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Für eine Schweiz, die dabei ist! von Martin Gollmer

Die schweizerische Aussenpolitik weist Löcher auf: Auf globaler Ebene macht die Schweiz in allen wichtigen internationalen Organisationen mit. Auf europäischer Ebene ist das anders. Hier ist die Schweiz weder bei der EU noch bei der Nato Mitglied. Das erstaunt und sollte geändert werden.

Im vergangenen Mai hatte die Schweiz die monatlich wechselnde Präsidentschaft im Uno-Sicherheitsrat inne. In diesem Gremium sitzt sie als einer der zehn nichtständigen Mitgliedstaaten seit Anfang 2023 – und noch bis Ende 2024. Der Sicherheitsrat ist auf globaler Ebene das wichtigste Uno-Organ im Bereich der Friedensförderung und internationalen Sicherheit. Der Präsidentschaft obliegt die Leitung der Sitzungen des Sicherheitsrats. Dabei kann sie auch ihre eigenen Prioritäten in den Fokus der Ratsarbeit stellen. Die Schweiz tat dies etwa mit den Themen «nachhaltigen Frieden fördern» und «Zivilbevölkerung in Konflikten schützen».

Die Schweiz brachte ihre Präsidentschaft im Uno-Sicherheitsrat – und ihre Einsitznahme in diesem Gremium – bisher ohne Probleme über die Runden. Die schweizerische Diplomatie war immer rechtzeitig – auch dank zusätzlichem Personal – mit Stellungnahmen zu den im Rat debattierten Themen bereit. Die Neutralität war dazu kein Hindernis. Die Schweiz verurteilte den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine als flagrante Völkerrechtsverletzung aufs Schärfste und konnte in andern Konflikten vermittelnd wirken. Gleichwohl gelang es auch der Schweiz nicht, die immer wieder auftretenden, auf das Vetorecht der fünf ständigen Mitgliedstaaten China, Frankreich, Grossbritannien, Russland und USA zurückzuführenden Blockaden im Sicherheitsrat zu überwinden. Trotzdem lässt sich feststellen: Die Schweiz ist in der Lage, auf höchster internationaler Ebene ihre Interessen einzubringen und erfolgreich mitzumischen.

Die Uno wurde 1945 nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Allianz der Siegermächte gegründet. Heute gehören ihr 193 Staaten an. Sie ist universell geworden. Ihre  wichtigsten Aufgaben sind gemäss ihrer Charta die Sicherung des Weltfriedens, die Einhaltung des Völkerrechts, der Schutz der Menschenrechte und die Förderung der internationalen Zusammenarbeit. Ausserdem ist die Uno auf wirtschaftlichen, sozialen, humanitären und ökologischen Gebieten tätig. Mehrere Uno-Organisationen haben ihren Sitz in der Schweiz, vor allem in Genf. Sie liessen sich dort in Nachfolge des Völkerbunds nieder lange bevor die Schweiz Mitglied wurde.

Der Beitritt der Schweiz zur UNO war mühsam und wurde lange von nationalkonservativen Kräften als mit der Neutralität und der Unabhängigkeit des Landes nicht vereinbar bekämpft. Die Mitgliedschaft beschränkte sich vorerst auf Sonderorganisationen wie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sowie dem Internationalen Gerichtshof in den Haag. Die Schweiz trat den Vereinten Nationen – wie die Organisation auch genannt wird – als Vollmitglied erst 2002 auf Grund einer Volksinitiative bei. Damals stimmten 55 Prozent der Bevölkerung und eine nur knappe Mehrheit der Kantone dem Beitritt zu. Zuvor scheiterte 1986 ein erster Anlauf  in einer Volksabstimmung noch mit 76 Prozent Nein-Stimmen. Die öffentliche Meinung wandelte sich innerhalb von 15 Jahren grundlegend.

 

Mitmachen verursacht weder Aufsehen noch Probleme

Ausser in der Uno ist die Schweiz auch in allen anderen wichtigen und global ausgerichteten internationalen Organisationen vertreten. Seit 1992 ist sie Mitglied des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank, nachdem der Beitritt zu den beiden Bretton-Woods-Institutionen in einer Volksabstimmung mit 56 Prozent Ja-Stimmen gutgeheissen wurde. Auch hier erfolgte der Beitritt der Schweiz verspätet: IWF und Weltbank wurden im Gefolge der Unterzeichnung des Abkommens von Bretton Woods im Jahr 1944 gegründet. Der IWF stellt Ländern, die – oft aufgrund von Zahlungsbilanzschwierigkeiten – Bedarf an Fremdwährung haben, Brückenfinanzierung bereit, verbunden mit Spar- und Stabilisierungsmassnahmen für das unterstützte Land. Die Weltbank vergibt Kredite für langfristige Entwicklungs- und Aufbauprojekte in der Realwirtschaft vor allem von ärmeren Staaten. Dem IWF gehören 190 Länder an, der Weltbank 189.

