustrie ist nicht nur unbezahlbar, sondern verpasst auch die notwendige europäische Kooperation, die jetzt anzieht. Das müssen auch die Pazifisten der SP einsehen.

Ach ja, und schliesslich sind einmal mehr die vermeintlich wackersten Vaterlandsverteidiger, nämlich die SVP, genau in der Gegenrichtung tätig. Mit ihrer sogenannten Neutralitätsinitiative – besser Pro-Putin-Initiative, da vom postulierten Sanktionsverbot die aggressiven Autokraten dieser Welt profitieren würden – wollen sie die schweizerische Aussenpolitik einmauern, würden aber so sicherheitspolitisch unser Land ohne vertraute Kooperationspartner zum Abschuss freigeben. Bei einer Annahme dieser Initiative darf man dann nicht erstaunt sein, wenn die EU und die NATO dereinst im Kriegsfall Teile der Schweiz zur Durchsetzung ihrer Sicherheitspolitik und Strategie präventiv besetzen werden.

 

 

 

Helvetische Zerrbilder der EU von Thomas Cottier

In der Schweiz bestünden Zerrbilder der Europäischen Union, schreibt ASE-Präsident Thomas Cottier im nachfolgenden Essay. Namentlich würden ihr vorgeworfen, sie sei entscheidungsschwach, undemokratisch und ein Bürokratiemonster. Cottier zeigt, dass diese Zerrbilder vor der Wirklichkeit nicht standhalten, auch wenn es durchaus Punkte zur Kritik und Anlass zu Verbesserungen in der EU gebe. Schuld an diesen Zerrbildern seien aber nicht nur Parteipolitik, der Neue Sonderbund und die helvetischen Medien, die mit Vorliebe über Probleme und Schwächen der EU berichten. Mitspielen würden auch, so argumentiert Cottier, eigene unterschwellige Ängste vor einer stärkeren Annäherung an die EU – etwa vor einem Verlust der Souveränität und Identität sowie der direktdemokratisch geprägten politischen Kultur der Schweiz.

Hier geht es zum Essay von Thomas Cottier (PDF)

Calmez-vous: Die Schweiz hat ihre Schutzklausel in den Bilateralen III von Thomas Cottier

Die bilateralen Verträge belassen der Schweiz gesamthaft gesehen einen hinreichenden Spielraum für die Gestaltung und Steuerung der Migration, schreibt ASE-Präsident Thomas Cottier im nachfolgenden Aufsatz zur umstrittenen Frage der Notwendigkeit einer einseitigen Schutzklausel. Mit den Bilateralen III und dem neuen Streitbeilegungsverfahren resultiert im Ergebnis die Möglichkeit, vorübergehend einseitige Massnahmen unter Inkaufnahme von verhältnismässigen Ausgleichsmassnahmen zu treffen. Die Rechtslage unterscheidet sich im praktischen Ergebnis nicht vom EWR-Vertrag.

 

Hier geht es zum Aufsatz von Thomas Cottier (PDF) 

 

 

Skeptisch zur EU, aber klar für die Bilateralen von Martin Gollmer

Das jahre-, ja jahrzehntelange Schlechtreden zeigt Wirkung: Die EU weckt bei vielen Schweizerinnen und Schweizern negative Gefühle. Trotzdem unterstützt eine deutliche Mehrheit des Stimmvolks die laufenden Verhandlungen über die Bilateralen III zwischen der Schweiz und der EU. Das zeigt eine neue Umfrage von gfs.bern in Auftrag der SRG.

«Die EU ist ein ‘bürokratischer Moloch’»: So lautete jüngst der Titel über einem Artikel im Tages-Anzeiger (Ausgabe vom 26.10.24). Was nachher folgte, war aber nicht eine eingehende journalistische Auseinandersetzung mit dem angeblichen bürokratischen Moloch Europäische Union, sondern die Beschreibung der Resultate einer Umfrage von gfs.bern im Auftrag der SRG zur Sicht der Schweizer Stimmberechtigten auf die EU und die bilateralen Verträge mit dieser. Was in der Umfrage viele Schweizerinnen und Schweizer behaupten, wird vom Tages-Anzeiger ungeprüft und unkommentiert nicht als Gefühl und Vorurteil in der Bevölkerung, sondern einfach als Tatsache dargestellt. Dabei beschäftigt die EU weniger Mitarbeiter als der Kanton und die Stadt Zürich zusammen.

