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Solidarität statt Neutralität von Hans-Jürg Fehr

Es sind zwei sorgsam gepflegte Lebenslügen, die die Schweiz daran hindern, ihre Stellung in der Welt richtig zu sehen und ihr aussenpolitisches Handeln danach auszurichten: Die Lebenslüge immerwährende Neutralität und die Lebenslüge Kleinstaat.

Discours de Maros Sefcovic Vice-Président de la Commission Européenne EU-Switzerland Relations Université de Fribourg 15 mars 2023

Philippe Nell rend compte de la conférence du 15.3.23 du vice-président de la Commission, Maroš Šefčovič, à l’Université de Fribourg. Un événement mémorable qui restera dans les annales des relations Suisse-UE.

Wie der EuGH schon heute in die Schweiz hineinwirkt von Martin Gollmer

Im Rahmen des Versuchs der Schweiz und der EU, ihre bilateralen Beziehungen auf ein neues institutionelles Fundament zu stellen, ist der Europäische Gerichtshof (EuGH) für viele Schweizerinnen und Schweizer zu einem roten Tuch geworden. Dabei spielt das höchste Gericht der EU im schweizerischen Rechtsalltag schon seit längerem – und von den meisten unbemerkt – eine bedeutende Rolle. Das zeigt Europarechtsprofessor Matthias Oesch in seinem aktuellen Buch «Der EuGH und die Schweiz» auf.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) habe sich in den über 70 Jahren seines Bestehens «zu einem mächtigen Gericht in Europa und zu einer unverzichtbaren Stütze der europäischen Integration entwickelt. Sein Beitrag zur Operationalisierung des in den EU-Verträgen angelegten Integrationsprogramms und zur Etablierung der EU als Rechtsunion ist überragend. Seine Urteile prägen das Leben in Europa nachhaltig. Das gilt auch für die Menschen in der Schweiz – und zwar (…) in deutlich grösserem Ausmass als dies hinlänglich bekannt ist. Die Urteile des EuGH sind im Schweizer Rechtsalltag allgegenwärtig. Kenntnisse des Fallrechts aus Luxemburg gehören zum unverzichtbaren Rüstzeug der Juristinnen und Juristen nicht nur in Brüssel, Lissabon, Stockholm und Zagreb, sondern auch in Bern, Lausanne, St. Gallen und Zürich.» Das schreibt der an der Universität Zürich lehrende Europarechtler Matthias Oesch in der Einleitung zu seinem neuesten Buch mit dem Titel «Der EuGH und die Schweiz».

Oesch hat sich deshalb mit seinem Buch vorgenommen, den EuGH und seinen Einfluss in der EU und in der Schweiz den Schweizerinnen und Schweizern vorzustellen. Das tut er – auch für juristische Laien verständlich – in vier Kapiteln. Im ersten Kapitel wirft er einen Blick auf die institutionellen Eigenheiten des Gerichtshofs der EU sowie die wichtigsten Klagen und Verfahren. Er lässt dabei die zentrale Rolle des EuGH bei der Entwicklung des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts anhand wegweisender Urteile Revue passieren. Und er überprüft den Vorwurf, der EuGH betreibe mitunter juristischen Aktivismus, auf seine Stichhaltigkeit. Schliesslich würdigt er das grossenteils fruchtbare, zeitweise aber auch spannungsgeladene Zusammenspiel zwischen EuGH und den mitgliedstaatlichen Gerichten.

Nicht systematisch gegen die Schweiz

Im zweiten Kapitel geht Oesch auf die prominente Rolle des EuGH bei der Durchsetzung völkerrechtlich verbriefter Rechte von Menschen und Unternehmen aus Drittstaaten in der EU ein. Das zeige sich anschaulich bei der Gewährung von Rechtsschutz nach Massgabe der bilateralen Abkommen mit der Schweiz, wo der EuGH bei Klagen gegen die Mitgliedstaaten das letzte Wort hat. Oesch rekapituliert die Praxis des EuGH zur Auslegung dieser Abkommen. Der EuGH entscheide dabei «ohne Rücksicht auf die Herkunft der Parteien», hält Oesch fest. Er gehe sachlich und unparteiisch vor, ohne Rücksicht auf Partikularinteressen. «Er urteilt nicht systematisch zum Nachteil der Schweiz bzw. beschwerdeführender Personen und Unternehmen.»