Die Schweiz trat dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen GATT 1966 bei. Seit 1995 ist sie  bei der Welthandelsorganisation (WTO) dabei. Sie wurde 1994 aus dem GATT in der sogenannten Uruguay-Runde nach siebenjähriger Verhandlungszeit gegründet und hat ihren Sitz in Genf. Ihre Aufgabe ist die Regelung und Vereinfachung grenzüberschreitender Handels- und Wirtschaftsbeziehungen sowie die damit verbundene Streitschlichtung zwischen Ländern. Heute gehören der WTO 164 Staaten an, die 98 Prozent des Welthandels bestreiten. Die Schweiz ist seit der Gründung der WTO deren Mitglied. Sie unterliegt hier auch der Schiedsgerichtsbarkeit und stellte immer wieder Schiedsrichter in internationalen Streitfällen.

Schliesslich ist die Schweiz Gründungsmitglied der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).  Diese erarbeitet Grundlagen der Wirtschaftspolitik und  internationale Normen sowie evidenzgestützte Lösungen für ein breites Spektrum sozialer, ökonomischer und ökologischer Herausforderungen. Zurzeit ist sie wegen ihrem Projekt für eine globale Mindeststeuer für Unternehmen in aller Leute Munde. Die OECD ging 1961 aus der 1948 gegründeten Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) hervor. Diese sollte damals den Wiederaufbau des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Europas koordinieren. Der OECD gehören heute 38 vor allem entwickelte Länder auf der ganzen Welt an.

In allen diesen global aktiven internationalen Organisationen arbeitet die Schweiz heute mit, ohne dass das grösseres Aufsehen erregt oder grössere Probleme hervorruft. Wesensmerkmale wie die direkte Demokratie, der föderalistische Staatsaufbau, die sozial abgefederte Marktwirtschaft oder die bewaffnete Neutralität konnten unbeschadet beibehalten werden. Hier sitzt die Schweiz mit am Tisch und vertritt selbstbewusst ihre Interessen. Ängste vor fremden Richtern bestehen hier nicht.

 

Lieber nachvollziehen statt mitentscheiden

Anders sieht es in Europa aus. Hier ist die Schweiz neben fachlichen Organisationen nur im Europarat und in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) vertreten. Der 1949 gegründete Europarat setzt sich für die Einhaltung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ein. 46 europäische Länder gehören ihm heute an. Die Schweiz trat erst im Jahr 1963 bei, nach langen und heftigen Debatten zur Neutralität des Landes. Erst 1974 trat sie der Europäischen Menschenrechtkonvention (EMRK) bei nachdem das Hindernis des fehlenden Frauenstimmrechts aus dem Wege geräumt war.

Die Ziele der OSZE sind die Sicherung des Friedens in Europa und der Wiederaufbau nach Konflikten. 57 Staaten aus Europa, Nordamerika (USA und Kanada) und Asien (Mongolei) sind heute Mitglied der OSZE. Sie ging 1995 aus der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) hervor. Diese wurde 1975 mit der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki ins Leben gerufen. Für den Ostblock brachte die KSZE die Anerkennung der Grenzen der Nachkriegsordnung und einen stärkeren wirtschaftlichen Austausch mit dem Westen. Im Gegenzug machte der Osten Zugeständnisse bei den Menschenrechten. Die Schweiz war bei KSZE und OSZE seit deren Anfängen mit dabei.

In der Europäischen Union (EU) und in der Nordatlantischen Vertragsorganisation (Nato) ist die Schweiz dagegen nicht vertreten. Zwar reichte die Schweiz 1992 bei der EU ein Beitrittsgesuch ein. Dieses wurde aber nach dem knappen Nein des Stimmvolks zum Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) im selben Jahr auf Eis gelegt. 2001 lehnten die Schweizerinnen und Schweizer mit 77 Prozent Nein-Stimmen die sofortige Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU ab. 2016 wurde das Beitrittsgesuch schliesslich zurückgezogen. Weil die Neutralität der Schweiz scheinbar unverzichtbar ist, stand ein Beitritt zur Nato nie zur Diskussion.