So geschieht es immer wieder in den Schweizer Medien: Faktenwidrige Behauptungen, die hauptsächlich EU-feindliche Kreise wie SVP-Vertreter um Einflüsterer Christoph Blocher sowie neuerdings auch ein Klub von Milliardären und Prominenten namens Kompass/Europa um Alfred Gantner und Kurt Aeschbacher aufstellen, werden meist unbesehen übernommen. Ein Faktencheck findet praktisch nie statt.

Das angebliche Brüsseler Beamtenmonster bemühte auch die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) in ihrer Berichterstattung. «Der ‘Bürokratiemoloch’ weckt unterschiedliche Gefühle» hiess der Titel über ihrem Artikel zur Umfrage von gfs.bern (Ausgabe vom 26.10.24). Immerhin macht die Überschrift klar, dass nachher die Resultate einer Meinungsumfrage folgen und nicht ein Text über den Bürokratiemoloch an sich. Und immerhin hat sich die NZZ kürzlich in einem Artikel eingehend mit dem Funktionieren des Brüsseler EU-Apparats auseinandergesetzt («Mit dem Bürokratiemonster leben lernen», NZZ vom 7.10.24).

Man hört die SVP reden

Das jahre-, ja jahrzehntelange EU-Bashing und die schlechte Presse, die die EU in der Schweiz hat, spiegeln sich in der Umfrage von gfs.bern. 49 Prozent der Stimmberichtigten gab an, dass sie «negative» Gefühle gegenüber der Europäischen Union hätten. «Positive» Gefühle machte nur eine Minderheit von 28 Prozent der Befragten geltend.

Negative Gefühle sind dabei gemäss Umfrage mit dem Verlust von nationaler Souveränität, die mit einer Anbindung an die EU einhergehen soll, mit der Bürokratie in der EU und den als undemokratisch empfundenen EU-Entscheidungsprozessen verbunden. Genau das sind Meinungen zur Europäischen Union, wie sie die SVP und ihr nahestehende nationalkonservative Kreise seit langem mantramässig und meist unwidersprochen wiederholen. Und weil viele Schweizerinnen und Schweizer nur wenig Eigenwissen über die EU sowie kaum direkte persönliche Erfahrungen mit der EU und ihren Institutionen haben, fallen diese Behauptungen von SVP und Co. bei ihnen leicht auf fruchtbaren Boden. Bei Licht besehen widerspiegeln sie die eigene Unsicherheit und Ängste vor dem angeblichen Verlust nationaler Identität und von direkt-demokratischen Mitwirkungsrechten.

Positive Ansichten verweisen dagegen auf die EU als Friedens- und Wohlstandsprojekt, die wirtschaftlichen Vorteile einer Beteiligung an der EU sowie den Vorteilen, die die Einbindung in eine grössere Gemeinschaft mit sich bringt.

Pragmatisches Verhältnis zur EU

Die EU mag bei den Schweizerinnen und Schweizern ein negatives Image haben, aber die bilateralen Verträge mit ihr stufen hohe 80 Prozent als wichtig für die Schweiz ein. Aber nur noch 54 Prozent meinen, diese Verträge brächten der Schweiz Vorteile. Positiv zu Buche schlagen dabei vor allem der hindernisfreie Zugang zu einem Teil des EU-Binnenmarkts, dem klar wichtigsten Exportmarkt für die Schweizer Wirtschaft, sowie die Möglichkeit, den Fachkräftemangel in der Schweiz zu lindern. Als negativ bezeichnet wird dagegen die verstärkte Zuwanderung in die Schweiz, die für Lohndruck sorge, die Miet- und Immobilienpreise steigen lasse sowie die Sozialwerke belaste.

Und obwohl die SVP und Kompass/Europa an den laufenden Gesprächen zwischen Bern und Brüssel über ein neues, drittes bilaterales Vertragspaket, den Bilateralen III, kein gutes Haar lassen, befürworten deutliche 71 Prozent der Stimmberechtigten diese Verhandlungen. Deren Dringlichkeit wird allerdings von den Befragten stark unterschiedlich beurteilt: 54 Prozent bezeichnen sie als dringend, 43 Prozent als nicht dringend. Diese klaren Zustimmungswerte zu den Bilateralen und zu den gegenwärtigen Verhandlungen bestätigen die Ergebnisse früherer Umfragen.