Schliesslich verweist Oesch in diesem Kapitel auf die Möglichkeit der Schweiz, im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren, in denen es um die Auslegung von EU-Recht geht, das etwa aufgrund des Schengen-/Dublin-Assoziierungsabkommens auch für die Schweiz einschlägig ist, Stellungnahmen beim EuGH einzureichen und so zu dessen Entscheidfindung beizutragen.

Im dritten Kapitel zeigt Oesch auf, wie schweizerische Verwaltungsbehörden und Gerichte im Rechtsalltag die meisten bilateralen Abkommen routinemässig im Licht der Präjudizien des EuGH auslegen. Ähnliches gelte auch bei der Auslegung des schweizerischen Rechts, das dem EU-Recht autonom nachgebildet wurde, sowie im Rahmen der Rechtsvergleichung. «Viele der Leiturteile des EuGH, die wir beim Tour d’Horizon im ersten Kapitel streifen, treffen wir bei der Analyse der Praxis der schweizerischen Gerichte wieder an; ein beachtlicher Befund, der wenig bekannt ist!», schreibt Oesch. Die schweizerischen Gerichte würden so unaufgeregt und pragmatisch dazu beitragen, das EU-Recht auch in der Schweiz Fuss fasst – «auf leisen Sohlen, aber mit grossem Abdruck.»

Einbezug des EuGH nützt der Schweiz

Im vierten Kapitel geht es um die aktuelle Debatte, dem EuGH bei der Streitbeilegung zwischen der Schweiz und der EU im Rahmen der bilateralen Abkommen eine prominente Rolle zuzuweisen. Die Schweiz könne dabei «einem Modell, bei dem der EuGH für die Auslegung des EU-Rechts zuständig ist, mit guten Gründen zustimmen», meint Oesch. Denn der EuGH agiere in dieser Konstellation «nicht als verpöntes Gericht der Gegenpartei, sondern als Gericht des EU-Binnenmarkts, an dem die Schweiz sektoriell aus freien Stücken und zu ihrem eigenen Vorteil teilnimmt», präzisiert Oesch. Das EU-Recht, das auf die Schweiz ausgedehnt werde, bleibe wesensmässig EU-Recht, das letztinstanzlich von EuGH nach Massgabe der von ihm entwickelten Auslegungstopoi interpretiert werde. «Dabei deutet nichts darauf hin, dass der EuGH tendenziell ‘gegen die Schweiz’ entscheiden würde», schreibt Oesch. Das wird auch durch den Umstand bestärkt, dass die Entscheide des EuGH für alle EU-Mitgliedstaaten und die EWR-Länder Geltung haben, und die Regierungen sich durch Stellungnahmen an der Entscheidfindung beteiligen. Das Verfahren richtet sich nicht gegen die Schweiz, sondern dient im Einzelnen der Eruierung und Bestimmung des EU Rechts.

Oesch vertritt die Meinung, dass eine solche Vergerichtlichung im Interesse der Schweiz liege. «Die Streitbeilegung zwischen der Schweiz und der EU bei der Auslegung und Anwendung der bilateralen Abkommen, mit denen die Schweiz am Binnenmarkt teilnimmt, wird entpolitisiert und einer gerichtlichen Instanz überantwortet. Das spielt der Schweiz als politisch und wirtschaftlich weniger mächtige Vertragspartei in die Hände. Sie wird vor ungerechtfertigten einseitigen Massnahmen der EU geschützt. Sie kann den vereinbarten Marktzugang gerichtlich einfordern und ist nicht mehr allein auf den Goodwill der EU angewiesen.» Voraussetzung dafür sei aber, so schreibt Oesch weiter, dass die Schweiz dieses Verfahren bei Bedarf tatsächlich nutze und ihre traditionelle Zurückhaltung gegenüber der Streitbeilegung durch Gerichte aufgebe.