Das Abseitsstehen der Schweiz bei EU und Nato erstaunt: Die EU ist mit zurzeit 27 Mitgliedstaaten die wichtigste wirtschaftliche und politische Organisation Europas, die Nato mit gegenwärtig 31 Mitgliedsländern (darunter den USA) die wichtigste sicherheits- und verteidigungspolitische. Die Vorläuferorganisationen der EU gehen auf das Jahr 1951 zurück, die Nato wurde 1949 zur Eindämmung der damaligen Sowjetunion gegründet. Mit der EU ist die Schweiz aufs Engste verflochten – geografisch, wirtschaftlich, rechtlich, kulturell, personell. Und die Sicherheit der Schweiz in Europa ist ganz wesentlich dem militärischen Schutzschirm der Nato zu verdanken. Mit beiden Organisationen kooperiert die Schweiz deshalb. Ein Ausbau der Zusammenarbeit – und nicht mehr – wird zurzeit angestrebt.

So sitzt denn die Schweiz nicht mit am Tisch, wenn EU und Nato Beschlüsse fassen, die auch das Land betreffen. Allein im Bereich der EU-Abkommen von Schengen und Dublin geniesst sie Mitsprache. Sie kann nicht mitentscheiden, muss aber oft nachvollziehen. Das ist aus souveränitäts- und demokratiepolitischer Sicht höchst problematisch. Es ist deshalb an der Zeit, dass eine sachliche Debatte ohne Vorbehalte über die schweizerische Mitgliedschaft in EU und Nato beginnt – damit die Schweiz in Zukunft hoffentlich auch bei diesen beiden Organisationen mit dabei sein kann.

Die Erfahrung auf globaler Ebene zeigt, dass sich die Schweiz erfolgreich in internationale Organisationen einbringt und sich Ängste vor Souveränitätsverlusten und aus Gründen der Neutralität als unbegründet erwiesen haben. Niemand stellt heute die Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen mehr in Frage. Die gleiche Entwicklung ist auch auf europäischer Ebene möglich und nötig. Nur wenn die Schweiz hier überall mitmacht, kann sie ihre Interessen umfassend wahren und sich im Lichte neuer geopolitischer Herausforderungen auch auf europäischer Ebene weiterentwickeln.

Kooperative Souveränität? Europakolloquium zur Zukunft der Neutralität

Hat die Neutralität der Schweiz ihre Bedeutung im europäischen Kontext verloren? Bedeutet Souveränität Unabhängigkeit oder gibt es eine kooperative Souveränität? Diesen Fragen widmete sich das Europakolloquium am 3. Mai 2023. Zu Gast im Kollegienhaus waren Thomas Cottier, emeritierter Professor für Europa- und Wirtschaftsvölkerrecht an der Universität Bern und Präsident der Vereinigung Die Schweiz in Europa, und der ehemalige Schweizer Botschafter Dr. Daniel Woker. Auf Vorträge der Gäste folgte eine Podiumsdiskussion mit Dr. Barbara von Rütte und Prof. Dr. Ralph Weber. Die Veranstaltung wurde vom Europainstitut der Universität Basel gemeinsam mit der Vereinigung Die Schweiz in Europa / La Suisse en Europe (ASE) organisiert.

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«Nur im Krieg zeigt sich…wer deine echten Freunde sind» von Daniel Woker

Dies sagt der ukrainische Berufssoldat «Waleri» in einer NZZ-Reportage aus Grossbritannien. An einem geheimen Ort in Südwestengland wird er zum Kampf gegen Putins völkermörderische Armee ausgebildet. Die Aussage zeigt: Die Schweiz ist kein echter Freund der Ukraine.

«Wenn es irgendeine Möglichkeit gibt, uns mehr Waffen und Munition zu schicken, dann tut das bitte», sagt Waleri in der NZZ-Reportage. «Wir brauchen für die kommenden Monate wirklich alles, was wir bekommen können.»

Grossbritannien hat in absoluten Zahlen nach den USA am meisten Mittel zur Unterstützung der Ukraine ausgegeben. Dazu gehören schwere Panzer und die Ausbildung ukrainischer Militärangehöriger. Die Schweiz könnte beides auch tun, tut es aber nicht.

