Die Europa-Initiative ist notwendig

Dreissig Jahre nach der knappen Ablehnung des EWR Vertrages und gut zwanzig Jahre nach dem Nein zur EU Beitrittsinitiative ist es an der Zeit, die Grundsatzfrage erneut zu stellen: Wollt Ihr Euch am Europäischen Integrationsprozess beteiligen? Und wollt Ihr, nach den gemachten Erfahrungen, diesbezügliche Ziele und Vorgaben in der Bundesverfassung verankern?

Die Ungewissheit der Europapolitik

Seit dem Abschluss der bilateralen Verträge von 1999 und 2004 gab es in der für die Schweiz zentralen Beziehung zur europäischen Integration keine grösseren Fortschritte mehr. Ein Konsens über Ziel und Weg fehlt. Das bestehende, schrittweise gewachsene Vertragswerk erodiert und isoliert die Schweiz in Europa zusehends. Die Beziehung leidet am fundamentalen nationalkonservativen Widerstand gegen jegliche institutionelle Anbindung an die EU. Sie krankt am Vorrang protektionistischer Sonderinteressen, die eine unheilige Allianz unter dem Deckmantel der nationalen Souveränität verteidigt. Selbst der Krieg in der Ukraine und die damit verbundenen geopolitischen Veränderungen haben bis heute zu keinem Meinungsumschwung geführt.

Eigentlich würde man das Gegenteil erwarten: Volk und Stände haben nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative im Jahre 2014 erneute Angriffe gegen die europäische Integration 2018 (Selbstbestimmungs-Initiative) und 2020 (Beschränkungs-Initiative) massiv mit 66 % bzw. 61 % der Stimmen abgelehnt. Die Politik hat sich daraus kein Mandat des Souveräns geholt, den Integrationsprozess der Schweiz voranzutreiben. Im Gegenteil. Sie ging zur parteipolitischen Tagesordnung der Interessenvertretung über. Bundesrat und Parlament, insbesondere der Ständerat, sind nicht bereit, vor den Wahlen zur nächsten Legislatur im Herbst 2023 politisches Kapital und Leadership für das Anliegen der Integration einzusetzen. Sie setzen damit vitale Interessen des Landes kurzsichtig auf Spiel. Die meisten Parteien sind in der Frage gespalten, wie es weitergehen soll.

Streit über den Weg, ohne das Ziel zu kennen

Man streitet sich über den Weg, ohne das Ziel zu kennen. Man diskutiert über den bilateralen Weg, über den EWR, mitunter auch den Beitritt, über einzelne Verträge. Welche Stellung die Schweiz in Europa haben soll, welche Beitrag sie leisten soll, ist kein eigentliches Thema, über Marktzugang und Kooperationen hinaus. Ein gemeinsam festgelegtes Ziel fehlt, was hohe Risiken mit sich bringt. Der Abbruch der Verhandlungen durch den Bundesrat am 26. Mai 2021 gegen den Willen der Kantone und ohne Zustimmung des Parlaments ist Ausdruck davon. Er verspielte ziellos vollends das Vertrauen in einen gutgläubigen Verhandlungsprozess. Die EU Kommission und die Mitgliedstaaten trauen der Regierung nicht mehr und verlangen heute klare Zugeständnisse bereits in der explorativen Phase neuer Verhandlungen. Ob dies gelingen wird, ist heute offen und ungewiss. Vielleicht, dass die Notwendigkeit eines Stromabkommen bis Ende 2025 den politischen Takt vergeben wird. Es herrscht grosse Ungewissheit, und eine Mehrheit der kürzlich befragten Bevölkerung ist mit Europapolitik gar nicht zufrieden und bestätigt damit den am 6. Dezember 2022 lancierten Aufruf für Europa.

Klarheit über Beteiligung am europäischen Integrationsprozess schaffen

Malaise und Politikversagen bilden so die Ausgangslage für die Europa-Initiative. Sie will im Grundsatz Klarheit über Ziele schaffen, so dass in der Politik auch ein Weg gefunden werden kann. Sie ist im Wortsinne notwendig, um die Beziehungen zur EU auf eine klare Grundlage zu stellen und die Handlungsfähigkeit der Schweiz erneut herzustellen. Sie sorgt während den Verhandlungen für die Bilateralen III dafür, dass dazu die notwendige Unterstützung gesichert wird und das Vorhaben mit der notwendigen Energie an die Hand genommen und zu Ende gebracht wird. Sie will, dass auch später nicht jede europapolitische Vorlage jedes Mal mit bekannten Einwänden der nationalen Souveränität als Deckmantel für protektionistische Sonderinteressen als unschweizerisch angegriffen werden wird. Sie will, dass die Europafrage nicht weiterhin der politischen Mobilisation und dem Populismus dient. Es gilt, über Modalitäten sachpolitisch zu streiten, über Wege, nicht aber mehr das Ziel, welches die Verfassung fortan vorgibt als Auftrag an die Politik. Auch wenn dies vier oder fünf weitere Jahre dauert, lohnt sich der Aufwand gegen die immer wieder in den Weg gelegten Steine und Hindernisse.