Oesch hat ein wichtiges Buch zur laufenden Debatte über die Bilateralen III – das neue bilaterale Vertragspaket, über das Bern und Brüssel gegenwärtig verhandeln – geschrieben. Er tut dies sachlich, kenntnisreich und überzeugend argumentierend, in einem flüssigen Schreibstil und in einem gut verdaubaren Umfang – das Buch zählt knapp 200 Seiten. So gelingt es ihm, das vielen unbekannte Wirken des EUGH in Europa und in der Schweiz den Schweizerinnen und Schweizern anschaulich näherzubringen. Das hilft hoffentlich, die hierzulande weitverbreiteten Vorurteile gegenüber dem EuGH – den von der SVP und anderen EU-kritischen Kreisen viel zitierten «fremden Richtern» aus Luxemburg – abzubauen und zu überwinden.

Matthias Oesch: Der EuGH und die Schweiz, unter Mitarbeit von Alexandru Badea. EIZ Publishing, Zürich 2023. 49.90 Fr. (Softcover)/69.90 Fr. (Hardcover).  

Bersets Bankrotterklärung (Daniel Woker)

Alain Berset drängt im Ukrainekrieg auf eine Verhandlungslösung mit Russland, und zwar «je früher, desto besser». Einem Entgegenkommen gegenüber europäischen Ländern bei deren Bemühen, die Ukraine mit Waffen und Munition zu versorgen, erteilt er eine Absage.

In der «NZZ am Sonntag» findet Bundespräsident Berset am heutigen 12. März wohltönende Worte zu Neutralität, humanitärer Mission der Schweiz und dem Standort Genf. De facto bedeutet dies jedoch eine Bankrotterklärung der gegenwärtigen Politik der Schweiz gegenüber dem Aggressionskrieg, den Putins Russland gegen die Ukraine und das demokratische Europa losgetreten hat.

Neutralität und Kriegsmaterialausfuhr

Der vermeintlich harte Kern der Neutralität und das Gesetz zur Kriegsmaterialausfuhr: zwei Hauptgründe, welche für die schweizerischen Nationalisten – zu denen sich nun Berset zu gesellenscheint – gegen eine robustere Unterstützung der Ukraine sprechen, halten einer Überprüfung nicht stand.

Neutralität ist eines von mehreren Mitteln, eine vernünftige Aussenpolitik zu führen. So sieht es die Bundesverfassung vor. Wo Neutralität nicht zweckdienlich ist, soll sie auch nicht angewandt werden. In einem nackten Aggressionskrieg, so sehen es die heute geltenden, im Rahmen der UNO festgelegten Regeln des Völkerrechts vor, hat der Angegriffene jedes Recht, sich zu verteidigen und dafür auf die Hilfe jener zu bauen, welche seine Werte teilen. Sich hier auf die Haager Landkriegsordnung, einen alten völkerrechtlichen Vertrag zu berufen, welcher unter den völlig anderen Umständen des 19. Jahrhunderts entstand, ist sicherheitspolitisch absurd, völkerrechtlich falsch und in der Wirkung amoralisch. Im Ukrainekrieg gibt es also weder einen völkerrechtlichen Grund noch eine moralische Rechtfertigung, die Neutralität anzurufen.

Das Gesetz über die Ausfuhr von Kriegsmaterial und speziell seine Verschärfung kurz vor dem Angriff Putins auf die Ukraine hat den Zweck, Ausfuhren zu verhindern in Konfliktgebiete, in denen eine Unterscheidung zwischen Angreifer und Opfer nicht klar ist. Keineswegs aber soll durch dieses Gesetz eine Unterstützung von Gegenwehr gegen einen Angriff auf Grundwerte, die auch diejenigen der Schweiz sind, verhindert werden. Zudem weiss Berset, dass auch unter diesem Gesetz die Bewilligung zur Weitergabe von Kriegsmaterial, das Dritten gehört, ohne weiteres möglich ist; wenn nötig mit Notrecht.