Panzer

Bekanntlich stünden seit Monaten eine grosse Anzahl von ausgemusterten Kampfpanzern Leopard II in der Ostschweiz bereit, um im Ringverkauf via Deutschland oder direkt an die Ukraineabgegeben zu werden. Dies hat auch die schweizerische Verteidigungsministerin bestätigt. Entgegen den Behauptungen des Gesamtbundesrates ist dies sowohl von der Neutralität her, wie das die namhaftesten Völkerrechtler der Schweiz erschöpfend dargelegt haben, als auch basierend auf der geltenden Gesetzgebung über Kriegsmaterialausfuhr möglich: wenn nötig mit Notrecht, welches vom selben Bundesrat zur Rettung des Finanzplatzes Schweiz schnell und ohne Gewissensbisse angewandt worden ist.

Ausbildung

Die Schweiz könnte ohne weiteres jetzt ukrainische Soldatinnen und Soldaten ausbilden, wenn wir nur wollten.

Wie das, da sich doch die Ukraine im Krieg befindet?

Die Antwort ist in dieser Antwort des Bundesrates auf eine Interpellation von Nationalrat Pierre-Alain Fridez vom 19.9.2012 zu finden:

(Es trifft zu, dass) russische Soldaten in den Genuss einer militärischen Ausbildung durch die Schweizer Armee gekommen sind. Zwei Detachemente der russischen Streitkräfte haben dieses Jahr in Andermatt im Kompetenzzentrum Gebirgsdienst eine Ausbildung absolviert.

Das war zwar vor dem Beginn von Putins Aggression gegen die gesamte Ukraine, aber nur kurz vor dem von Russland entfesselten Donbass-Konflikt und nach den russischen Aggressionen in Georgien und anderen Regionen der ehemaligen UdSSR. Die wahre Absicht von Putin, das ganze Gebiet der UdSSR wiederherzustellen, war schondamals publik und allgemein bekannt. Offensichtlich hat damals die Neutralität für den Bundesrat keine Rolle gespielt, sondern, wie er in der Interpellationsantwort ausführt:

Zu dieser auf Vertrauen und Gegenseitigkeit beruhenden Zusammenarbeit(mit Russland) zählen auch regelmässige Konsultationen auf den Gebietender Menschenrechte und der Sicherheit.

Die Moral

Nach all den politischen, juristischen und auch wirtschaftlichen Argumenten, ist die Moral der wichtigste Grund, weshalb die Schweiz mehr für die um ihr Überleben kämpfenden Ukraine tun muss.

Einer der berühmtesten, mit europäischen Preisen überhäufter, zeitgenössischer Schriftsteller der Ukraine, der in Russland geborene und im Original russisch schreibende Andrei Kurkow, ein mit einer Engländerin verheirateter ukrainischer Staatsbürger, welcher mitseiner Frau in der Ukraine ausharrt, schildert ebenso konzis wie unnachahmlich, wie es sich anfühlt von einem «Brudervolk» mit Krieg, Verwüstung, Folter und Tod überzogen zu werden. Mit dem er zudem eine Kultur teilt, welche zu den wichtigsten Weltkulturen gehört und unvergleichliche Literatur geschaffen hat. Eine Kultur, welche nun von Putin, seinen Schergen und seinen schleimenden Lawrow-Diplomaten in den Schmutz gezogen und nachhaltig beschädigt wird. (Andrei Kurkov, Tagebuch einer Invasion: Aufzeichnungen aus der Ukraine, Maymon, Oktober 2022).

Den schweizerischen Neutralität-Fetischisten ist anzuraten, Kurkows Buch aufmerksam zu lesen: Wenn sich diese dann, ohne Schamröte im Gesicht, weiterhin zur reinen und vollständigen Neutralität bekennen, welche zu wichtig sei, um kurzfristigen moralischen Einwänden Rechnung zu tragen – wie sich ein Genfer Völkerrechtsprofessor gegenüber dem Schreibenden sinngemäss ausgedrückt hat – tragen sie die volle Verantwortung, als vermeintliche Experten die Schweiz auf den moralischen Irrweg geführt zu haben.

Kein Freund

Kein Freund der Ukraine zu sein in ihrer schwersten Stunde – der anlaufende Befreiungsvorstoss in der Ost- und Südukraine dürfte entscheidend werden – wird für die Schweiz Folgen haben. Politische, wirtschaftliche und vor allem auch moralische. Im Gegensatz zum Brexit-Grossbritannien, das sich nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten in der Ukraine engagiert, zeigen wir uns nicht solidarisch mit dem demokratischen und rechtsstaatlichen Europa. Daran wird die Schweiz gemessen werden, von unseren gleichgesinnten ausländischen Partnern und auch von den zukünftigen schweizerischen Chronisten. Gewogen und zu leicht gefunden.