Fazit: Viele Schweizerinnen und Schweizer lieben die EU zwar nicht, aber sie finden diese so wichtig, dass sie geregelte Beziehungen der Schweiz zu ihr grossmehrheitlich gutheissen. In dieser Haltung spiegelt sich damit ein pragmatisches Verhältnis der Schweizerinnen und Schweizer zur EU. Darin zeigt sich aber auch eine starke Unterstützung des bilateralen Weges und damit der anstehenden Bilateralen III.

Die Umfrage von gfs.bern erfolgte zum richtigen Zeitpunkt. Bundesrat und Parlament wird es nicht mehr möglich sein, das demnächst fertig ausgehandelte Paket mit der fadenscheinigen Begründung zurückweisen, dass es vor dem Volk keine Chance habe. Das war schon beim institutionellen Rahmenabkommen auf Grund damaliger Umfragen unrichtig und gilt heute umso mehr.

NATO: Der Kommunikation müssen Taten folgen von Thomas Cottier  

Mit den Auswirkungen von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine und des Beitritts von Finnland und Schweden zur NATO auf die Kommunikation des Nordatlantischen Verteidigungsbündnisses befasste sich in Bern eine Veranstaltung mit der ehemaligen NATO-Mediensprecherin Oana Lungescu. In der Diskussion kam auch die neutralitätsbedingt zurückhaltende Rolle der Schweiz im Ukrainekrieg zur Sprache.

«Communicating in Dangerous Times: NATO from Russia’s Aggression to Welcoming Finland and Sweden»: Unter diesem Titel referierte am 24. Oktober 2024 Oana Lungescu, Mediensprecherin der NATO von 2010-2023 und heute distinguished fellow am Royal United Services Institute London (RUSI). Eingeladen ins World Trade Institute (WTI) in Bern hatten die Tschechische Botschaft in der Schweiz (als hiesige Koordinatorin der NATO-Staaten) und die Vereinigung La Suisse en Europe (ASE). Die Referentin ging in ihren Ausführungen auf drei Punkte ein: den starken Wandel der NATO in den letzten zehn Jahren, den Beitritt von Finnland und Schweden und die Auswirkungen auf die Kommunikation. Die Diskussion befasste sich kritisch mit der Zurückhaltung des Westens und der Haltung und Rolle der Schweiz im Ukrainekrieg.

Bemühte sich die NATO nach dem Zerfall der Sowjetunion ab 1991 um eine Annäherung und Einbindung Russlands, so verhärtete sich das Klima mit der Besetzung der Krim 2014. Die Madrider NATO-Gipfel von 2022 bezeichnete Russland offen als grosse Gefahr und richtete die Allianz von der kollektiven Verteidigung auf die kollektive Abschreckung aus. Heute bestehen acht operative Battle Groups, und mit dem Beitritt Finnlands und Schweden kommt eine neunte Gruppe dazu. Die Militärausgaben steigen schrittweise auf 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP); in Polen als Frontstaat betragen sie heute bereits 4 Prozent. Die Zusammenarbeit mit Australien, Neuseeland, Südkorea und Japan wird verstärkt, als Antwort auf die zunehmende Kooperation zwischen Russland, China, Iran und Nordkorea. 90 Prozent der verbauten elektronischen Komponenten in der russischen Rüstungsindustrie stammen aus China. Im Krieg gegen die Ukraine liefert Iran Dronen. Nordkorea liefert Munition, Kurzstreckenraketen und stellt jüngst 3000 Soldaten als weitere Eskalation zur Verfügung. Russland unterstützt im Gegenzug Irans und Nordkoreas Nuklear- und Raketenprogramme. Die westlichen Demokratien und ihre Öffentlichkeit haben die damit verbundene Gefahr noch zu wenig erkannt. Sie müssen stärker zusammenrücken und in Europa die Zusammenarbeit zwischen EU und NATO weiter stärken.