Der Mut der Viola Amherd

Neutralität ist zwar selbst auferlegt – und kann damit auch jederzeit vom Neutralen einseitig aufgegeben werden –, ist aber zwingend vom Interesse von Drittparteien zugunsten dieser Neutralität abhängig. Dieses Interesse ist im Fall Ukraine, sieht man vom Kriegsverbrecherregime in Russland ab, in keiner Art und Weise gegeben. Dass unsere westlichen und europäischen Partner die schweizerische Neutralitätsanrufung verstehen würden, ist eine glatte Lüge. Das Gegenteil ist der Fall. Das einzige Mitglied unserer Landesregierung, welches den Mut hatte, dies öffentlich zu sagen, ist Verteidigungsministerin Viola Amherd. Sie hat denn auch die Weitergabe von eingemotteten Leopard-2-Panzern an Deutschland im Ringtausch mit der Ukraine als sicherheitspolitisch ohne weiteres möglich bezeichnet.

Dass nun die Schweizerische Offiziersgesellschaft das Gegenteil behauptet, ist ein Affront. Als Akt von Subordination gegen die höchste Chefin sollte sie eigentlich militärgerichtlich verfolgt werden. Zudem ist es auch höchst erstaunlich, wenn sich ausgerechnet aktive Offiziere so für die Schwächung der schweizerischen Rüstungsindustrie einsetzen. Ein Vertreter eines friedlichen europäischen Landes, welches bislang Rüstungsmaterial in der Schweiz gekauft hatte, meinte gegenüber dem Schreibenden, sie würden sich das in der Zukunft zweimal überlegen, wenn im Konfliktfall mit wegen Berufung auf die Schweizer Neutralität auch mit Ausfuhrverboten für Ersatzteile gerechnet werden müsse.

Humanitäre Mission und Genf

Vollends irrt Berset, wenn er zur Verteidigung der gegenwärtigen Ukrainepolitik sich auf die humanitäre Tradition der Schweiz, verbunden mit dem Engagement für den Uno-Standort Genf, beruft. Beides sind hehre Aufgaben, haben indes nichts mit dem gegenwärtigen Stand der Ukrainekrise zu tun. Und wenn schon humanitäre Mission, warum dann nicht eine massive Erhöhung der humanitären Hilfe an die Ukraine? Dazu gehörte heute eine direkte Budgetunterstützung an Kyiv, damit die Regierung Löhne, Lebensmittel und weitere Notwendigkeiten des täglichen Bedarfsbezahlen kann. Berset und vor allem Finanzministerin Keller-Sutter wissen genau, dass dies der Schweiz auch ohne Belastung des eigenen Budgets möglich wäre, wenn sie nur den politischen Mut dazu hätte.

Genf ist und bleibt der zweite Hauptsitz der UNO. Falls dort tatsächlich einmal Verhandlungen stattfinden sollten – im Moment ist nicht abzusehen, dass dies mit Putin in Russland {und nicht in Den Haag vor dem internationalen Strafgerichtshof je möglich sein wird – dann kommen alle Parteien in der Rhônestadt zusammen und nutzen die dort vorhandenen Strukturen, ganz unabhängig von Entscheiden der schweizerischen Politik.

Die Aussagen Bersets, einem sozialdemokratischen, eigentlich als offenen geltenden Magistraten, sind ein Schlag ins Gesicht für all jene, welche sich weiterhin den nationalistischen Strömungen entgegenstellen und für eine offene, europa-affine, wertegeleitete Aussenpolitik der Schweiz einsetzen. Man möchte Berset raten, anstatt im Neutralitätsschneckenhaus zu verharren, die nach wie vor bestehenden Wirtschaftsverbindungen zwischen Russland und der Schweiz näher anzusehen. Nicht zuletzt die Geschäfte, welche die internationalen Handelsgesellschaften mit Sitz in der Schweiz abwickeln.

Dieser Artikel wurde am 12. März zunächst im Journal21 veröffentlicht, der Autor hat La Suisse en Europe die Erlaubnis erteilt, den Artikel auch auf dieser Seite abzubilden.

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Suisse-Europe : une lucarne d’opportunité ? (Paul Fivat)

Paul Fivat analysiert in seinem Aufsatz die aktuelle Lage der schweizerischen Europapolitik, unter Einbezug sicherheitspolitischer Fragen. Seine Überlegungen bestärken den Weg hin zu einem neuen Pakt bilateraler Verträge und rät von der Wiederaufnahme des EWR ab. Der Beitritt erscheint als ein zu weit gestecktes Ziel. Die Europa-Initiative soll zum Zuge kommen, wenn die Verhandlungen erneut scheitern sollten. Verstetigte Beiträge zum Kohäsionsfonds und die Bewilligung der Wiederausfuhr von schweizerischem Kriegsmaterial an die europäischen Partner begleiten was Paul Fivat als lucarne d’opportunité bis zu den Neuwahlen des Europäischen Parlaments und einer neuen Kommission im Frühjahr 2024 bezeichnet. 2023 ist für die Europapolitik der Schweiz ein entscheidendes Jahr.