G-7-Schelte für die Schweiz von Daniel Woker

Einmal mehr geht eine Welle selbstgerechter Entrüstung durch die Schweiz: Die G-7 schilt die Schweiz wegen ungenügender Unterstützung der Ukraine und fehlender Gründlichkeit bei den Sanktionen gegen Russland; die Botschafter dieser Länder in Bern werden zu einem ‘klärenden’ Gespräch’ zitiert. 

Das Waterloo der schweizerischen Aussenbeziehungen von Daniel Woker

Ein selbst verschuldeter triple whammy hat das Ansehen der Schweiz, ihrerhöchsten Vertreter und ihrer Aussenpolitik auf den tiefsten Stand seit demZweiten Weltkrieg gebracht: Festgefahrene Europapolitik, feige Haltunggegenüber der um ihre Existenz kämpfenden Ukraine und nun die Kernschmelzeder Credit Suisse, welche die Landesmarke im Namen trägt.

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Solidarität statt Neutralität von Hans-Jürg Fehr

Es sind zwei sorgsam gepflegte Lebenslügen, die die Schweiz daran hindern, ihre Stellung in der Welt richtig zu sehen und ihr aussenpolitisches Handeln danach auszurichten: Die Lebenslüge immerwährende Neutralität und die Lebenslüge Kleinstaat.

Discours de Maros Sefcovic Vice-Président de la Commission Européenne EU-Switzerland Relations Université de Fribourg 15 mars 2023

Philippe Nell rend compte de la conférence du 15.3.23 du vice-président de la Commission, Maroš Šefčovič, à l’Université de Fribourg. Un événement mémorable qui restera dans les annales des relations Suisse-UE.

Wie der EuGH schon heute in die Schweiz hineinwirkt von Martin Gollmer

Im Rahmen des Versuchs der Schweiz und der EU, ihre bilateralen Beziehungen auf ein neues institutionelles Fundament zu stellen, ist der Europäische Gerichtshof (EuGH) für viele Schweizerinnen und Schweizer zu einem roten Tuch geworden. Dabei spielt das höchste Gericht der EU im schweizerischen Rechtsalltag schon seit längerem – und von den meisten unbemerkt – eine bedeutende Rolle. Das zeigt Europarechtsprofessor Matthias Oesch in seinem aktuellen Buch «Der EuGH und die Schweiz» auf.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) habe sich in den über 70 Jahren seines Bestehens «zu einem mächtigen Gericht in Europa und zu einer unverzichtbaren Stütze der europäischen Integration entwickelt. Sein Beitrag zur Operationalisierung des in den EU-Verträgen angelegten Integrationsprogramms und zur Etablierung der EU als Rechtsunion ist überragend. Seine Urteile prägen das Leben in Europa nachhaltig. Das gilt auch für die Menschen in der Schweiz – und zwar (…) in deutlich grösserem Ausmass als dies hinlänglich bekannt ist. Die Urteile des EuGH sind im Schweizer Rechtsalltag allgegenwärtig. Kenntnisse des Fallrechts aus Luxemburg gehören zum unverzichtbaren Rüstzeug der Juristinnen und Juristen nicht nur in Brüssel, Lissabon, Stockholm und Zagreb, sondern auch in Bern, Lausanne, St. Gallen und Zürich.» Das schreibt der an der Universität Zürich lehrende Europarechtler Matthias Oesch in der Einleitung zu seinem neuesten Buch mit dem Titel «Der EuGH und die Schweiz».

Oesch hat sich deshalb mit seinem Buch vorgenommen, den EuGH und seinen Einfluss in der EU und in der Schweiz den Schweizerinnen und Schweizern vorzustellen. Das tut er – auch für juristische Laien verständlich – in vier Kapiteln. Im ersten Kapitel wirft er einen Blick auf die institutionellen Eigenheiten des Gerichtshofs der EU sowie die wichtigsten Klagen und Verfahren. Er lässt dabei die zentrale Rolle des EuGH bei der Entwicklung des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts anhand wegweisender Urteile Revue passieren. Und er überprüft den Vorwurf, der EuGH betreibe mitunter juristischen Aktivismus, auf seine Stichhaltigkeit. Schliesslich würdigt er das grossenteils fruchtbare, zeitweise aber auch spannungsgeladene Zusammenspiel zwischen EuGH und den mitgliedstaatlichen Gerichten.