Was Russlands Krieg gegen die Ukraine bewirkte   

Der Beitritt zur NATO von Finnland am 4. April 2023 und von Schweden am 7. März 2024 und deren Abkehr von der Neutralität war das direkte Ergebnis von Russlands Krieg in der Ukraine. Beide Länder waren aber bereits vorher langfristige und enge Partner der NATO.  Die gemeinsame Grenze der NATO mit Russland wird verdoppelt und die europäische Verteidigung wesentlich gestärkt. Russland hat mit seinem Angriff auf die Ukraine das Gegenteil seiner Absichten erreicht.

Angesichts der hybriden Kriegsführung durch gezielte Desinformation ist für Oana Lungescu eine proaktive und faktenbasierte Kommunikation von zentraler Bedeutung. Man muss auch klar sagen, welchen Frieden man will. Der Kommunikation müssen Taten folgen, sonst verliert sich die Glaubwürdigkeit auch faktengestützter Kommunikation. Der Winter 2024/25 wird nicht nur für die Ukraine, sondern für den Westen entscheidend sein. Es geht um nichts weniger als die Erhaltung einer regelbasierten Ordnung in Europa und der Welt. Ein Zusammenbruch der Ukraine und die damit verbundene Gefährdung der baltischen und auch anderen europäischen Staaten hätte massive Fluchtbewegungen gegen Westen, Finanzmarkt- und Energieversorgungsstörungen zur Folge, welche die demokratische Ordnung zusätzlich gefährden und populistischen Strömungen weiter Auftrieb geben. Das Bewusstsein für diese Gefahren ist in den wohlstandsverwöhnten westlichen Demokratien noch nicht wirklich vorhanden.

Neutralität führt die Schweiz in die Isolation

Die unter Chatham House Rules durchgeführte Diskussion kritisierte die vorsichtige und zurückhaltende Haltung des Westens, welche Russlands Präsident Putin keineswegs zu eigener Zurückhaltung veranlasst. Russland hat ein mit Spanien vergleichbares Bruttosozialprodukt (BSP) und die Ukraine kann und muss so unterstützt werden, dass sie den Konflikt für sich entscheiden kann und das Selbstbestimmungsrecht zum Tragen kommt. Das atomare Säbelrasseln Putins muss als Drohgebärde realistisch eingeordnet werden. Die Diskussion befasste sich sodann mit der Kritik an den schweizerischen Restriktionen zur Wiederausfuhr von Kriegsmaterial, die im Ausland auf Ablehnung stossen. Die schleppende Gesetzesreform wurde mit der rasch abgewickelten Auflösung der Crédit Suisse kontrastiert; es fehle der Schweiz am politischen Willen, der Ukraine wirklich zu helfen.

Einmal mehr zeigte sich in der Diskussion, dass das tradierte Verständnis der Neutralität mit den Grundsätzen der UNO-Charta nicht vereinbar ist und das Land in die Isolation führt. Die Erfahrung von Finnland und Schweden zeigen sodann, dass der Beitritt zu einem Militärbündnis in Krisenzeiten beschleunigt werden kann, aber von langer Hand vorbereitet sein muss. Wenn die Schweiz glaubt, dass sie ein Bündnis erst nach erfolgtem Angriff an die Hand nehmen will, so ist sie klar auf dem Holzweg. Dazu kommt, dass die heutigen hybriden Bedrohungen sich einer klaren Unterscheidung von Krieg und Frieden entziehen.

Als Schweizer und Schweizerin verliess man die Veranstaltung mit dem klammen Gefühl, dass die Gefahren des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine in der Schweiz im öffentlichen Bewusstsein nicht hinreichend angekommen sind. Der Bundesrat und das Parlament verhindern mit ihrer Neutralitätspolitik eine klare Sicht auf die vorhandene Bedrohung für die Demokratie. Eine klarere, realistische und faktenbasierte und proaktive Kommunikation ist erforderlich. Die Hoffnung, als Sonderfall verschont zu bleiben, ist ein gefährlich frommer Wunsch.

Der Vortrag am WTI wurde von rund 50 eingeladenen Personen besucht aus Parlament, Bundesverwaltung und diplomatischen Vertretungen in Bern sowie von Studierenden am WTI und Mitgliedern der ASE.

