Schweizer Neutralität – unverständlich oder nützlich? von Martin Gollmer, Thomas Cottier und Daniel Woker

In der Aussenpolitischen Strategie 2024–2027 bezeichnet der Bundesrat die Neutralität als Instrument der schweizerischen internationalen Beziehungen. Dabei wird sie immer mehr zu einem Hindernis für eine wirksame Aussen- und Sicherheitspolitik, wie die Beispiele Reexport von Kriegsmaterial sowie Kooperation mit EU und Nato zeigen.

«Die Neutralität wird von einigen Partnern (der Schweiz) kaum mehr als Beitrag an die Stabilität auf dem Kontinent verstanden. (…) Neutrale Staaten, die der Polarisierung (auf der Welt) entgegenwirken, werden gefragt bleiben.» Diese zwei Sätze stehen in der Einleitung zur Aussenpolitischen Strategie 2024–2027, die der Bundesrat kürzlich verabschiedet hat. Sie stehen in einem Widerspruch zueinander, der in der Strategie nicht wirklich aufgelöst wird.

Der erste Satz verdeutlicht eine Realität, die die Landesregierung nicht verneinen kann und der sie sich stellen muss. Sie ist eine Folge davon, wie die Schweiz insbesondere die Wiederausfuhr von in unserem Land hergestelltem Kriegsmaterial durch europäische Staaten in die von Russland angegriffene Ukraine handhabt. Diese Länder sehen das neutralitätsrechtlich begründete Nein der Schweiz als eine Behinderung legitimer Hilfe an die Ukraine. Was das Nein zu Reexporten von hiesigem Kriegsmaterial auch bedeutet: Es stellt die Schweiz als Standort für Rüstungs- und Technologieunternehmen in Frage.

Der zweite Satz – von den neutralen Staaten, die «gefragt bleiben» – zeigt eine Hoffnung, an die sich der Bundesrat klammert, um die in der  Schweizer Bevölkerung tief verankerte Neutralität nicht grundsätzlich hinterfragen zu müssen. Sie fusst auf der zunehmenden Konkurrenz der Grossmächte in der Welt und der Tendenz zu einer neuerlichen Blockbildung. Die Landesregierung glaubt deshalb, dass das aussenpolitische Profil der Schweiz als Förderin von Dialog und gegenseitiger Verständigung, als Gaststaat für diplomatische Konferenzen und internationale Organisationen und als Brückenbauerin für einen wirksamen Multilateralismus relevant bleibt. «Die Neutralität trägt zu diesem Profil bei und eröffnet nach wie vor Chancen», heisst es in der Aussenpolitischen Strategie 2024–2027.

Der Bundesrat glaubt denn auch, dass die Neutralität für die Schweiz weiterhin von Nutzen ist. Sie schränke zwar den Handlungsspielraum im militärischen Bereich ein, führt er am Beispiel der kriegsversehrten Ukraine aus, erlaube aber gleichwohl eine weitreichende Solidarität. Der Bundesrat hält fest: «Das Instrument der Neutralität lässt dabei Raum für eine kooperative Aussen- und Sicherheitspolitik mit europäischen und weiteren engen Partnern der Schweiz.» Diese will er in den kommenden Jahren ausbauen.

Mehr Kooperation mit EU und Nato 

Ausbauen will der Bundesrat gemäss der Aussenpolitischen Strategie 2024–2027 etwa die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit der EU und der Nato. Er stellt fest, dass die EU im Gefolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ihre Verantwortung für Sicherheit und Stabilität im euroatlantischen Raum verstärkt wahrnimmt. Sie erweitere ihre sicherheitspolitischen Instrumente und sei dabei bereit, Partnerschaften auszubauen. Das will die Schweiz nutzen, indem sie die sicherheitspolitischen Konsultationen mit der EU weiter entwickelt und ihre Beteiligung an EU-Friedensförderungsmissionen verstärkt. Weitere Kooperationsmöglichkeiten würden geprüft, etwa bei der Bewältigung von Katastrophen und Notlagen, schreibt der Bundesrat.