Nicht systematisch gegen die Schweiz

Im zweiten Kapitel geht Oesch auf die prominente Rolle des EuGH bei der Durchsetzung völkerrechtlich verbriefter Rechte von Menschen und Unternehmen aus Drittstaaten in der EU ein. Das zeige sich anschaulich bei der Gewährung von Rechtsschutz nach Massgabe der bilateralen Abkommen mit der Schweiz, wo der EuGH bei Klagen gegen die Mitgliedstaaten das letzte Wort hat. Oesch rekapituliert die Praxis des EuGH zur Auslegung dieser Abkommen. Der EuGH entscheide dabei «ohne Rücksicht auf die Herkunft der Parteien», hält Oesch fest. Er gehe sachlich und unparteiisch vor, ohne Rücksicht auf Partikularinteressen. «Er urteilt nicht systematisch zum Nachteil der Schweiz bzw. beschwerdeführender Personen und Unternehmen.»

Schliesslich verweist Oesch in diesem Kapitel auf die Möglichkeit der Schweiz, im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren, in denen es um die Auslegung von EU-Recht geht, das etwa aufgrund des Schengen-/Dublin-Assoziierungsabkommens auch für die Schweiz einschlägig ist, Stellungnahmen beim EuGH einzureichen und so zu dessen Entscheidfindung beizutragen.

Im dritten Kapitel zeigt Oesch auf, wie schweizerische Verwaltungsbehörden und Gerichte im Rechtsalltag die meisten bilateralen Abkommen routinemässig im Licht der Präjudizien des EuGH auslegen. Ähnliches gelte auch bei der Auslegung des schweizerischen Rechts, das dem EU-Recht autonom nachgebildet wurde, sowie im Rahmen der Rechtsvergleichung. «Viele der Leiturteile des EuGH, die wir beim Tour d’Horizon im ersten Kapitel streifen, treffen wir bei der Analyse der Praxis der schweizerischen Gerichte wieder an; ein beachtlicher Befund, der wenig bekannt ist!», schreibt Oesch. Die schweizerischen Gerichte würden so unaufgeregt und pragmatisch dazu beitragen, das EU-Recht auch in der Schweiz Fuss fasst – «auf leisen Sohlen, aber mit grossem Abdruck.»

Einbezug des EuGH nützt der Schweiz

Im vierten Kapitel geht es um die aktuelle Debatte, dem EuGH bei der Streitbeilegung zwischen der Schweiz und der EU im Rahmen der bilateralen Abkommen eine prominente Rolle zuzuweisen. Die Schweiz könne dabei «einem Modell, bei dem der EuGH für die Auslegung des EU-Rechts zuständig ist, mit guten Gründen zustimmen», meint Oesch. Denn der EuGH agiere in dieser Konstellation «nicht als verpöntes Gericht der Gegenpartei, sondern als Gericht des EU-Binnenmarkts, an dem die Schweiz sektoriell aus freien Stücken und zu ihrem eigenen Vorteil teilnimmt», präzisiert Oesch. Das EU-Recht, das auf die Schweiz ausgedehnt werde, bleibe wesensmässig EU-Recht, das letztinstanzlich von EuGH nach Massgabe der von ihm entwickelten Auslegungstopoi interpretiert werde. «Dabei deutet nichts darauf hin, dass der EuGH tendenziell ‘gegen die Schweiz’ entscheiden würde», schreibt Oesch. Das wird auch durch den Umstand bestärkt, dass die Entscheide des EuGH für alle EU-Mitgliedstaaten und die EWR-Länder Geltung haben, und die Regierungen sich durch Stellungnahmen an der Entscheidfindung beteiligen. Das Verfahren richtet sich nicht gegen die Schweiz, sondern dient im Einzelnen der Eruierung und Bestimmung des EU Rechts.

Oesch vertritt die Meinung, dass eine solche Vergerichtlichung im Interesse der Schweiz liege. «Die Streitbeilegung zwischen der Schweiz und der EU bei der Auslegung und Anwendung der bilateralen Abkommen, mit denen die Schweiz am Binnenmarkt teilnimmt, wird entpolitisiert und einer gerichtlichen Instanz überantwortet. Das spielt der Schweiz als politisch und wirtschaftlich weniger mächtige Vertragspartei in die Hände. Sie wird vor ungerechtfertigten einseitigen Massnahmen der EU geschützt. Sie kann den vereinbarten Marktzugang gerichtlich einfordern und ist nicht mehr allein auf den Goodwill der EU angewiesen.» Voraussetzung dafür sei aber, so schreibt Oesch weiter, dass die Schweiz dieses Verfahren bei Bedarf tatsächlich nutze und ihre traditionelle Zurückhaltung gegenüber der Streitbeilegung durch Gerichte aufgebe.