Die Schweiz droht den Kompass zu verlieren von Markus Mohler

Derzeit werden für drei Volksinitiativen, welche mit bestehenden Regelungen zwischen der Schweiz und der EU zu tun haben, Unterschriften gesammelt: Für die Nachhaltigkeitsinitiative (keine 10-Millionen-Schweiz), für die Grenzschutzinitiative (Asylmissbrauch stoppen), beide lanciert von der SVP, sowie für die Kompass-Initiative, die sich gegen eine Institutionalisierung der Binnenmarktverträge mit der EU wendet; zudem strebt sie das  obligatorische Referendum bei wichtigen völkerrechtlichen Verträgen an. Was wären die Folgen bei einer Annahme dieser Initiativen?

Die Grenzschutzinitiative peilt auf eine Verfassungsänderung, durch welche systematische Grenzkontrollen wieder eingeführt werden sollen. Was dies allein in den Räumen Basel, Bodensee, Genf und Tessin bedeutete, kann man täglich dort beobachten. Mit der Nachhaltigkeitsinitiative soll die Wohnbevölkerung vor dem Jahr 2050 auf unter zehn Millionen Einwohnerinnen und Einwohner mit verschiedenen rechtlichen Massnahmen begrenzt werden.

Beide Initiative berühren damit den freien Personenverkehr. Dieser ist jedoch ein Fundament der EU. Dieses Fundament gilt gleichermassen für die Staaten, welche mit ihr auf unterschiedliche Weise assoziiert sind, wie die Schweiz. Die EU findet «ihren Ausdruck im freien Überschreiten der Binnengrenzen durch alle Angehörigen der Mitgliedstaaten» (Präambel 1 des Schengen-Übereinkommens von 1985). Dem hat die Schweiz mit den Schengen- und Dublin-Assoziierungsabkommen von 26. Oktober 2004 (SAA und DAA) zugestimmt. Von den damals zur Diskussion stehenden insgesamt acht Abkommen unter der Bezeichnung «Bilaterale II» wurde nur gegen «Schengen» und «Dublin» das Referendum ergriffen. Dieses wurde am 5. Juni 2005 mit 54 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt, diese Assoziierungsverträge also explizit angenommen.

Ohne die Aufrechterhaltung des freien Personenverkehrs ist die Assoziation zu «Schengen» und «Dublin» unmöglich. Für den Fall, dass die Schweiz den freien Personenverkehr als Inhalt des EU-Rechts nicht (mehr) akzeptierte, werden die Assoziierungsabkommen automatisch beendet (Art. 4 SAA, Art. 6 DAA).

Was «Schengen» und «Dublin» beinhalten

Beim Schengen-Abkommen geht es zunächst um die polizeiliche und strafrechtliche Zusammenarbeit, einschliesslich Grenzkontrollen. «Dublin» ist eine inzwischen mehrfach revidierte Asylrechtsregelung. Auch wenn die beiden eng miteinander verknüpft sind, darf man diese nicht einfach vermischen. Anders als «Schengen» ist das Asylrecht von verschiedenen Grundrechtsansprüchen unmittelbar geprägt. Dazu gehört etwa das sogenannte Non-Refoulement-Prinzip, nach welchem niemand in ein Land, in dem einer Person Verfolgung, Folter oder Tod drohen (Art. 25 Abs. 2 und 3 der Bundesverfassung, BV), ausgeschafft werden darf. Mit dem Asylrecht verbunden ist auch das Recht auf Familie (Art. 14 BV).

Bei «Schengen» geht es mittlerweile um weit mehr als die polizeiliche und strafrechtliche Zusammenarbeit. Ausgelöst durch den Kampf gegen den Terrorismus wurden zunächst gemeinsame Visums-Regelungen eingeführt (Schengen-Visum, das für alle Schengen-Staaten gilt). Um dieses wirksam durchzusetzen, folgten später das EU- bzw. Schengen-weite System der Ein- und Ausreisekontrolle (Entry-/Exit-System, EES) und dann das Europäische Reiseinformations- und Genehmigungssystem (European Travel Information and Authorisation System, ETIAS). Dieses ETIAS gilt für Personen aus nicht dem Visumszwang unterworfenen Staaten (neu bspw. das Vereinigte Königreich). Auch diesem ist die Schweiz beigetreten.

