Bundesrat Beat Jans

Bilaterale III: Sommerlicher Sturm im Wasserglas von Martin Gollmer

Justizminister Beat Jans und Altbundesrat Ueli Maurer vertreten in der NZZ unterschiedliche Meinungen zu den Bilateralen III. Die Journalisten freuts. Sie greifen die Kontroverse zwischen den beiden Politgrössen angesichts des Sommerlochs in Bundesbern noch so gerne auf.

 

Scheinbar Unerhörtes ist geschehen in der schweizerischen Europapolitik: Ein Mitglied der Landesregierung, nämlich Bundesrat Beat Jans (SP), hat in einem Gastkommentar in der «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ; 23. Juli 2024) eine Lanze gebrochen für das neue bilaterale Vertragspaket, über das Bern und Brüssel gegenwärtig verhandeln. «Warum wir die Bilateralen III brauchen», heisst der Titel des bundesrätlichen Meinungsartikels. Darin stellt Jans allerlei «falsche Behauptungen» richtig, die in den Medien und in der weiteren Öffentlichkeit kursieren – etwa zur Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in der Streitbeilegung, in der dynamischen Rechtsübernahme und in der Zuwanderung.

Jans’ Ausführungen gipfelten in der Aussage, dass man in einer vernetzten und komplizierten Welt die Souveränität stärke, wenn man die Beziehungen zu wichtigen Partnern kläre, verstetige und verbessere. Das gelte ganz besonders für ein kleines Land wie die Schweiz. «Wir bleiben (beziehungsweise werden) souveräner – also handlungsfähiger –, wenn wir unsere Beziehungen mit dem grossen Nachbarn regeln.»

 

«Sämtliche Alarmglocken läuten»

 

Das rief Alt-Bundesrat Ueli Maurer (SVP) mit einer Replik unter dem Titel «Berns EU-Kurs muss gestoppt werden» auf den Plan. Jans’ Meinungsbeitrag lasse «sämtliche Alarmglocken läuten», schrieb er ebenfalls in der NZZ (26. Juli 2024). Der Bundesrat sei nämlich in den laufenden Verhandlungen mit der EU-Kommission drauf und dran, die im Jahr 2021 im geplatzten institutionellen Rahmenabkommen bestrittenen Forderungen der Europäischen Union zu übernehmen. «Jetzt scheint der Wind zu kehren», vermutet Maurer.

Als «schon fast eine bösartige Verzerrung der Fakten» bezeichnet Maurer Jans’ Aussage, mit den Bilateralen III werde die helvetische Souveränität gestärkt. «Wie soll die Souveränität, die Selbstbestimmung der Schweizerinnen und Schweizer, gestärkt werden, wenn Entscheidungen statt bei uns in Brüssel gefällt werden?», fragte der pensionierte SVP-Magistrat provokativ.

Maurer stiess sich in seiner Replik auch daran, dass Jans in seinem Meinungsbeitrag das Wort «Bilaterale III» im Titel verwendete. «Offensichtlich bemüht der Justizminister einen positiv besetzten Begriff, um dem ungeliebten Vertragspaket Akzeptanz zu verschaffen», mutmasste Maurer.

 

«Gut eidgenössischer Zoff»

 

Ein Teil der Medien nahm angesichts des politischen Sommerlochs in Bern die Kontroverse zwischen Jans und Maurer dankbar auf. «EU-Frage sorgt für gut eidgenössischen Zoff», titelte etwa der «Blick» (27. Juli 2024). «Es ist verhandlungstaktisch höchst ungeschickt, wenn Beat Jans als nicht dossierzuständiger Vertreter der Landesregierung der Gegenseite noch vor Verhandlungsabschluss und Positionsbezug des Gesamtbundesrats signalisiert, dass die Schweiz quasi jedes Resultat brauche und folglich akzeptieren würde», zitiert die Boulevardzeitung in ihrem Artikel FDP-Präsident Thierry Burkart.

Aber auch Maurer kriegt sein Fett weg. Burkart ärgert sich im «Blick», dass ein ehemaliger Bundesrat sich in die Diskussion einmischt und einem aktiven Bundesrat öffentlich widerspricht. Beide, Jans und Maurer, würden reine Parteipolitik machen und hätten «ihre Rolle als Bundesrat und als ehemaliger Bundesrat offenbar noch nicht gefunden», meint Burkart. Sie würden «nicht magistral» agieren.

Der «Blick» lässt auch Mitte-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter zu Wort kommen. Sie glaubt nicht, dass der öffentliche Positionsbezug von Jans den Verhandlungen schadet. Dieser widerspiegle nur den Stand der Dinge, wie er nach dem Ende der Sondierungsgespräche zwischen Bern und Brüssel im sogenannten Common Understanding festgehalten worden sei. «Es ist wichtig, dass wir schon jetzt eine breite Debatte zu diesem Thema führen, nicht erst, wenn das Abkommen ins Parlament kommt», urteilt Schneider-Schneiter. Angesichts der Negativkampagne der SVP und weiteren nationalkonservativen Kreisen sei es «notwendig, dass auch gewichtige Befürworter sich zu Wort melden».

 

Warum Jans und nicht Cassis?

 

Die rechtsliberale Elitezeitung NZZ liess es nicht bei den Gastkommentaren von Jans und Maurer bewenden. Sie zog mit einem Artikel mit dem Untertitel «Der Altbundesrat greift den Justizminister wegen dessen Aussagen zur Europapolitik frontal an» nach (27. Juli 2024). Darin resümiert sie nochmals die Positionen der beiden Politiker. Und sie schreibt, hinter dem öffentlich ausgetragenen Krach stecke mehr als das berüchtigte Temperament des ehemaligen SVP-Präsidenten. Denn die Aussagen von Jans seien nicht nur Maurer in den falschen Hals geraten. Auch in anderen EU-kritischen Kreisen würden sie hitzig diskutiert. So habe etwa der Transportunternehmer Hans-Jörg Bertschi von der Vereinigung Autonomiesuisse Jans’ Ausführungen zum EuGH als «Fake News» bezeichnet. Die NZZ erwähnt auch noch die rechte Satirezeitschrift «Nebelspalter», die den Bundesrat zum «Löli des Tages» ernannt hat.