Die Weitergabe von schweizerischem Kriegsmaterial im Eigentum von NATO Staaten und ihren Verbündeten an die Ukraine ist nach geltendem Recht zulässig (Thomas Cottier)

Eine vertiefte rechtliche Abklärung zeigt, dass der Bundesrat auf Grund des geltenden Rechts zuständig ist, die Freigabe von Kriegsmaterial schweizerischer Herkunft im Eigentum von NATO Staaten und deren Verbündeten ohne Verletzung der Neutralität an die Ukraine freigeben kann. Das Recht der Vereinten Nationen entbindet die Schweiz davon, Russland als Aggressor in der Folge gleich zu behandeln. Es geht dem Gleichbehandlungsgebot des Neutralitätsrechts vor.

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State of Play of Swiss-EU Negotiations (Thomas Cottier/Matthias Oesch)

Die Beiträge wurden im Rahmen eines Treffens im Europaparlament am 18.01.2023 von Thomas Cottier und Matthias Oesch präsentiert. Das Treffen erfolgte auf Einladung des Vorsitzenden, MEP Andreas Schwab.

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NON-Paper on a possible update of the bilateral agreements between the EU and Switzerland (Andreas Schwab, MEP)

Andreas Schwab vertritt Baden Württemberg im Europäischen Parlament und engagiert sich auf Ebene der Parlamentarier für die Verbesserungen der Beziehungen Schweiz-EU, die ihm durch die enge Nachbarschaft am Herzen liegen. Am 24.10.2022 legte der das beiliegende Non-Paper vor, das aus Diskussionen mit schweizerischen Parlamentarier:innen hervorgegangen ist.

The Contribution of Switzerland to European Stability and Sustainability of Electricity (Thomas Cottier)

In the wake of the war in Ukraine, soaring energy prices in Europe, and increasing demands for electricity in the process of decarbonisation for production, heating and transportation, the main-stream focus of the political debate in Switzerland has been on further enhancing self-reliance and independence in electricity.

Die Europa-Initiative ist notwendig

Dreissig Jahre nach der knappen Ablehnung des EWR Vertrages und gut zwanzig Jahre nach dem Nein zur EU Beitrittsinitiative ist es an der Zeit, die Grundsatzfrage erneut zu stellen: Wollt Ihr Euch am Europäischen Integrationsprozess beteiligen? Und wollt Ihr, nach den gemachten Erfahrungen, diesbezügliche Ziele und Vorgaben in der Bundesverfassung verankern?

Die Ungewissheit der Europapolitik

Seit dem Abschluss der bilateralen Verträge von 1999 und 2004 gab es in der für die Schweiz zentralen Beziehung zur europäischen Integration keine grösseren Fortschritte mehr. Ein Konsens über Ziel und Weg fehlt. Das bestehende, schrittweise gewachsene Vertragswerk erodiert und isoliert die Schweiz in Europa zusehends. Die Beziehung leidet am fundamentalen nationalkonservativen Widerstand gegen jegliche institutionelle Anbindung an die EU. Sie krankt am Vorrang protektionistischer Sonderinteressen, die eine unheilige Allianz unter dem Deckmantel der nationalen Souveränität verteidigt. Selbst der Krieg in der Ukraine und die damit verbundenen geopolitischen Veränderungen haben bis heute zu keinem Meinungsumschwung geführt.