Ein Kernstück von «Schengen» ist das Schengen-Informationssystem (SIS). Es ist zum einen ein europaweites Fahndungsregister. Gespiesen wird es von allen EU- und Schengen-assoziierten Staaten. Die schweizerischen Behörden rufen das SIS täglich über 100’000mal ab, dies ergibt rund 500’000 automatisierte technische Zugriffe auf die verschiedenen Datenbanken! Im laufenden Jahr führte dies alle zehn Minuten zu einem Treffer. Mit der technischen Interoperabilität der Systeme können die Behörden mit einer einzigen Abfrage über das bereits Bestehende hinaus auch das Ein- und Ausreise- und dann auch das Reiseinformations- und Genehmigungssystem konsultieren. Jegliche Fahndungen oder unerlaubte Aufenthalte werden mit einem Klick sofort evident. Ein Ersatz für das interoperable SIS auf rein nationaler Ebene ist selbstverständlich unmöglich. Das SIS ist auch nicht mit dem Interpol-Fahndungsregister gleichzusetzen, schon allein deshalb, weil sie mit Bezug auf Terrorismusfahndungen nicht übereinstimmen.

Schliesslich ist auch die derzeit gültige Befreiung von Schweizerinnen und Schweizern von der US-amerikanischen Visumspflicht (USA-Visa-Waiver-Programm) mit dem SIS verknüpft: Dieser Visumspflichtverzicht hängt damit zusammen, dass die Schweiz mit dem sogenannten EU-/Schengen-Prüm-Abkommen, speziell auf die Terrorismusbekämpfung ausgerichtet, assoziiert ist. Fiele dieses weg, würde auch die Visumspflichtpflicht durch die USA wieder eingeführt.

Was, wenn die Personenfreizügigkeit wegfiele?

Was bedeutete also die Aufgabe der Personenfreizügigkeit durch die Schweiz? Alle diese für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit unverzichtbaren Informationen entfielen gänzlich. Die Schweiz würde nicht zur zu einem Rückzugsort international gesuchter Delinquenten, sondern auch zu  einer logistischen Basis für kriminelle einschliesslich terroristische Organisationen. Zudem müsste die Schweiz auch mit allen Staaten, die von den EU-Visumsregelungen betroffen sind, wieder eigene Visums-Staatsverträge abschliessen. Wenn diese schweizerischen Visumsregelungen mit jenen der EU nicht vollständig kongruent wären, zwänge dies unsere Nachbarstaaten ebenso, systematische Grenzkontrollen einzuführen, um die Umgehung ihrer Visums- und Einreisegenehmigungsregelungen via Schweiz zu verhindern. Was dies bedeutete, kann man sich leicht ausmalen.

Nicht zu vergessen ist dabei, dass der Wegfall aller Informationen der erwähnten Register wie auch die systematische Grenzkontrolle und die verstärkte Überwachung der grünen und blauen Grenze eine enorme Personalvermehrung beim Bund und in den Kantonen verursachte. Ausser den damit massiv steigenden Kosten für die öffentliche Verwaltung ist auch sehr zu bezweifeln, dass das dafür nötige Personal überhaupt zu finden wäre. Das geltende Schengen-System erlaubt den einzelnen Mitglied- und assoziierten Staaten schon jetzt, in aussergewöhnlichen Lagen vorübergehend Grenzkontrollen einzuführen (Art. 25 f. und 28 ff. des Schengen-Grenzkodex [SR 0.362.380.067]). Derzeit machen zehn EU-Länder davon Gebrauch.