Bandenergie von unten

Die Europa Initiative erzeugt als Prozess und unabhängig vom Ergebnis von unten her die erforderliche Bandenergie, welche Bundesrat, Parlament, Kantone und Parteien dazu zwingen, die Deutungshoheit der unheiligen Allianz endlich zu überwinden, Leadership zu entwickeln und die Handlungsfähigkeit der Schweiz wiederherzustellen. Sie unterstützt damit die laufenden Verhandlungen und allenfalls nachfolgende Ansätze, bis hin zur Mitgliedschaft im EWR, einem neuen Rahmen, oder in der Union. Sie unterstützt das Vorhaben im Parlament für ein Europagesetz und weitere Bemühungen, die Grundsatzfrage zur Teilhabe am europäischen Integrationsprozess zu beantworten. Die Initianten sind überzeugt, dass die Initiative die Grundlage einer breiten Europaallianz bilden und der Auftrag des Souveräns von der Politik in Zukunft auch ernst genommen wird.

Die Europadebatte im Wahljahr 2023 sichern

Sie will, dass Europa im Wahljahr und danach nicht von der politischen Agenda verschwindet. Sie will, dass Europa auch Teil unserer Verfassung wird und nicht länger totgeschwiegen wird. Die zumeist gespaltenen politischen Parteien haben kein Interesse, Europa zum Thema des Wahlkampfes zu machen. Sie weichen der Frage lieber aus. Wer hingegen hinter der Initiative steht, hat ein Ziel, vertröstet eine unzufriedene Wählerschaft nicht auf Morgen und damit auf eine ungewisse Zukunft. Wer die Initiative unterstützt und mitträgt, wir die Debatte prägen und zeigt Leadership.

Ein Beitrag an 175 Jahre Bundesverfassung

Die Initiative ist ein Geschenk und Beitrag der Jugend zum 175 Jahr Jubiläum der Bundesverfassung von 1848. Diese hat damals den Grundstein für die Integration der Eidgenossenschaft gelegt. Es ist Zeit, dass die Verfassung von 1999 den Grundstein für die Klärung der Stellung der Schweiz in Europa legt. Es geht um die Zukunft. Die Initiative wird vorab von einer jungen Generation getragen und ist damit zugleich auch Hoffnungsträgerin. Mehr als 60’000 Personen haben sich innert einem Monat bereit erklärt, die Initiative zu unterstützen.

Kontrapunkt zur Neutralitätsinitiative

Die Initiative setzt einen Kontrapunkt zur angekündigten populistischen Neutralitäts-Initiative und besetzt das Terrain positiv. Sie will mehr Integration in einem demokratischen Europa, während die Neutralitätsinitiative rückwärtsgewandt vor allem wirtschaftlichen Interessen in Russland und China und weiteren Autokratien dient und die Schweiz im Westen politisch weiter isoliert und ihre Werte untergräbt.