Die NZZ orakelt schliesslich darüber, warum Jans und nicht der dossierzuständige Ignazio Cassis (FDP) das Plädoyer für die Bilateralen III geschrieben hat. Mit diesem und der Bundeskanzlei sei der Text «offenbar abgesprochen» gewesen, meint die NZZ zu wissen. Vielleicht habe der seit Monaten schweigende Aussenminister seinen Kollegen sogar ermuntert den Artikel zu schreiben und dabei den Begriff «Bilaterale III» einzuführen. Cassis habe sich bisher nicht getraut, das zu tun, weil die EU die Bezeichnung nicht gern höre. Cassis bildet zusammen mit Jans sowie dem Wirtschafts- und Forschungsminister Guy Parmelin (SVP) den Europaausschuss des Bundesrats.

 

Wozu all die Aufregung?

 

Die Aufregung über den Meinungsbeitrag von Jans überrascht. Der Justizminister hat nichts anderes getan als für ein geplantes Vertragspaket mit der Europäischen Union einzustehen, das die Landesregierung in ihrer Mehrheit will. Sonst würde sie nicht mit der EU-Kommission darüber verhandeln. Ebenso unverständlich ist das Aufheben über die Kontroverse zwischen Jans und Maurer. Dass Verfechter unterschiedlicher Standpunkte ihre Meinung öffentlich in den Medien kundtun, gehört zum Wesen der Demokratie. So gesehen haben Jans und Mauerer wohl nur einen sommerlichen Sturm im Wasserglas verursacht.

Dies gesagt, ist es von bleibendem Wert weit über den Sommer hinaus, dass Jans als Bundesrat Leadership im besten Sinn zeigt und dabei all den Zögernden im Lande sachlich die Argumente für die Notwendigkeit der Bilateralen III darlegt. Dass dies als Fake-News bezeichnet und mit Blick auf den 1. August postwendend als Angriff auf die Vorherrschaft der SVP in der Europafrage abgetan wird, belegt das heute tiefe Niveau der schweizerischer Debattenkultur. Ohne sich mit den Argumenten von Jans eingehend auseinanderzusetzen, ohne neue Argumente vorzutragen, geht man entweder zum Zweihänder über oder hält sich gut eidgenössisch bedeckt. Der differenzierte Artikel von Jans ist deshalb ein höchst willkommener Beitrag zur Debatte über die Bilateralen III. Erstmals hat sich damit seit 2021 ein Bundesrat öffentlich für den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen mit der EU eingesetzt und sein Engagement für das angestrebte bilaterale Vertragspaket offengelegt.

Neutralität als helvetische Überheblichkeit von Daniel Woker

Neben den Autoren, die aus der rechten Ecke über die Neutralitätsinitiative von Christoph Blocher schreiben, gibt es auch eine NATO-feindliche, pazifistische Bewegung, die die schweizerische Neutralität als helvetische Mission für Weltfrieden sieht. Sie unterstützt die Initiative von der linken Seite her. Was taugen deren Argumente?

 

Unter der geistigen und finanziellen Führung des SVP-Doyens und -Vordenkers Christoph Blocher will die Vereinigung Pro Schweiz mit der Neutralitätsinitiative eine enge, rigide Form der schweizerischen Neutralität in der Bundesverfassung verankern. Damit soll zweierlei erreicht werden. Erstens soll durch die Festschreibung eines Sanktionsverbots in der Verfassung die schweizerische Aussenpolitik entmündigt und insbesondere das Verhältnis der Schweiz zur EU irreparabel beschädigt werden. Zweitens sollen unter dem Mantel von «Neutralität» im Konfliktfall Geschäfte in alle Himmelsrichtungen erlaubt bleiben, auch mit Aggressoren wie aktuell Russland. Die Neutralitätsinitiative hat deshalb von Gegnern den Namen «Pro-Putin-Initiative» (PPI) verpasst erhalten.

 

Die Argumente für die PPI von linker Seite sind diffuser. Gemäss einem kürzlichen Beitrag des emeritierten Politikprofessors Wolf Linder in der NZZ seien es insbesondere die Glaubwürdigkeit der Schweiz als internationaler Friedensstifter und der völlige Verzicht auf Sanktionen, welche für die Neutralitätsinitiative sprechen würden. Völlig ausgeklammert wird in dieser Argumentation die durch den von Russlands Präsident Wladimir Putin lancierten Angriffskrieg gegen die Ukraine veränderte sicherheitspolitische Lage in Europa. Davon ist auch die Schweiz direkt betroffen. Diese drei Punkte werden im Folgenden einer näheren Betrachtung unterzogen.

 

Glaubwürdigkeit?

 

Die Glaubwürdigkeit der Schweiz weltweit, abgesehen von Tourismus-Clichés, ist eine Funktion unserer Aussen- und Aussenwirtschaftspolitik. Aussenpolitisch zählt, dass die Schweiz in der Rangliste der Unterstützer der Ukraine ganz am Schluss westlicher Länder liegt. Dass die Schweiz wegen ihrer Neutralität angeblich kein Kriegsmaterial – auch nicht indirekt – liefern könne, interessiert niemanden im Ausland. Insbesondere nicht unsere westlichen Partner, die bilateral und im Rahmen der NATO und der EU – bei beiden steht die Schweiz bekanntlich vornehm abseits – grosse Anstrengungen unternehmen, der Ukraine gegen die brutale russische Aggression zu helfen. Freiwillige Beiträge der Schweiz wären hier ebenso möglich wie gewünscht. Das wäre ungleich substanzieller als Gastgeberdienste wie jene für eine sogenannte Friedenskonferenz auf dem Bürgenstock.

 

In der Aussenwirtschaftspolitik will die Schweiz eine Erweiterung des bilateralen Freihandelsabkommens mit China. Dies zu einem Zeitpunkt, wo sich angesichts der aggressiven Politik von Xi Jinping im Innern – Neokolonialismus in Tibet, Xijiang (Uiguren) und der Inneren Mongolei – und gegen aussen alle anderen westlichen Länder von China abwenden. Dies ebenso wie bedeutende Wirtschaftsakteure, darunter auch grosse Finanzinstitutionen. In Afrika erscheint die Schweiz als Sitz von Firmenimperien der Nahrungsmittelindustrie und von Rohstoffhändlern, die sich mehr, erstere, oder weniger, Glencore und andere, um gerechtes, nachhaltiges Wachstum im Herkunftsland ihrer Produkte kümmern.

 

Die Vorstellung, dass im Globalen Süden Konflikte warten würden, um durch schweizerische Neutralität gelöst zu werden, ist anmassend und unrealistisch. Die dreiste Einmischung des ruandischen Präsidenten Paul Kagame im Nachbarland Volksrepublik Kongo figuriert, soweit bekannt, nicht unter helvetischen Friedensmissionen. Schweizerische Politik in Ruanda war bekanntlich in der Vergangenheit alles andere als «neutral». Ebenso wenig kann die Schweiz im aktuellen Ölkonflikt zwischen Guyana und Venezuela vermitteln, bei dem sich der grosse Nachbar Brasilien um eine Beruhigung bemüht.