Was die Nato betrifft, hält der Bundesrat fest, dass sie sich auf die Bündnisverteidigung zurückbesonnen habe. Auch gestalte sie Partnerschaften individueller als zuvor. Die Schweiz wolle den politischen Dialog mit der Allianz stärken, die Interoperabilität der Armee verbessern, die vermehrte Teilnahme an Übungen der Nato prüfen und weiterhin Personal in deren Stäbe und Zentren entsenden.

Angesichts der Sicherheitslage in Europa, die sich mit dem russischen Angriff auf die Ukraine dramatisch verschlechtert hat, ist das alles gut und richtig. Nur ist es nicht genug. Bei den angestrebten Kooperationen mit der EU und der Nato handelt es sich nämlich vor allem um weiche Formen der Zusammenarbeit. Weitergehende und härtere wäre nötig – sind aber aus Gründen der Neutralität nicht möglich. Dabei handelt es sich bei EU und Nato um wichtige Mitgaranten des wirtschaftlichen Wohlergehens der Schweiz und deren militärischer Sicherheit.

Den bilateralen Weg weiterentwickeln

Geografischer Schwerpunkt der Aussenpolitischen Strategie 2024-2027 ist Europa – deshalb die angedachten Kooperationen mit der EU und der Nato. Angesichts der geopolitischen Bedeutung Europas für die Schweiz überrascht diese Schwerpunktsetzung nicht. Innerhalb Europas kommt der EU mit ihren 27 Mitgliedstaaten grosses Gewicht zu. Sie ist die mit Abstand wichtigste politische und wirtschaftliche Organisation auf dem Kontinent. Mit ihr will der Bundesrat den seit über zwanzig Jahren erfolgreich begangenen bilateralen Weg stabilisieren und weiterentwickeln. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger. Darüber hinaus beabsichtigt der Bundesrat, die Beiträge der Schweiz an die Stabilität Europas zu verstärken. Dem Frieden und dem Wiederaufbau der Ukraine misst er dabei «strategische Bedeutung» zu. Die Landesregierung plant in diesem Zusammenhang, im Sommer zur Ukraine eine Friedenskonferenz mit hochrangiger Besetzung durchzuführen.

Ausserhalb Europas kommt den weiteren Mitgliedern der G-20, dem Forum für Finanz- und Wirtschaftsfragen der global bedeutendsten Industrie- und Schwellenländer, aussenpolitisch eine wichtige Stellung zu. Dazu gehören etwa die USA und Kanada. In diesem Kontext arbeitet der Bundesrat darauf hin, dass die schweizerischen Wirtschaftsakteure weiterhin einen guten Zugang zu den nordamerikanischen Märkten haben. In der aufstrebenden Region Asien-Pazifik will der Bundesrat insbesondere zu China, das zu einem weltpolitischen und –wirtschaftlichen Schlüsselakteur geworden ist, prioritäre Beziehungen pflegen. Dies obwohl es etwa in Menschenrechtsfragen wachsende Differenzen gibt.

Fragwürdige Priorisierung Chinas

 Die USA unmissverständlich – ob Biden oder Trump –, die EU zögernd, aber immer klarer wenden sich politisch von China ab. Die Priorisierung von China in Asien in der Aussenpolitischen Strategie der Schweiz 2024-2027 mutet damit an wie ein schlechter Witz. Es ist klar, dass schweizerische Unternehmen weiterhin – wenn auch abnehmend (die chinesische Wirtschaft stottert) – mit China Handel treiben, wie US- und EU-Firmen auch. Wirtschaftspolitische, und noch mehr politische Zusammenarbeit der Schweiz mit dem imperialistischen und menschenrechtsverachtenden China von Xi Jinping muss aber ab- und nicht zunehmen. Dies weil erstens schweizerische Grundwerte auf dem Spiel stehen, die Vorrang haben vor kommerziellen Überlegungen, und zweitens weil uns eine entsprechende Politik in diametralen Gegensatz zu den USA – einschliesslich deren Boykotte gegen den Handel mit China – und zur EU bringt. Die gesamte schweizerische Europapolitik wird durch eine Pro-China-Politik in Mitleidenschaft gezogen.