Massive Ausweitung obligatorischer Referenden

Mit der Kompass-Initiative wollen die Initianten alle wichtigen völkerrechtlichen Verträge dem obligatorischen Referendum unterstellen. Nun sind alle Weiterentwicklungen des sogenannten Schengen-Besitzstandes zwischen der Schweiz und der EU je ein völkerrechtlicher Vertrag jedoch unterschiedlicher Tragweite. Seit Februar 2008 bis Ende September 2024 waren es 449 Weiterentwicklungen. Sie werden derzeit in drei Kategorien eingeteilt: Rechtsgrundlagen für neue oder geänderte technische Vorgänge (Datenbanken, Abfragesysteme), verwaltungsrechtliche und materiell-rechtliche Bestimmungen. Von den 449 Weiterentwicklungen gehörten 49 zur dritten Kategorie und wurden  als wichtige Rechtsänderungen dem Parlament zur Genehmigung oder Ablehnung vorgelegt. Nach dem Sinn dieses Initiativbegehrens hätten also mindestens diese 49 dem obligatorischen Referendum unterstellt sein sollen. Da die Übernahme von Weiterentwicklungen an eine Frist von maximal zwei Jahren gebunden ist, könnten für solche Referendumsabstimmungen nicht immer die im Voraus festgelegten Termine taugen, es könnte zusätzliche brauchen. Demgegenüber wurde das Referendum nur drei Mal ergriffen (betreffend biometrische Pässe, Verschärfung der Waffenrechtsetzung und Beteiligung an Frontex); alle Referenden wurden abgelehnt.

Zudem eignen sich die wenigsten dieser sehr komplizierten und komplexen Änderungen der Schengen-Rechtsetzung für eine Diskussion im Rahmen einer Abstimmungskampagne.

Fazit: Die Beendigung der Schengen- und Dublin-Assoziierung bedeutete nicht nur einen enormen Verlust punkto innerer Sicherheit hierzulande und in ganz Europa sowie eine massive Personalaufstockung, die Schweiz würde im Raum der Freiheit der Sicherheit und des Rechts, was die EU seit dem Amsterdamer-Vertrag anstrebt, eine Insel der Unsicherheit. Und diese Insel der Unsicherheit produzierte im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in sehr unsolidarischer Weise viele vermeidbare erhebliche Sicherheitsrisiken. Angesichts der globalen Situation eine unverantwortbare Politik.

Markus H. F. Mohler ist Jurist mit Promotion in Strafrecht. Er war Kommandant der Kantonspolizei Basel-Stadt sowie Dozent für öffentliches, speziell Sicherheits- und Polizeirecht an den Universitäten von Basel und St. Gallen

Mit Homestories gegen Europa von Daniel Woker

Weil Regierung und Parlament zur wichtigsten aussenpolitischen Aufgabe der Schweiz, der Europapolitik, stumm bleiben, haben die EU-Gegner leichtes Spiel. Ehemalige helvetische Grössen unterstützen nun die Kampagne der Bewegung Kompass/Europa gegen die Bilateralen III.

Martin Gollmer hat am 7. Oktober auf dieser Website («Ein David gegen zwei Goliaths») aufgezeigt, was die Anti-EU-Initiative von Kompass/Europa will und wo deren gut finanzierte Kampagne falsch liegt und Unwahrheiten verbreitet. Tatsächlich geht die Kompass-Initiative sowohl an der europäischen Realität wie an den Bedürfnissen der Schweiz vorbei.

So verlangt die Initiative, dass in der Zukunft zahlreiche Staatsverträge sowohl dem Volk wie den Ständen (Kantonen) zur Annahme oder Ablehnung unterbreitet werden müssen (obligatorisches Referendum). Ebendies ist in Form einer Initiative der Aktion für eine unabhängige Schweiz (Auns; heute: Pro Schweiz) im Jahr 2012 von 75 Prozent des Stimmvolks verworfen worden.

Verzerrung zugunsten kleiner Kantone

Die Anti-Europa-Initiative will bei kommenden Abstimmungen zu bilateralen Verträgen mit der EU auch obligatorisch ein Ständemehr verlangen. Dadurch würde die Gesetzgebung massiv zugunsten kleinerer Kantone verzerrt. Es geht nicht an, dass in aussenpolitischen Fragen, welche die kantonale Souveränität nicht tangieren, eine Stimme aus Glarus hundert Mal mehr zählt als eine aus Zürich.

Mit direkter Demokratie hat das nichts zu tun, wohl aber mit der Hoffnung, dass die Landbevölkerung, die tendenziell konservativ abstimmt, eine kommende Europa-Vorlage bodigen könnte. Die Zuger Finanzhaie fürchten nämlich wegen zukünftigen EU-Bestimmungen gegen den Kasinokapitalismus geschäftliche Nachteile.