Oesch hat ein wichtiges Buch zur laufenden Debatte über die Bilateralen III – das neue bilaterale Vertragspaket, über das Bern und Brüssel gegenwärtig verhandeln – geschrieben. Er tut dies sachlich, kenntnisreich und überzeugend argumentierend, in einem flüssigen Schreibstil und in einem gut verdaubaren Umfang – das Buch zählt knapp 200 Seiten. So gelingt es ihm, das vielen unbekannte Wirken des EUGH in Europa und in der Schweiz den Schweizerinnen und Schweizern anschaulich näherzubringen. Das hilft hoffentlich, die hierzulande weitverbreiteten Vorurteile gegenüber dem EuGH – den von der SVP und anderen EU-kritischen Kreisen viel zitierten «fremden Richtern» aus Luxemburg – abzubauen und zu überwinden.

Matthias Oesch: Der EuGH und die Schweiz, unter Mitarbeit von Alexandru Badea. EIZ Publishing, Zürich 2023. 49.90 Fr. (Softcover)/69.90 Fr. (Hardcover).  

Bersets Bankrotterklärung (Daniel Woker)

Alain Berset drängt im Ukrainekrieg auf eine Verhandlungslösung mit Russland, und zwar «je früher, desto besser». Einem Entgegenkommen gegenüber europäischen Ländern bei deren Bemühen, die Ukraine mit Waffen und Munition zu versorgen, erteilt er eine Absage.

In der «NZZ am Sonntag» findet Bundespräsident Berset am heutigen 12. März wohltönende Worte zu Neutralität, humanitärer Mission der Schweiz und dem Standort Genf. De facto bedeutet dies jedoch eine Bankrotterklärung der gegenwärtigen Politik der Schweiz gegenüber dem Aggressionskrieg, den Putins Russland gegen die Ukraine und das demokratische Europa losgetreten hat.

Neutralität und Kriegsmaterialausfuhr

Der vermeintlich harte Kern der Neutralität und das Gesetz zur Kriegsmaterialausfuhr: zwei Hauptgründe, welche für die schweizerischen Nationalisten – zu denen sich nun Berset zu gesellenscheint – gegen eine robustere Unterstützung der Ukraine sprechen, halten einer Überprüfung nicht stand.

Neutralität ist eines von mehreren Mitteln, eine vernünftige Aussenpolitik zu führen. So sieht es die Bundesverfassung vor. Wo Neutralität nicht zweckdienlich ist, soll sie auch nicht angewandt werden. In einem nackten Aggressionskrieg, so sehen es die heute geltenden, im Rahmen der UNO festgelegten Regeln des Völkerrechts vor, hat der Angegriffene jedes Recht, sich zu verteidigen und dafür auf die Hilfe jener zu bauen, welche seine Werte teilen. Sich hier auf die Haager Landkriegsordnung, einen alten völkerrechtlichen Vertrag zu berufen, welcher unter den völlig anderen Umständen des 19. Jahrhunderts entstand, ist sicherheitspolitisch absurd, völkerrechtlich falsch und in der Wirkung amoralisch. Im Ukrainekrieg gibt es also weder einen völkerrechtlichen Grund noch eine moralische Rechtfertigung, die Neutralität anzurufen.

Das Gesetz über die Ausfuhr von Kriegsmaterial und speziell seine Verschärfung kurz vor dem Angriff Putins auf die Ukraine hat den Zweck, Ausfuhren zu verhindern in Konfliktgebiete, in denen eine Unterscheidung zwischen Angreifer und Opfer nicht klar ist. Keineswegs aber soll durch dieses Gesetz eine Unterstützung von Gegenwehr gegen einen Angriff auf Grundwerte, die auch diejenigen der Schweiz sind, verhindert werden. Zudem weiss Berset, dass auch unter diesem Gesetz die Bewilligung zur Weitergabe von Kriegsmaterial, das Dritten gehört, ohne weiteres möglich ist; wenn nötig mit Notrecht.

Der Mut der Viola Amherd

Neutralität ist zwar selbst auferlegt – und kann damit auch jederzeit vom Neutralen einseitig aufgegeben werden –, ist aber zwingend vom Interesse von Drittparteien zugunsten dieser Neutralität abhängig. Dieses Interesse ist im Fall Ukraine, sieht man vom Kriegsverbrecherregime in Russland ab, in keiner Art und Weise gegeben. Dass unsere westlichen und europäischen Partner die schweizerische Neutralitätsanrufung verstehen würden, ist eine glatte Lüge. Das Gegenteil ist der Fall. Das einzige Mitglied unserer Landesregierung, welches den Mut hatte, dies öffentlich zu sagen, ist Verteidigungsministerin Viola Amherd. Sie hat denn auch die Weitergabe von eingemotteten Leopard-2-Panzern an Deutschland im Ringtausch mit der Ukraine als sicherheitspolitisch ohne weiteres möglich bezeichnet.