 

Sanktionsverzicht?

 

Sanktionen stellen einen hohen Grad der Verurteilung eines Aggressors dar, in moralischer, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht. Mögliche zukünftige Beispiele sind ein weiteres Ausgreifen des putinistischen Russlands in Osteuropa. Ebenfalls absehbar sind chinesische Aggressionen, etwa gegen Taiwan oder im Südchinesischen Meer. In solchen Fällen keine Sanktionen anwenden zu können, würde für die Schweiz moralischer Boykott bedeuten sowie politische Isolation und wirtschaftliche Konsequenzen nach sich ziehen. Sich nicht an westlichen Sanktionen zu beteiligen, bedeutet de facto die Unterstützung des Aggressors und wäre alles andere als «neutral».

 

Neutralität und Sicherheit

 

Das Manifest Neutralität 21 (der Schreibende ist einer der sieben Autoren) will den Bundesrat ermutigen, die Neutralität vorrangig als Instrument der Sicherheitspolitik zu handhaben. Heute ist leider unbestritten, dass die schweizerische Armee auf Jahrzehnte hinaus nicht autonom verteidigungsfähig ist. Damit besteht eine Pflicht des Bundesrats, zur Behebung dieses schwerwiegenden Mangels auch eine operative sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit Nachbarländern zu prüfen. Ausser Österreich sind dies alles Mitgliedstaaten des transatlantischen Verteidigungsbündnisses NATO. So wie Schweden, wo seit Jahren die schweizerische Luftwaffe realistische Übungsbedingungen vorfindet. Das Manifest Neutralität 21 will keinen Beitritt zur NATO, aber eine auf Gegenseitigkeit beruhende operative Kooperation.

Das momentan im Kriegsmaterialgesetz festgeschriebene (Wieder-)Ausfuhrverbot an ein in einen bewaffneten Konflikt involviertes Land beruht auf dem auch von Linder in der NZZ propagierten überholten Neutralitätsbegriff der Haager Abkommen von 1907. Dort wird zwischen Aggressor und Opfer kein Unterschied gemacht, was durch das Aggressionsverbot in der UNO-Charta und die dort festgehaltene Pflicht, dem Aggressionsopfer zu helfen und den Aggressor zu isolieren, aufgehoben worden ist.

Ungeachtet davon machen im UNO-Mitgliedsland Schweiz auch der Bundesrat, die konservativen Ecke im Parlament und die pazifistische Linke fälschlicherweise immer wieder die Haager Abkommen geltend. Das darauf basierende Ausfuhrverbot für Kriegsmaterial hat ausser für das Aggressionsopfer – so momentan die Ukraine, zukünftig ein Land in Osteuropa oder in Asien – auch für die Schweiz gravierende sicherheitspolitische Konsequenzen. Westliche Länder sehen davon ab, der Schweiz noch Kriegsmaterial zu verkaufen oder es von uns zu beziehen, da sie befürchten, im Falle einer Aggression verweigere die Schweiz Ausfuhr und Wiederausfuhr. Ohne substanziellen Ex-und Import von Kriegsmaterial kann es keine schweizerische Armee geben.

 

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Die Neutralitäts- oder Pro-Putin-Initiative, vom Bundesrat und dem Parlament dem Stimmvolk bereits zur Ablehnung empfohlen, ist der wohl letzte Versuch von Blocher, mit fast unbegrenzten Finanzmitteln die Schweiz zur isolierten Insel von moralisch gleichgültigen Sonderlingen zu machen. Dass die Initiative auch von linker Seite unterstützt wird, ist bedauerlich.

Das Ständemehr der Bundesverfassung aus individualrechtlicher Sicht von Thomas Cottier

In seinem neuen Artikel hinterfragt Prof. Thomas Cottier die Notwendigkeit eines Ständemehrs für die anstehenden Verträge mit der Europäischen Union (Bilaterale III). Er stützt sich dabei unter anderem auf ein Gutachten des Bundesamts für Justiz und beleuchtet die weitreichenden rechtlichen und politischen Implikationen. Cottier warnt vor einer Ungleichbehandlung der Stimmkraft der Bürgerinnen und Bürger und kritisiert die unklare Haltung des Bundesrats.

Den ganzen Artikel lesen Sie hier.

Schweizer Verteidigungspolitik: Mut zur Kooperation von Leo Hurni

Joachim Adler, Chef Verteidigungspolitik und nationale Koordination im Staatssekretariat für Sicherheitspolitik (SEPOS) des Verteidigungsdepartements (VBS), spricht an der Generalversammlung 2024 der Association La Suisse en Europe (ASE) über die sicherheitspolitische Zusammenarbeit der Schweiz mit der Nato und der EU und überzeugt dabei ein durchaus kritisches Publikum.

 

Die Einstimmung vermittelt Adler mit dem Bild einer Lenkwaffe, die in einem zivilen Gebäude in Mariupol, Ukraine explodiert. «Was Europa bedroht, bedroht die Schweiz in gleichem Masse», sagt Adler dazu. Das sicherheitspolitische Umfeld sei so angespannt wie seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr. Man müsse mit einer Vielzahl verschiedener Akteure umgehen (und nicht wie im Kalten Krieg nur mit zwei), deren Agenda sich nicht einfach einordnen lasse. Auch Russland gehöre da dazu. Putin sei aber nicht per se ein irrationaler Akteur, dafür aber schwer lesbar. Sinnbildlich für die verschlechterte und deutlich komplexere Sicherheitslage stehen für Adler die Konflikte in der Ukraine und im Nahen Osten.

 

Adler scheut sich nicht, schwierige Themen direkt anzusprechen. Was, wenn Russland den Krieg gegen die Ukraine gewinnt? Das ehemalige Zarenreich habe immer wieder gesagt, es wolle seine alte Grösse wiederherstellen. Können wir also so naiv sein und glauben, nach Kiew sei Schluss? Rhetorische Fragen können manchmal Antwort genug sein. Dennoch lässt der Chef Verteidigungspolitik im SEPOS einen gewissen Optimismus durchschimmern. Es sei richtig, dass die Armee nicht erst seit dem Krieg gegen die Ukraine begonnen hat, ihre Verteidigungsfähigkeit zu stärken. Zumindest finanziell soll es der Armee bald besser gehen. Dies zeigten zumindest die Diskussionen im Parlament in den vergangenen Monaten. Der Bundesrat hatte eine Obergrenze für Militärausgaben von 25,8 Milliarden Franken für den Zeitraum 2025 bis 2028 vorgeschlagen. Der Ständerat beschloss daraufhin, diese auf 29,8 Milliarden Franken zu erhöhen.