Die langfristig ausgerichtete Entwicklungszusammenarbeit mit den Ländern des globalen Südens bezeichnet der Bundesrat als «Markenzeichen» der Schweiz, scheint ihr in der Aussenpolitischen Strategie 2024-2027 aber nicht die gleiche Bedeutung zuzumessen wie der Unterstützung der Ukraine. Über diese Schwerpunkte hinaus hat die schweizerische Aussenpolitik einen universellen Anspruch: Es sollen mit allen Staaten der Welt diplomatische Beziehungen gepflegt werden.

In seiner Aussenpolitik setzt der Bundesrat nicht nur geografische, sondern auch thematische Schwerpunkte. Dazu gehören Frieden und Sicherheit, Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit, Umwelt sowie Demokratie und Gouvernanz. Die letzten beiden Themen sind neu. Für die Umsetzung dieser Schwerpunkte setzt der Bundesrat auf seine üblichen Instrumente wie das Aussennetz mit seinen Botschaften und Konsulaten, die Diplomatie, die internationale Zusammenarbeit, die guten Dienste und – wie eingangs beschrieben – die Neutralität.

Haltung zur Neutralität bietet Angriffsflächen

Die Aussenpolitische Strategie 2024-2027 stellt die bisherige Praxis zum Neutralitätsrecht nicht in Frage: Nach wie vor geht der Bundesrat davon aus, dass Aggressor und Opfer auf Grund der obsoleten Haager Konventionen von 1907 aus der Zeit des europäischen Imperialismus gleich zu behandeln sind. Das ist mit den die Schweiz verpflichtenden Grundsätzen der Uno-Charta nicht vereinbar. Diese beinhalten ein Verbot von Angriffskriegen und ein Recht auf kollektive Selbstverteidigung, was eine Gleichbehandlung und damit indirekte Unterstützung des Aggressors ausschliesst.

Die Strategie anerkennt, dass Wiederausfuhrverbote von Kriegsmaterial nicht mehr verstanden werden. Sie zieht daraus aber keine Schlüsse, die die heutige Gesetzgebung im Verbund mit einer völkerrechtskonformen Auslegung durchaus zulassen würden. Die Neutralität ist nicht ein einseitiges Geschäft. Ihr Wert hängt von ihrer Anerkennung, ihrem Nutzen auch durch und für Dritte ab. Das gilt jedenfalls erst recht mit Bezug auf das Verbot der Wiederausfuhr längst verkaufter Kriegsmaterialen seit dem 24. Februar 2022 in Europa. Dieses wird vom Neutralitätsrecht nicht erfasst.

Dass Neutralität ein zweiseitiges Geschäft ist, bedeutet konkret, dass wirksame schweizerische Hilfe an die Ukraine die Erlaubnis zur Wiederausfuhr von Rüstungsmaterial durch Drittstaaten, aber auch eine massive Zahlungsbilanzhilfe in Milliardenhöhe umfassen muss. Sonst bleibt das schweizerische Bekenntnis zur Verstärkung der Zusammenarbeit mit EU und Nato leerer Buchstabe. Die Hilfe an die Ukraine zur Rettung der europäischen Demokratie gegen den russischen Kolonialimperialismus steht im Mittelpunkt der gegenwärtigen Tätigkeit dieser beiden Organisationen. Wenn wir hier wegen der Neutralität nicht voll teilnehmen, werden schweizerische Avancen zur Zusammenarbeit in Brüssel nur ein müdes Lächeln ernten.

Die Zusammenarbeit mit der EU in sicherheitspolitischen Fragen wird angesprochen, ohne dass entsprechende konkrete Schritte aufgezeigt werden. Dazu eignet sich aber die Pesco (Permanent Security Cooperation) auch für die Schweiz als Drittstaat in hohem Masse. Bei den heute 86 laufenden Projekten mit einer variablen Geometrie unter den Mitgliedstaaten machen teilweise auch neutrale Staaten sowie Drittstaaten wie Norwegen, Kanada und die USA mit. Die Formel erweist sich als Chance, die mit einer veralteten Neutralitätspolitik eingehandelten Nachteile aktiv auszugleichen und auf diese Weise zum dringend notwendigen Aufbau der Sicherheitsarchitektur und Verteidigungsfähigkeit der Schweiz mitten in Europa beizutragen.

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