Zu Besuch bei Kurt Aeschbacher

«Beim Eintreten in die Wohnung kommt mir die Hündin schwanzwedelnd entgegen und bringt mir ihr Stofftier.» So beginnt eine als Interview kaschierte Homestory in einem grossen schweizerischen Zeitungsverbund mit dem Ex-Fernsehmoderator Kurt Aeschbacher. Dieser gibt zahlreiche der faktenfreien «Tatsachen» aus dem Skript der Kompass-Initianten zum Besten. So etwa, dass wir mit den Bilateralen III alle EU-Gesetze «automatisch» übernehmen müssten.

Das stimmt nicht. Jede Übernahme ist letztlich von einem schweizerischen Entscheid abhängig. Dies gesagt, entspricht schon heute eine Mehrheit schweizerischer Gesetze ganz oder grösstenteils europäischer Gesetzgebung, und zwar ganz einfach, weil diese erstens neue Materien vernünftig regeln und zweitens den Zugang zum europäischen Binnenmarkt aufrechterhalten. Der wirtschaftliche Austausch mit der EU war und ist für einen guten Teil des schweizerischen Wohlstandes verantwortlich.

Dass wir angeblich «gut mit bestehenden Abkommen leben können», ist eine weitere Lüge aus der Giftküche der Kompass-Initianten. Einige der bestehenden bilateralen Abkommen mit der EU sind schon abgelaufen, was schweizerischen Exporteuren etwa in der Medizinalbranche unnötige Arbeit und Kosten verursacht. Andere werden in naher Zukunft verfallen. Nichts anderes als dies bildet ja den Hauptgrund für unsere intensiven Verhandlungen mit Brüssel.

Die Mär vom EU-Monster

Wenn ihnen andere Argumente ausgehen, machen die Kompass-Initianten auch etwa geltend, die EU sei ein «bürokratisches Monster».

Fakt ist: Die EU beschäftigt insgesamt 60’000 Personen weltweit. Die schweizerische Bundesverwaltung und der Kanton Zürich zusammen kommen auf rund 80’000 Personen. Genauso wie unsere Staatsangestellten für eine Vielzahl von öffentlichen Aufgaben arbeiten, sind die EU-Beamten zuständig für das reibungslose Funktionieren des erwähnten Binnenmarktes, ebenso etwa für die weltweit fortschrittlichsten Richtlinien für Klimapolitik oder auch den Schutz der EU-Aussengrenzen.

Geradezu rührend sind Aeschbachers Erzählungen, wie er seinen staunenden Nachbarn in Frankreich die Vorteile unserer halbdirekten Demokratie vor Augen führt. Nun lässt sich das von seiner Geschichte und Geographie, aber auch von weitgehender staatlicher Dienstleistung für seine Bürger geprägte politische System Frankreichs nicht mit jenem der Eidgenossenschaft vergleichen. Beide Systeme haben ihre Vor- und Nachteile. Wo beispielsweise eine schweizerische Mittelklassefamilie allein für ihre Gesundheitsversorgung (ohne Zahnarzt) einen erheblichen Teil ihres Einkommens ausgeben muss, erhalten Franzosen gleichwertige medizinische Dienstleistungen für einen kleinen Bruchteil dieser Summen.

Angewiesen auf Solidarität und Schutz der EU

Was stört an Aeschbachers Ausführungen, ist ihr aus dem Anti-EU-Skript von Kompass/Europa übernommenes Dogma, wir seien politisch und strukturell nicht mit der EU kompatibel. Das ist Unsinn. Politisch bleibt die halbdirekte schweizerische Demokratie in jeder Form der Zusammenarbeit bis und mit einem Beitritt zur EU unangefochten. Das gilt ebenso für die föderalistische Struktur der Schweiz.

Die EU ist ein Zusammenschluss von politisch und strukturell sehr verschiedenen Ländern, die aber überzeugt sind, dass Europa auf globaler Ebene nur gemeinsam bestehen kann. In Anbetracht des Gewichts gegenwärtiger und zukünftiger Grossmächte kann nur ein gemeinsames Europa seinen Bürgern und Bürgerinnen Schutz und nachhaltiges Wachstum bieten. Dabei konstruktiv mitzumachen, sollte für die kerneuropäische Schweiz sowohl Aufgabe als auch Ehre sein.