 

«Rosinenpicken ist möglich»

 

Kooperationen mit anderen Ländern und Bündnissen seien wichtig, doch mit leeren Händen könne man nicht kooperieren, erklärt Adler. Dass die eigene Verteidigungsfähigkeit und die internationale Kooperation sich gegenseitig bedingen und verstärken, ist eine seiner Kernbotschaften. Dementsprechend sei die internationale Kooperation Voraussetzung für sicherheitspolitische Handlungsfreiheit, lautet seine zweite Kernbotschaft.  Doch um kooperieren zu können, müsse sich die Schweiz überlegen, was sie ihren Partnern bieten könne. «Rosinenpicken ist möglich, aber nicht ohne auch eine Gegenleistung zu erbringen» sagt Adler. Die militärische Friedensförderung sei etwa ein Bereich, in dem die Schweiz einen Beitrag leisten könne.

Wichtigster sicherheitspolitischer Kooperationspartner für die Schweiz sei nach wie vor die NATO. Eine Intensivierung der Zusammenarbeit sei durchaus eine Möglichkeit. Dabei sei jedoch eine Teilnahme an Übungen zu Artikel 5 des Nordatlantikvertrags erforderlich, denn praktisch alle Übungen der NATO würden sich damit befassen. Nur in Kenntnis der Planung und Koordination seitens der NATO könne sich die Schweizer Armee ihre eigenen Verteidigungsanstrengungen für den Kriegsfall sachgerecht und wirksam vorbereiten und einüben.

Anders sieht das hingegen die Mehrheit des Nationalrates. Während der Sommersession hat er einer Motion der Sicherheitspolitischen Kommission zugestimmt, die es der Schweiz verbieten will, an NATO-Übungen gemäss Artikel 5 teilzunehmen. Gemäss Adler wird  Artikel 5 des Nordatlantikvertrags immer noch binär ausgelegt. Als Mitglied der NATO helfe man im Kriegsfall den anderen Mitglieder, aber nicht einem nicht-Mitglied. Das sei schlussendlich auch in der Ukraine der Fall, der man nur indirekt beistehe. Die Schweiz würde sich als Partner und nicht als Mitglied bei solchen Übungen beteiligen. Damit räumt er Kritik der Gegnerinnen und Gegner aus dem Weg, die Schweiz sei mit der Teilnahme an solchen Übungen bereits mit halbem Fusse einer Verteidigung der NATO-Partnerländer verpflichtet.

Schwieriger scheint es in der Kooperation mit der EU. Hier sei die Zusammenarbeit mit Drittstaaten noch nicht gleich institutionalisiert, so Adler. Zusammenarbeit sei vor allem in den Projekten der «Permanent Structured Cooperation» (PESCO) möglich, einem Programm der  europäischen gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP). Für eine Kooperation in den Projekten von PESCO müsse die Schweiz zuerst jedes einzelne Projekt evaluieren und sich anschliessend für eine Teilnahme bewerben. Viele der Projekte liessen Drittstaaten nicht zu. Anschliessend gehe die Bewerbung vor den Rat der Europäischen Union, so Adler. Die Verhandlungen mit der EU könnten durchaus einen Einfluss auf die Aufnahme in diesen Projekten haben, vermutet er.

 

Schweiz sitzt zwischen den Stühlen

 

Von aussen gesehen scheinen gemäss Adler die Erwartungen an die Schweiz klar zu sein. Die Ermöglichung der Wiederausfuhr von Schweizer Rüstungsgüter, die Nichtunterzeichnung des Kernwaffenverbotsvertrag (TPNW), Beiträge zur militärischen Friedensförderung und genügend Eigenschutz werden  von den NATO-Mitgliedsstaaten gegenüber der Schweiz erwartet.  Die Grundfrage, wie viel militärische Kooperation für die Schweiz möglich sei, und wie das die Neutralität beeinflusst, bleibe, zumindest innenpolitisch, bestehen. Auf die Frage, wie die von der SVP lancierte Neutralitäts-Initiative die militärische Kooperation der Schweiz mit Partnerstaaten beeinflussen würde, gibt es derzeit seitens des Bundes noch keine klaren Antworten.

Adler macht klar, dass die Schweiz von mehr militärischer Kooperation profitieren würde, diese aber auch nicht gratis bekomme. Damit reiht sich Adlers Vortrag in die Debatten und Themen ein, die auch schon zuvor an der Generalversammlung der ASE diskutiert wurden. Personenfreizügigkeit, Bilaterale, Souveränität, Neutralität. Die Parallelen zwischen den Verhandlungen mit Brüssel und den Verhandlungen mit unseren militärischen Kooperationspartnern sind unverkennbar. So sehr die Schweiz an ihren traditionellen Werten festhält, scheint sie oft zögerlich und unschlüssig, wenn es darum geht, diese Werte den Anforderungen einer modernen Welt anzupassen. In ihrem Bestreben, sich weder zu stark zu binden noch völlig isoliert zu sein, läuft sie Gefahr, zwischen den Stühlen zu sitzen und sich damit selbst ins Abseits zu bewegen.

 

Kündigung der Menschenrechtskonvention: Das wären die Folgen von Markus Mohler

Weil ihnen ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht passt, wollen Teile der SVP die Europäische Menschenrechtskonvention kündigen. Das würde die Mitgliedschaft der Schweiz im Europarat sowie zahlreiche von ihr unterzeichnete Europarats-Konventionen gefährden.

Schon mehrfach, nun aber im Nachgang zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg über die Beschwerde der Klimaseniorinnen vernehmbar lauter, ist die Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) von Parlamentsmitgliedern der SVP erwogen worden. Das plakative Stichwort dazu lautet «keine fremden Richter!».
Offenbar gibt man sich zunächst keinerlei Rechenschaft darüber, welche Konsequenzen dies hätte. Eine Kündigung der EMRK ist gemäss Art. 58 der EMRK möglich. Sie hätte aber wohl den Ausschluss aus dem Europarat oder doch die Suspendierung der Mitgliederrechte zur Folge (Art. 3 der Statuten des Europarates). Solche Erwägungen sind besonders pikant im Moment, in dem sich die Schweiz mit Alt-Bundesrat Alain Berset um den Posten des Generalsekretärs des Europarates bemüht hat. Berset wurde schliesslich trotzdem gewählt.