Eigentlich würde man das Gegenteil erwarten: Volk und Stände haben nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative im Jahre 2014 erneute Angriffe gegen die europäische Integration 2018 (Selbstbestimmungs-Initiative) und 2020 (Beschränkungs-Initiative) massiv mit 66 % bzw. 61 % der Stimmen abgelehnt. Die Politik hat sich daraus kein Mandat des Souveräns geholt, den Integrationsprozess der Schweiz voranzutreiben. Im Gegenteil. Sie ging zur parteipolitischen Tagesordnung der Interessenvertretung über. Bundesrat und Parlament, insbesondere der Ständerat, sind nicht bereit, vor den Wahlen zur nächsten Legislatur im Herbst 2023 politisches Kapital und Leadership für das Anliegen der Integration einzusetzen. Sie setzen damit vitale Interessen des Landes kurzsichtig auf Spiel. Die meisten Parteien sind in der Frage gespalten, wie es weitergehen soll.

Streit über den Weg, ohne das Ziel zu kennen

Man streitet sich über den Weg, ohne das Ziel zu kennen. Man diskutiert über den bilateralen Weg, über den EWR, mitunter auch den Beitritt, über einzelne Verträge. Welche Stellung die Schweiz in Europa haben soll, welche Beitrag sie leisten soll, ist kein eigentliches Thema, über Marktzugang und Kooperationen hinaus. Ein gemeinsam festgelegtes Ziel fehlt, was hohe Risiken mit sich bringt. Der Abbruch der Verhandlungen durch den Bundesrat am 26. Mai 2021 gegen den Willen der Kantone und ohne Zustimmung des Parlaments ist Ausdruck davon. Er verspielte ziellos vollends das Vertrauen in einen gutgläubigen Verhandlungsprozess. Die EU Kommission und die Mitgliedstaaten trauen der Regierung nicht mehr und verlangen heute klare Zugeständnisse bereits in der explorativen Phase neuer Verhandlungen. Ob dies gelingen wird, ist heute offen und ungewiss. Vielleicht, dass die Notwendigkeit eines Stromabkommen bis Ende 2025 den politischen Takt vergeben wird. Es herrscht grosse Ungewissheit, und eine Mehrheit der kürzlich befragten Bevölkerung ist mit Europapolitik gar nicht zufrieden und bestätigt damit den am 6. Dezember 2022 lancierten Aufruf für Europa.

Klarheit über Beteiligung am europäischen Integrationsprozess schaffen

Malaise und Politikversagen bilden so die Ausgangslage für die Europa-Initiative. Sie will im Grundsatz Klarheit über Ziele schaffen, so dass in der Politik auch ein Weg gefunden werden kann. Sie ist im Wortsinne notwendig, um die Beziehungen zur EU auf eine klare Grundlage zu stellen und die Handlungsfähigkeit der Schweiz erneut herzustellen. Sie sorgt während den Verhandlungen für die Bilateralen III dafür, dass dazu die notwendige Unterstützung gesichert wird und das Vorhaben mit der notwendigen Energie an die Hand genommen und zu Ende gebracht wird. Sie will, dass auch später nicht jede europapolitische Vorlage jedes Mal mit bekannten Einwänden der nationalen Souveränität als Deckmantel für protektionistische Sonderinteressen als unschweizerisch angegriffen werden wird. Sie will, dass die Europafrage nicht weiterhin der politischen Mobilisation und dem Populismus dient. Es gilt, über Modalitäten sachpolitisch zu streiten, über Wege, nicht aber mehr das Ziel, welches die Verfassung fortan vorgibt als Auftrag an die Politik. Auch wenn dies vier oder fünf weitere Jahre dauert, lohnt sich der Aufwand gegen die immer wieder in den Weg gelegten Steine und Hindernisse.

Bandenergie von unten

Die Europa Initiative erzeugt als Prozess und unabhängig vom Ergebnis von unten her die erforderliche Bandenergie, welche Bundesrat, Parlament, Kantone und Parteien dazu zwingen, die Deutungshoheit der unheiligen Allianz endlich zu überwinden, Leadership zu entwickeln und die Handlungsfähigkeit der Schweiz wiederherzustellen. Sie unterstützt damit die laufenden Verhandlungen und allenfalls nachfolgende Ansätze, bis hin zur Mitgliedschaft im EWR, einem neuen Rahmen, oder in der Union. Sie unterstützt das Vorhaben im Parlament für ein Europagesetz und weitere Bemühungen, die Grundsatzfrage zur Teilhabe am europäischen Integrationsprozess zu beantworten. Die Initianten sind überzeugt, dass die Initiative die Grundlage einer breiten Europaallianz bilden und der Auftrag des Souveräns von der Politik in Zukunft auch ernst genommen wird.