Zum Wortlaut der Europa Initiative

Der ausgewogene und verfassungswürdige Text ergänzt in Art. 54a BV die aussenpolitischen Ziele des Bundes und bekennt sich klar zur Beteiligung unseres Landes am Prozess der europäischen Integration. Das ist der angestrebte Grundsatzentscheid einer Mehrheit von Volk und Ständen. Er legt langfristig wirksame Ziele fest, ohne eben dazu einen bestimmten Weg vorzugeben und Institutionen in der Verfassung zu benennen. Dieser Text ist verfassungswürdig. Er überfordert das Verfassungsrecht nicht und belässt der Politik und den internationalen Beziehungen einen Spielraum, der die Anpassung an neue Entwicklungen und Lage zulässt. Er bleibt offen für unterschiedliche Wege bis hin zur Möglichkeit eines EU Beitritts, ohne diesen hier aber anzustreben.
Die Ziele umfassen auch den Schutz der Menschenrechte und gehen damit über den europäischen Binnenmarkt hinaus. Die Initiative verankert damit auch die Mitgliedschaft der Schweiz im Europarat und der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK. Sie schützt damit auch die indirekte Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundesgerichts im Bereich der Grundrechte, welche mit der vorgenannten SVP Selbstbestimmungs-Initiative («Schweizer Recht statt Fremde Richter») angegriffen und massiv verworfen worden ist. Die Europa-Initiative umfasst ebenso die kulturelle und wissenschaftliche Zusammenarbeit und implizit auch die Zusammenarbeit im Rahmen einer künftigen Sicherheitspolitik. Als Minimalstandard verankert sie institutionell die Mitsprache, die Streitbeilegung und materiell den Grundsatz gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Sie sieht Schutzklauseln namentlich zur Abfederung der Marktfreiheiten in der Gesetzgebung vor. Diese können im Notfalle im Rahmen der bestehenden Verträge aktiviert werden. Denn die Verträge umfassen auch den Rekurs auf ein Streitbeilegungsverfahren und damit die Möglichkeit bei bilateralen Verträgen, vom EU abzuweichen (Opt-outs), ohne dass diese im Einzelnen in den Verträgen selbst detailliert werden müssen. Im Gegenzug müssen Ausgleichsmassnahmen in Kauf genommen werden, deren Verhältnismässigkeit wiederum der Prüfung durch ein Schiedsgericht unterliegt. Auf diese Weise kann die Souveränität und damit auch die letzte Kontrolle im Rahmen der direkten Demokratie sichergestellt werden. Beim EWR sind diese Spielräume enger und verlangen die Zustimmung aller EFTA Staaten. Bei einem EU Beitritt bestehen sie dann nicht mehr.
All dies ist langfristig angelegt. Kurzfristig relevant sind die Übergangsbestimmungen. Sie verpflichten den Bundesrat, umgehend Verhandlungen aufzunehmen und dem Parlament 12 Monate nach deren Abschluss Bericht und Antrag unter Einschluss der gesetzlichen Schutzklauseln zu stellen. Sie rufen auch in Erinnerung, dass mehrere Wege verfassungsrechtlich offenstehen und die Initiative nicht auf den bilateralen Weg beschränkt ist.

Nochmals ist zu betonen, dass die Initiative die Wege zum Ziel offenlässt. Die Verfassung kann und soll diese nicht festlegen. Das haben wir aus der Ablehnung der Beitrittsinitiative (Ja zu Europa) im Jahre 2001 gelernt. Der Weg zum Ziel ist Aufgabe der Politik und muss mit Europa gemeinsam in Verträgen gefunden werden, unter Vorbehalt der genannten Minimalstandards der Verfassung. Die Verfassung legt allein die Grundlagen und gibt die Richtung vor. Die Initiative wahrt so die Aufgabenverteilung und Gewaltenteilung der Verfassung. Weder verpflichtet sie Bundesrat und Parlament auf die Fortsetzung des bilateralen Weges, noch zu einem EWR Beitritt oder einem Vollbeitritt. Sie lässt auch weitere Optionen in einer neuen europäischen Architektur zu. Sie tritt nicht in Konkurrenz zum politischen Prozess und will vielmehr diesem beistehen, das Malaise durch klare Zielsetzungen seitens einer Mehrheit von Volk und Ständen zu überwinden. Sie nimmt nach ihrer Annahme Bundesrat und Parlament auch verfassungsrechtlich in die Pflicht. Sie präjudiziert weitere Volksentscheide über künftig vorgelegte Verträge nicht.

Langfristig Denken

Man wird einwenden, dass die Initiative in dieser Beschränkung auf das Grundsätzliche nicht zielführend sei und es zu lange bis zur Annahme und Wirkung daure. Aktuelle Probleme können so nicht unmittelbar gelöst werden. Diese Auffassung verkennt, dass die Ziele langfristig in der Verfassung angelegt werden. Diese befasst sich nicht mit kurzfristigen Anliegen. Der Text soll die nächsten Dekaden der Europapolitik durch einen Grundsatzentscheid prägen und die Richtung der Politik vorgeben. Sie erleichtert damit auch kurzfristige Ergebnisse. Und vier bis sechs Jahre bis zur Abstimmung sind im Vergleich zur Stagnation seit 2004 immer noch eine kurze Zeit. Der Einwand verkennt aber auch, dass bereits die Lancierung der Initiative während ihrer Laufzeit Wirkung im politischen Prozess entfalten wird. Im Wahljahr hält sie Europa auf der Agenda und trägt dazu bei, dass Verhandlungen nicht erneut verzögert und erst mit einer neuen EU Kommission im Jahre 2024 oder noch später aufgenommen werden. Sie trägt zur Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit bei und gibt der stillen Mehrheit eine Stimme.

Tragen Sie aus all diesen Gründen mit Ihrem Engagement die Europa-Initiative mit. Ermöglichen Sie, der jungen Schweiz, die Initiative zu ergreifen und politische Arbeit zu leisten, dank Ihrer ideellen und materiellen Unterstützung. Die Allianz baut auf ein demokratisches Crowdfunding, um den geplanten Finanzbedarf von Fr. 500’000 für eine erfolgreiche Lancierung der Initiative zu realisieren. Namens der Allianz mit besten Dank!

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