Was an der Europarats-Mitgliedschaft hängt

Eine Reihe von Konventionen des Europarates zur Erleichterung der internationalen Zusammenarbeit in verschiedenen Rechtsgebeten sind direkt an die Europarats-Mitgliedschaft gebunden, so z.B. das Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus (SR 0.353.3, Art. 11 Ziff. 1), das Europäische Übereinkommen über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (SR 0.312.5, Art. 14) oder das Europäische Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen über das Sorgerecht für Kinder und die Wiederherstellung des Sorgerechts (SR 0.211.230.01, Art. 21) u.a.m.
Weitere Konventionen des Europarates stehen zwar auch Nicht-Mitgliedern des Europarates zur Unterzeichnung offen, jedoch ist die Annahme seitens des Europarates an Bedingungen gebunden. Dabei sind zwei verschiedene Arten zu unterscheiden. Eine mitunter politisch sehr hohe Hürde ist jene, dass die Genehmigung des Beitritts zu einer Konvention eines Nicht-Mitgliedstaates von der Einstimmigkeit aller Europaratsmitglieder, die das jeweilige Abkommen ratifiziert haben, abhängt, so z.B. das Europäische Auslieferungsübereinkommen (SR 0.353.1, Art. 30 Ziff. 1), das Europäische Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen (SR 0.351.1, Art. 28 Ziff. 1), das Übereinkommen des Europarats über einen ganzheitlichen Ansatz für Sicherheit, Schutz und Dienstleistungen bei Fußballspielen und anderen Sportveranstaltungen SR 0.415.31, Art. 18 Abs. 1), das Übereinkommen über Geldwäsche sowie Ermittlung, Beschlagnahme und Einziehung von Erträgen aus Straftaten (SR 0.311.53, Art. 37 Ziff. 1). Anderen Übereinkommen können Nicht-Mitgliedstaaten des Europarates beitreten, sofern sie an deren Ausarbeitung beteiligt waren.

Die Reputation der Schweiz nähme Schaden

Besonders ins Gewicht fällt neben diesen schwerwiegenden vertragsrechtlichen Nachteilen, dass die Reputation der Schweiz als Rechtsstaat und als Hort des Grundrechtschutzes massiv leidet und bei jeder sich bietenden Gelegenheit in Zweifel gezogen werden kann.
Nicht zu übersehen ist, dass die Argumentation mit den fremden Richtern insofern vorgeschoben ist, als die SVP sich dadurch ausgezeichnet hat, Bundesrichter, die nicht entlang einer Parteidoktrin zu entscheiden wagen, mit der Nichtwiederwahl zu drohen (Fall Bundesrichter Donallaz). Das war ein Angriff auf die Unabhängigkeit der Gerichte, auf die Gewaltenteilung. Deutlich wurde diese Unredlichkeit mit dem Bundesgerichtsurteil 145 IV 114 (6B_1314/2016/6B_1318/2016) vom 10. Oktober 2018. Das Bundesgericht hatte zu entscheiden, ob auf den Cayman Islands das schweizerische Bankengesetz anwendbar und gerichtlich von hier aus durchsetzbar sei. Mit mit 3:2 Stimmen hat es entschieden, dass das schweizerische Bankengesetz auf den Cayman Islands, zumal für eine Nichtbank, nicht gelte und somit auch keine Verletzung des Bankkundengeheimnisses vorliege. Die beiden abweichenden Richterstimmen stammten von der Richterin und dem Richter, die der SVP angehören. Sie also traten dafür ein, das auf den Cayman Islands schweizerisches, also fremdes Recht und ebenso fremde, schweizerische Richter massgebend und zuständig sein sollten.

Keine Tricksereien mit der EMRK!

Die EMRK darf nicht für politische Tricksereien missbraucht werden. Ihre Bedeutung ist für die Prinzipien der Rechtstaatlichkeit und der Demokratie, der Freiheit von fundamentaler Bedeutung, der Kern dessen, was als Wertegemeinschaft gegenüber autoritären militärischen und politischen Angriffen geltend gemacht wird. In Erinnerung zu rufen, ist auch das Votum der SVP-Fraktionssprecherin anlässlich der Debatte über die Genehmigung der EMRK am 2. Oktober 1974: «Die Fraktion ist der Auffassung, dass die Menschenrechtskonvention, die aus der Konfrontation der westlichen Demokratien mit dem kommunistischen System entstanden ist, ein wirksameres Mittel darstellt, um dem Gedanken an ein geeintes Europa zu dienen. Als unser Land dem Europarat beitrat, bekundeten wir damit unsere Verbundenheit mit den Werten, die das gemeinsame Erbe der Völker Europas sind» (AB 1974 N 1476 f.).
Ein Urteil des EGMR, das auch mit juristischen Argumenten kritisiert wurde, ist kein Grund deswegen die EMRK abzulehnen. Es käme niemandem in den Sinn, nach einem missliebigen Urteil eines schweizerischen Gerichts, die Gesetzesgrundlagen, auf die sich das Gericht stützte, abzulehnen, selbst wenn deren gerichtliche Interpretation nicht zu überzeugen vermochte.

Coming_soon

Der bilaterale Weg hat seine Grenzen von Martin Gollmer

Vor 25 Jahren, am 21. Juni 1999, unterzeichneten die Schweiz und die EU ein erstes Paket bilateraler Verträge, die sogenannten Bilateralen I. 2004 folgte ein zweites Paket, die Bilateralen II. Gegenwärtig verhandeln Bern und Brüssel über ein weiteres Paket, die Bilateralen III. Mit ihm soll der zwischenzeitlich holperig gewordene bilaterale Weg stabilisiert und weiterentwickelt werden. Aus Anlass des Jubiläums fragen wir: Ist der Bilateralismus mit der EU der Königsweg für die Schweiz oder eine Sackgasse?

Die Schweiz ist mit der EU aufs Engste verbunden: geografisch, wertemässig, kulturell, wirtschaftlich und menschlich. Trotzdem ist die Schweiz nicht Mitglied der EU. Sie regelt ihre Beziehung zu dieser stattdessen mit bilateralen Verträgen. Aktuell sind es über 120. Die wichtigsten sind das Freihandelsabkommen von 1972, das Versicherungsabkommen von 1989, das bilaterale Vertragspaket I von 1999 und das bilaterale Vertragspaket II von 2004.