Die Europadebatte im Wahljahr 2023 sichern

Sie will, dass Europa im Wahljahr und danach nicht von der politischen Agenda verschwindet. Sie will, dass Europa auch Teil unserer Verfassung wird und nicht länger totgeschwiegen wird. Die zumeist gespaltenen politischen Parteien haben kein Interesse, Europa zum Thema des Wahlkampfes zu machen. Sie weichen der Frage lieber aus. Wer hingegen hinter der Initiative steht, hat ein Ziel, vertröstet eine unzufriedene Wählerschaft nicht auf Morgen und damit auf eine ungewisse Zukunft. Wer die Initiative unterstützt und mitträgt, wir die Debatte prägen und zeigt Leadership.

Ein Beitrag an 175 Jahre Bundesverfassung

Die Initiative ist ein Geschenk und Beitrag der Jugend zum 175 Jahr Jubiläum der Bundesverfassung von 1848. Diese hat damals den Grundstein für die Integration der Eidgenossenschaft gelegt. Es ist Zeit, dass die Verfassung von 1999 den Grundstein für die Klärung der Stellung der Schweiz in Europa legt. Es geht um die Zukunft. Die Initiative wird vorab von einer jungen Generation getragen und ist damit zugleich auch Hoffnungsträgerin. Mehr als 60’000 Personen haben sich innert einem Monat bereit erklärt, die Initiative zu unterstützen.

Kontrapunkt zur Neutralitätsinitiative

Die Initiative setzt einen Kontrapunkt zur angekündigten populistischen Neutralitäts-Initiative und besetzt das Terrain positiv. Sie will mehr Integration in einem demokratischen Europa, während die Neutralitätsinitiative rückwärtsgewandt vor allem wirtschaftlichen Interessen in Russland und China und weiteren Autokratien dient und die Schweiz im Westen politisch weiter isoliert und ihre Werte untergräbt.

Zum Wortlaut der Europa Initiative

Der ausgewogene und verfassungswürdige Text ergänzt in Art. 54a BV die aussenpolitischen Ziele des Bundes und bekennt sich klar zur Beteiligung unseres Landes am Prozess der europäischen Integration. Das ist der angestrebte Grundsatzentscheid einer Mehrheit von Volk und Ständen. Er legt langfristig wirksame Ziele fest, ohne eben dazu einen bestimmten Weg vorzugeben und Institutionen in der Verfassung zu benennen. Dieser Text ist verfassungswürdig. Er überfordert das Verfassungsrecht nicht und belässt der Politik und den internationalen Beziehungen einen Spielraum, der die Anpassung an neue Entwicklungen und Lage zulässt. Er bleibt offen für unterschiedliche Wege bis hin zur Möglichkeit eines EU Beitritts, ohne diesen hier aber anzustreben.
Die Ziele umfassen auch den Schutz der Menschenrechte und gehen damit über den europäischen Binnenmarkt hinaus. Die Initiative verankert damit auch die Mitgliedschaft der Schweiz im Europarat und der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK. Sie schützt damit auch die indirekte Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundesgerichts im Bereich der Grundrechte, welche mit der vorgenannten SVP Selbstbestimmungs-Initiative («Schweizer Recht statt Fremde Richter») angegriffen und massiv verworfen worden ist. Die Europa-Initiative umfasst ebenso die kulturelle und wissenschaftliche Zusammenarbeit und implizit auch die Zusammenarbeit im Rahmen einer künftigen Sicherheitspolitik. Als Minimalstandard verankert sie institutionell die Mitsprache, die Streitbeilegung und materiell den Grundsatz gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Sie sieht Schutzklauseln namentlich zur Abfederung der Marktfreiheiten in der Gesetzgebung vor. Diese können im Notfalle im Rahmen der bestehenden Verträge aktiviert werden. Denn die Verträge umfassen auch den Rekurs auf ein Streitbeilegungsverfahren und damit die Möglichkeit bei bilateralen Verträgen, vom EU abzuweichen (Opt-outs), ohne dass diese im Einzelnen in den Verträgen selbst detailliert werden müssen. Im Gegenzug müssen Ausgleichsmassnahmen in Kauf genommen werden, deren Verhältnismässigkeit wiederum der Prüfung durch ein Schiedsgericht unterliegt. Auf diese Weise kann die Souveränität und damit auch die letzte Kontrolle im Rahmen der direkten Demokratie sichergestellt werden. Beim EWR sind diese Spielräume enger und verlangen die Zustimmung aller EFTA Staaten. Bei einem EU Beitritt bestehen sie dann nicht mehr.
All dies ist langfristig angelegt. Kurzfristig relevant sind die Übergangsbestimmungen. Sie verpflichten den Bundesrat, umgehend Verhandlungen aufzunehmen und dem Parlament 12 Monate nach deren Abschluss Bericht und Antrag unter Einschluss der gesetzlichen Schutzklauseln zu stellen. Sie rufen auch in Erinnerung, dass mehrere Wege verfassungsrechtlich offenstehen und die Initiative nicht auf den bilateralen Weg beschränkt ist.