Dass nun die Schweizerische Offiziersgesellschaft das Gegenteil behauptet, ist ein Affront. Als Akt von Subordination gegen die höchste Chefin sollte sie eigentlich militärgerichtlich verfolgt werden. Zudem ist es auch höchst erstaunlich, wenn sich ausgerechnet aktive Offiziere so für die Schwächung der schweizerischen Rüstungsindustrie einsetzen. Ein Vertreter eines friedlichen europäischen Landes, welches bislang Rüstungsmaterial in der Schweiz gekauft hatte, meinte gegenüber dem Schreibenden, sie würden sich das in der Zukunft zweimal überlegen, wenn im Konfliktfall mit wegen Berufung auf die Schweizer Neutralität auch mit Ausfuhrverboten für Ersatzteile gerechnet werden müsse.

Humanitäre Mission und Genf

Vollends irrt Berset, wenn er zur Verteidigung der gegenwärtigen Ukrainepolitik sich auf die humanitäre Tradition der Schweiz, verbunden mit dem Engagement für den Uno-Standort Genf, beruft. Beides sind hehre Aufgaben, haben indes nichts mit dem gegenwärtigen Stand der Ukrainekrise zu tun. Und wenn schon humanitäre Mission, warum dann nicht eine massive Erhöhung der humanitären Hilfe an die Ukraine? Dazu gehörte heute eine direkte Budgetunterstützung an Kyiv, damit die Regierung Löhne, Lebensmittel und weitere Notwendigkeiten des täglichen Bedarfsbezahlen kann. Berset und vor allem Finanzministerin Keller-Sutter wissen genau, dass dies der Schweiz auch ohne Belastung des eigenen Budgets möglich wäre, wenn sie nur den politischen Mut dazu hätte.

Genf ist und bleibt der zweite Hauptsitz der UNO. Falls dort tatsächlich einmal Verhandlungen stattfinden sollten – im Moment ist nicht abzusehen, dass dies mit Putin in Russland {und nicht in Den Haag vor dem internationalen Strafgerichtshof je möglich sein wird – dann kommen alle Parteien in der Rhônestadt zusammen und nutzen die dort vorhandenen Strukturen, ganz unabhängig von Entscheiden der schweizerischen Politik.

Die Aussagen Bersets, einem sozialdemokratischen, eigentlich als offenen geltenden Magistraten, sind ein Schlag ins Gesicht für all jene, welche sich weiterhin den nationalistischen Strömungen entgegenstellen und für eine offene, europa-affine, wertegeleitete Aussenpolitik der Schweiz einsetzen. Man möchte Berset raten, anstatt im Neutralitätsschneckenhaus zu verharren, die nach wie vor bestehenden Wirtschaftsverbindungen zwischen Russland und der Schweiz näher anzusehen. Nicht zuletzt die Geschäfte, welche die internationalen Handelsgesellschaften mit Sitz in der Schweiz abwickeln.

Dieser Artikel wurde am 12. März zunächst im Journal21 veröffentlicht, der Autor hat La Suisse en Europe die Erlaubnis erteilt, den Artikel auch auf dieser Seite abzubilden.

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Suisse-Europe : une lucarne d’opportunité ? (Paul Fivat)

Paul Fivat analysiert in seinem Aufsatz die aktuelle Lage der schweizerischen Europapolitik, unter Einbezug sicherheitspolitischer Fragen. Seine Überlegungen bestärken den Weg hin zu einem neuen Pakt bilateraler Verträge und rät von der Wiederaufnahme des EWR ab. Der Beitritt erscheint als ein zu weit gestecktes Ziel. Die Europa-Initiative soll zum Zuge kommen, wenn die Verhandlungen erneut scheitern sollten. Verstetigte Beiträge zum Kohäsionsfonds und die Bewilligung der Wiederausfuhr von schweizerischem Kriegsmaterial an die europäischen Partner begleiten was Paul Fivat als lucarne d’opportunité bis zu den Neuwahlen des Europäischen Parlaments und einer neuen Kommission im Frühjahr 2024 bezeichnet. 2023 ist für die Europapolitik der Schweiz ein entscheidendes Jahr.