Die Bilateralen I sichern der Schweiz mittels des Personenfreizügigkeitsabkommens und des Abkommens über die technischen Handelshemmnisse einen hindernisfreien teilweisen Zugang zum EU-Binnenmarkt, dem Herzstück der Europäischen Union. Die Bilateralen II erlauben der Schweiz über das Dublin-Assoziationsabkommen die Teilnahme an der EU-Asyl- und Migrationspolitik. Und über das Schengen-Assoziierungsabkommen ermöglichen sie den Schweizerinnen und Schweizern das Reisen ohne Grenzkontrollen in weiten Teilen Europas.

Die Schweiz profitiert

Diese für einen Nicht-Mitgliedstaat einzigartige, nicht selbstverständliche partielle Integration in die EU und ihren Binnenmarkt nützt der Schweiz enorm. Gemäss einer Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2019 steht sie nämlich unter den EU- und EFTA-Mitgliedstaaten mit 2914 Euro pro Einwohner an Einkommensgewinnen an der Spitze, gefolgt von Luxemburg (2834 Euro) und Irland (1894 Euro). In Deutschland betragen die Einkommensgewinne pro Kopf 1046 Euro, in Österreich 1583 Euro. Diese Ergebnisse zeigen gemäss Studie, «dass kleine, offene Volkswirtschaften mit starker Handelsorientierung und hoher Wettbewerbsfähigkeit vom EU-Binnenmarkt besonders profitieren». Diese Volkswirtschaften liegen zudem meistens nahe dem geografischen Zentrum Europas.

Aufgrund dieser rein wirtschaftlichen Sichtweise entpuppt sich der Bilateralismus mit der EU tatsächlich als Königsweg für die Schweiz: Sie kann von der EU profitieren, ohne ihr beitreten zu müssen. Doch der Bilateralismus stagniert seit Jahren; seit 2004 wurden keine wichtigen neue Abkommen mehr mit der EU abgeschlossen. Als dann die Schweiz 2021 jahrelange, zähe Verhandlungen mit der EU über ein die bilateralen Verträge ergänzendes institutionelles Rahmenabkommen einseitig abbrach, schien der bilaterale Weg sogar abrupt an seinem Ende angekommen zu sein. Als Reaktion weigerte sich die EU nämlich, neue Abkommen mit der Schweiz abzuschliessen. Und die bestehenden Verträge drohten langsam zu erodieren, weil die EU sie nicht mehr erneuern wollte.

In der Not erfand der Bundesrat einen neuen Verhandlungsansatz: Die für die Schweiz schwierigen institutionellen Fragen sollten zusammen mit neuen bilateralen Abkommen in den Bereichen Strom, Lebensmittelsicherheit und Gesundheit in einem neuen weiteren Paket geregelt werden – den Bilateralen III. Ebenfalls angestrebt wird im Rahmen dieses Pakets eine Wiederaufnahme in die Bildungs- und Forschungsprogramme der EU, aus denen die Schweiz nach dem Verhandlungsabbruch ausgeschlossen worden war. Das alles sollte einen besseren Interessenausgleich zwischen der Schweiz und der EU zulassen. Darüber verhandeln jetzt Bern und Brüssel nach vorangehenden, länglichen Sondierungsgesprächen seit vergangenem März. Ziel des Bundesrats ist es, den bilateralen Weg zu stabilisieren und weiterzuentwickeln.

Unmut macht sich breit

Wie auch immer diese Verhandlungen ausgehen und unabhängig davon, ob das Verhandlungsergebnis dereinst vor dem Parlament und dem Volk Gnade findet, das Paket könnte das letzte sein, auf das die EU einzutreten bereit ist. Denn vor allem in mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten macht sich zunehmend Unverständnis, ja Unmut über den schweizerischen Sonderweg breit. Warum soll das reiche Nichtmitglied Schweiz Zugang zum EU-Binnenmarkt erhalten und obendrein erst noch Ausnahmen aushandeln können, wird gefragt. Denn diese wirtschaftlich noch nicht so weit wie die Schweiz entwickelten Mitgliedstaaten mussten sich bei ihrem EU-Beitritt im Jahr 2004 den Zugang zum Binnenmarkt weitestgehend ohne Ausnahmen erkaufen.

Irgendwann dürften diese Mitgliedstaaten deshalb genug haben von schweizerischen Rosinenpicken. Der bilaterale Weg dürfte darum nicht unendlich ausbaubar sein. Er könnte mittel- bis langfristig zu einer Sackgasse werden.

Kommt noch ein weiterer Nachteil des bilateralen Wegs dazu: Er liefert keine Antworten auf die aussen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen, die die Schweiz spätestens seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine im Verhältnis zur EU umtreiben. In der Klimapolitik drängt sich ebenfalls eine Zusammenarbeit der Schweiz mit der EU auf. Aber auch hier greift der bilaterale Ansatz zu kurz. Dieser hat im Wesentlichen eine wirtschaftliche Ausrichtung. Das ist zu wenig angesichts der Problemvielfalt, der sich die Schweiz im europäischen Kontext gegenübersieht.

Der Bilateralismus mit der EU hat also seine Grenzen. Es wäre deshalb an der Zeit, dass sich die Schweiz weitergehende Alternativen zu überlegen beginnt – etwa einen zweiten Anlauf zu einem Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) oder gar einen EU-Beitritt. Oder dann sollten die bilateralen Verträge mit der EU wenigstens – und wenn möglich – mit einem sicherheits- und verteidigungspolitischen Volet und einem Klimaabkommen ergänzt werden.

Neutralität: Christoph Blocher erntet Widerspruch von Martin Gollmer

Sieben besorgte Staatsbürger lancieren ein Manifest für eine Neutralität im 21. Jahrhundert. Sie fordern Bundesrat und Parlament angesichts einer geänderten sicherheitspolitischen Lage insbesondere in Europa auf, die Neutralität der Schweiz zu überdenken und in Zukunft flexibler zu handhaben. Sie formulieren damit einen Gegenentwurf zur Neutralitätsinitiative der SVP und Christoph Blochers, die eine rigide Form der Neutralität in der Verfassung verankern will.