Nochmals ist zu betonen, dass die Initiative die Wege zum Ziel offenlässt. Die Verfassung kann und soll diese nicht festlegen. Das haben wir aus der Ablehnung der Beitrittsinitiative (Ja zu Europa) im Jahre 2001 gelernt. Der Weg zum Ziel ist Aufgabe der Politik und muss mit Europa gemeinsam in Verträgen gefunden werden, unter Vorbehalt der genannten Minimalstandards der Verfassung. Die Verfassung legt allein die Grundlagen und gibt die Richtung vor. Die Initiative wahrt so die Aufgabenverteilung und Gewaltenteilung der Verfassung. Weder verpflichtet sie Bundesrat und Parlament auf die Fortsetzung des bilateralen Weges, noch zu einem EWR Beitritt oder einem Vollbeitritt. Sie lässt auch weitere Optionen in einer neuen europäischen Architektur zu. Sie tritt nicht in Konkurrenz zum politischen Prozess und will vielmehr diesem beistehen, das Malaise durch klare Zielsetzungen seitens einer Mehrheit von Volk und Ständen zu überwinden. Sie nimmt nach ihrer Annahme Bundesrat und Parlament auch verfassungsrechtlich in die Pflicht. Sie präjudiziert weitere Volksentscheide über künftig vorgelegte Verträge nicht.

Langfristig Denken

Man wird einwenden, dass die Initiative in dieser Beschränkung auf das Grundsätzliche nicht zielführend sei und es zu lange bis zur Annahme und Wirkung daure. Aktuelle Probleme können so nicht unmittelbar gelöst werden. Diese Auffassung verkennt, dass die Ziele langfristig in der Verfassung angelegt werden. Diese befasst sich nicht mit kurzfristigen Anliegen. Der Text soll die nächsten Dekaden der Europapolitik durch einen Grundsatzentscheid prägen und die Richtung der Politik vorgeben. Sie erleichtert damit auch kurzfristige Ergebnisse. Und vier bis sechs Jahre bis zur Abstimmung sind im Vergleich zur Stagnation seit 2004 immer noch eine kurze Zeit. Der Einwand verkennt aber auch, dass bereits die Lancierung der Initiative während ihrer Laufzeit Wirkung im politischen Prozess entfalten wird. Im Wahljahr hält sie Europa auf der Agenda und trägt dazu bei, dass Verhandlungen nicht erneut verzögert und erst mit einer neuen EU Kommission im Jahre 2024 oder noch später aufgenommen werden. Sie trägt zur Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit bei und gibt der stillen Mehrheit eine Stimme.

Tragen Sie aus all diesen Gründen mit Ihrem Engagement die Europa-Initiative mit. Ermöglichen Sie, der jungen Schweiz, die Initiative zu ergreifen und politische Arbeit zu leisten, dank Ihrer ideellen und materiellen Unterstützung. Die Allianz baut auf ein demokratisches Crowdfunding, um den geplanten Finanzbedarf von Fr. 500’000 für eine erfolgreiche Lancierung der Initiative zu realisieren. Namens der Allianz mit besten Dank!