«Der Ukraine-Krieg bestätigt und führt klar vor Augen, dass die einzelnen Bausteine der schweizerischen Neutralitätspolitik nicht mehr zueinander passen.» So steht es in einem vierseitigen Manifest, das eine siebenköpfige Gruppe bestehend aus Staats- und Völkerrechtlern sowie aus Diplomaten unter Führung des emeritierten Berner Professors Thomas Cottier am 29. Mai 2024 in Bern vorstellte. Die Schweiz habe in diesem Konflikt einerseits die Sanktionen der EU gegen Aggressor Russland übernommen, anderseits aber am Verbot der Kriegsmaterialausfuhr an die Kriegspartien festgehalten. Die Schweiz könne den Schutz der internationalen Rechtsordnung nicht hochalten und verteidigen, insbesondere den Schutz von Demokratie, Rechtsstaat und das Gewaltverbot, wenn sie den Aggressor Russland gleich behandelt wie das Opfer Ukraine und gestützt darauf die Wiederausfuhr von längst verkauftem Kriegsmaterial an die Ukraine verbietet.
Der Grund für die heute widersprüchliche Politik im Ukraine-Konflikt liege im restriktiven Kriegsmaterialgesetz, das in Teilen auf die umstrittenen und überholten Haager Konventionen von 1907 abgestützt werde, heisst es in dem Manifest weiter. Das Gleichbehandlungsgebot der Haager Konventionen komme bei einem Angriffskrieg aufgrund der Uno-Charta von 1945 nicht mehr zur Anwendung. Diese stipuliert weltweit ein generelles Angriffs- und Gewaltverbot. Die Schweiz sei als Uno-Mitglied deshalb nicht mehr berechtigt, Aggressor und Opfer gleich zu behandeln.

Überdenken, nicht abschaffen

Die Autoren des Manifests fordern darum Bundesrat und Parlament auf, die Neutralität der Schweiz zu überdenken. Diese habe ihre ursprüngliche Bedeutung aufgrund des völkerrechtlichen Gewaltverbots und des Rechts auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung verloren. Unter Neutralität werde heute von den meisten Staaten die autonom beschlossene Nichtteilnahme an einem bewaffneten zwischen- oder innerstaatlichen Konflikt und die Bündnisfreiheit verstanden.
Die Autoren des Manifests wollen die Neutralität aber nicht abschaffen. Diese habe nach wie vor eine grosse Bedeutung für die schweizerische Identität. Sie sei historisch gewachsen und tief verankert in der Bevölkerung. Das gelte es zu berücksichtigen. Die Autoren des Manifests fordern deshalb nur, die Neutralität in Zukunft anders – vor allem flexibler – zu handhaben als bisher. Dazu haben sie zehn Eckpfeiler der schweizerischen Neutralität formuliert. Die wichtigsten sind:

• «Die Neutralität ist ein aussenpolitisches Instrument.» Sie soll nicht in der Verfassung als Staatsziel verankert und verrechtlicht werden, wie das die Neutralitätsinitiative der SVP unter Führung von Christoph Blocher fordert. Wichtig seien mehr Handlungsfreiheit und weniger Fesseln.
• «Die Neutralität dient der Sicherheitspolitik und nicht umgekehrt.» Die militärische Neutralität soll daher nur so lange gelten, als sie der Sicherheit der Schweiz dient und nicht Staatsziele und Werte der internationalen Beziehungen gefährdet. Das müsse von Fall zu Fall geprüft und entschieden werden.
• Die Schweiz soll das Selbstverteidigungsrecht angegriffener Staaten anerkennen. Die Schweiz solle dabei alles unterlassen, was den Aggressor begünstige.
• «Die Schweiz stellt in Friedenszeiten und in einem Konfliktfall alle ihr zumutbaren Mittel für Gute Dienste, humanitäre sowie vor allem finanzielle Hilfen zur Verfügung.»
• Die Schweiz brauche eine schlagkräftige Armee. Diese soll einer glaubwürdigen Sicherheits- und Verteidigungspolitik dienen, unabhängig davon, ob die Schweiz neutral sei oder nicht. In Friedenszeiten müsse die Armee die Zusammenarbeit mit Nato und EU trainieren, um sich im Fall eines Angriffs gemeinsam mit den demokratischen Rechtsstaaten verteidigen zu können.
• Die Schweiz müsse das Embargogesetz anpassen. Der Bundesrat soll eigene Sanktionen ergreifen können. Weiter soll das Kriegsmaterialgesetz revidiert werden, um den Export von Waffen und Munition mit den aussen- und sicherheitspolitischen Interessend der Schweiz zu verbinden.

Die Medien stellten das Manifest mehrheitlich als einen Gegenentwurf zur Neutralitätsinitiative der SVP und Christoph Blochers vor. «Ein 10-Punkte-Plan gegen Christoph Blocher» titelte etwa der «Tages-Anzeiger». «Un manifeste pour contrer l’initiative sur la neutralité de Christoph Blocher» hiess die Schlagzeile bei «Le Temps». Auch Radio SRF stellte das Manifest in einen Zusammenhang mit der Neutralitätsinitiative. Diese will eine «immerwährende und bewaffnete Neutralität» in der Verfassung verankern. Sie wurde am 11. April dieses Jahres beim Bund eingereicht und inzwischen auch für gültig erklärt. «Natürlich geht es uns auch darum, ein Gegenmodell zu Blochers Initiative aufzustellen», sagte Manifest-Initiant Cottier an der Medienkonferenz in Bern.

Den Nerv der Zeit getroffen

Bereits wenige Tage nach der Vorstellung des Manifests hatten es schon mehrere Hundert Personen unterschrieben. Zu den 87 Erstunterzeichnern gehören die Ex-Bundesräte Joseph Deiss (Mitte), Samuel Schmid (SVP, später BDP) und Kaspar Villiger (FDP) sowie mehrere aktive und ehemalige Parlamentarier jeglicher parteipolitischer Couleur und etliche ehemalige Diplomaten. Das Manifest hat also, so scheint es, ein weitverbreitetes Unbehagen mit der aktuellen Handhabung der Neutralität angesprochen.
Das Manifest «Eine Neutralität für das 21. Jahrhundert» kann hier gelesen und unterzeichnet werden.

Sicherheitspolitische Herausforderungen der Schweiz in Europa von Thomas Cottier

Die sicherheits- und verteidigungspolitische Autonomie der Schweiz ist eine Illusion. Die Schweiz ist existentiell vom US-europäischen Schutzschild abhängig. Darauf kann sie sich nicht mehr länger uneingeschränkt verlassen. Sie muss sich deshalb mit eigenen Beiträgen an den europäischen Sicherheits- und Verteidigungsbemühungen beteiligen. Das erfordert eine enge Zusammenarbeit mit der NATO und der EU und – damit verbunden – ein Überdenken der Neutralität.

 

Die Auslegeordnung sicherheitspolitischer Fragen zeigt, dass Freihandel und Sicherheit kein Gegensatz sind, sondern sich gegenseitig bedingen. Freihandel und Integration tragen wesentlich zur Sicherheit bei. Die Schweiz nimmt dies indessen in abgeschotteten Bereichen nicht hinreichend war. Die Versorgung mit nachhaltiger Energie muss europäisch, nicht national gedacht werden. Das gleiche gilt für die protektionistische Landwirtschaftspolitik in Zeiten der Klimakrise. Sicherheit bedarf sodann der engen Zusammenarbeit in weiteren Politikfeldern, die sich direkt mit Sicherheitsfragen befassen, von polizeilichen bis zu militärischen Aufgaben. Dafür müssen Strukturen zur Verfügung stehen, die von den Kompetenzen her zweifelsfrei rasche Beschlüsse und deren Umsetzung erlauben. Diese können heute nicht mehr im Alleingang angegangen werden. Sicherheitspolitische Autarkie der Schweiz in Europa ist eine Selbsttäuschung. Sie spiegelt die Illusion einer Sicherheit vor, dies es so nicht mehr gibt und wohl nie gegeben hat.

Die Schweiz ist heute im Verzug. Das gilt in zahlreichen Bereichen, namentlich der Energieversorgung und der Gefahrenabwehr, insbesondere aber für die Armee. Die Schweiz kann in Zukunft nicht mehr damit rechnen, als Trittbrettfahrer vom amerikanischen und einem europäischen Schutzschild zu profitieren. Sie muss ihren eigenen Beitrag zur europäischen Sicherheit leisten, über die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und die Partnerschaft für den Frieden mit dem nordatlantischen Verteidigungsbündnis NATO hinaus. Das erfordert in Europa einen Verzicht auf die traditionelle Neutralität und ein Bekenntnis zur engen Zusammenarbeit mit der NATO, der EU und ihren Mitgliedstaaten.

 

Den vollständigen Aufsatz von Thomas Cottier hier lesen

Blochers «Pro-Putin-Initiative» ist unsinnig von Daniel Woker

Rechtsgerichtete Kreise wollen eine «immerwährende Neutralität» zementieren. Dabei wurde die Neutralität aus Gründen nie in die Verfassung aufgenommen.

Nicht genug, dass die SVP unter dem populistischen und finanziellen Diktat von Christoph Blocher Amok läuft gegen die Bilateralen III (das aktuelle Verhandlungspaket der Schweiz und der EU). Um jede Annäherung an Europa zu verunmöglichen, hat Blocher zusammen mit «Pro Schweiz» auch die sogenannte Neutralitätsinitiative lanciert. Von kritischen Beobachtern wird diese zu Recht als Pro-Putin-Initiative bezeichnet.

Die Aufnahme der Neutralität – einem Mittel, nicht einem Ziel der schweizerischen Aussenpolitik – in die Bundesverfassung wäre unsinnig genug. Seit 1848 haben sich alle Autoren der Verfassung bemüht, gerade dies nicht zu tun, weil sich das europäische Umfeld ständig verändert. Tatsächlich ist das EU-Europa mit dem Europa im 19. Jahrhundert, als die schweizerische Neutralität im Interesse der europäischen Mächte war, nicht vergleichbar. Die Haager Abkommen von 1907 sind entsprechend überholt. Das gültige, für alle Staaten verbindliche Dokument zu Krieg und Frieden ist die Uno-Charta, welche Angriffskriege verbietet und keine Gleichbehandlung von Aggressor und Opfer erlaubt. Diese Entwicklung zeigt, dass die von der Initiative geforderte Aufnahme einer «immerwährenden Neutralität» in die Verfassung Unfug wäre, da wir die Zukunft gar nicht kennen können.

Quasi ein Verbot von Sanktionen

Von der Neutralität her ist lediglich der Beitritt der Schweiz zur Nato sowie eine direkte Ausfuhr von in der Schweiz hergestelltem Kriegsmaterial an eine kriegführende Partei nicht möglich. Alles andere ist erlaubt, auch unter dem Gesetz über die Kriegsmaterialausfuhr. Wirtschaftssanktionen, wie sie die Schweiz gegen Russland erlassen hat, sind nicht nur zugelassen, sondern waren aus politischen, wirtschaftlichen und moralischen Gründen unumgänglich. Andernfalls wäre die Schweiz zur isolierten Insel von Putin-Verstehern geworden.

Blochers Initiative will nun das Ergreifen von Wirtschaftssanktionen praktisch ausschliessen. Der Verweis im Initiativtext auf eine Uno-Ausnahme ist rein theoretischer Natur. Wir wissen alle, dass die Uno bei Aggressionskriegen, wie sie direkt und indirekt durch totalitäre Diktatoren geführt werden, wegen des Vetos dieser Staaten im Sicherheitsrat meist blockiert ist. Die Ukraine ist ein aktuelles Beispiel, darum die Bezeichnung «Pro-Putin-Initiative». Ein Angriffskrieg von China gegen Taiwan bildet ein leider durchaus mögliches zukünftiges Beispiel.

Sicherheitspolitisch gefährlich

Ein Verbot von Wirtschaftssanktionen würde die schweizerische Aussenpolitik in unakzeptablem Masse einengen. Sanktionen sind ein Zwangsmittel bei groben Verstössen gegen alle Werte, denen sich gerade die Schweiz verpflichtet fühlt. Sanktionen bilden eine erste klare Schranke gegen Aggressoren, bevor als Ultima Ratio militärische Massnahmen ergriffen werden müssen.

Sicherheitspolitisch ist die Initiative gefährlich, weil sie eine internationale Zusammenarbeit verbietet, etwa mit der Nato und der EU zur Vorbereitung auf einen Konfliktfall. Nachdem nun Schweden Nato-Mitglied geworden ist, würde dies gar die seit Jahren laufende Ausbildung von schweizerischen Kampfpiloten im dafür einzig möglichen hohen Norden verunmöglichen.

 

Europa-Initiative lanciert: Proeuropäisches Lager geht in die Offensive von Europa-Allianz

Die Befürworter*innen von geregelten Beziehungen zur EU gehen in die Offensive: Die zivilgesellschaftliche Europa-Allianz hat heute in Bern die Europa-Initiative lanciert. In einer Welt voller Krisen steht die Schweiz an einem Scheideweg. Die Europa-Initiative verankert die aktive europäische Zusammenarbeit in der Verfassung und sorgt so für einen Grundsatzentscheid. Sie gibt der stillen proeuropäischen Mehrheit langfristig eine Stimme und den laufenden Verhandlungen mit der EU Rückenwind.

Vollständige Medienmitteilung zur Europa-Initiative hier lesen

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