Blocher – ein polternder Populist von Daniel Woker

In seiner Albisgüetli-Abschiedsrede vom Freitag, 19. Januar 2024, hat Altbundesrat Christoph Blocher einmal mehr seine üblichen Aussagen zu EU und Migration wiederholt, die voll von Verdrehungen und Unwahrheiten sind.

In einem langen Interview in den Tamedia-Zeitungen vom Wochenende vom 13./14. Januar 2024 spielte der Milliardär Christoph Blocher den Beschützer der Heimat mit Herz für die Armen: «Ich wäre …. sogar für eine 14. AHV-Rente». Seine darauf folgenden Aussagen zu EU und Migration, die er im Albisgüetli schlagwortartig wiederholte, zeigen aber, was er war und bleibt: ein polternder Populist – auch in seiner letzten Rede.

Unnötig? Kolonialvertrag? Einfach?

Eine Einigung mit der EU, wie sie mit den kommenden Verhandlungen über die zukünftige Gestaltung des Verhältnisses der Schweiz zur EU (Bilaterale III) allenfalls zu Stande kommt, sei ein «unnötiger Kolonialvertrag, Sachprobleme mit der EU könnten mit einem einfachen Abkommen geregelt werden». Das sind gleich drei Unwahrheiten hintereinander. Der Vertrag ist bitter nötig, um der Schweiz den Zugang zum europäischen Binnenmarkt zu erhalten. Das befürwortet gemäss Umfragen eine Mehrheit von Schweizerinnen und Schweizer.

Die Schweiz als Kolonie der EU, also von Deutschland, Frankreich, Italien und anderen europäischen Staaten, die uns politisch und wirtschaftlich am nächsten stehen? Diese zweite Unwahrheit ist einfach lächerlich. Blocher will wohl ein Alpenmonaco, in dem Reiche aus aller Welt sowie gewisse Banken und Finanzunternehmen profitieren, die grosse Mehrheit der Bevölkerung aber leiden würde. Wirtschaftlich beispielsweise unter erhöhten Importpreisen und der Abschnürung unserer bi- und trinationalen Grenzregionen von ihrem europäischen Hinterland, politisch unter einer weiteren Entfremdung des europäischen Kernlandes Schweiz von Europa.

Die dritte Unwahrheit vom «einfachen Vertrag» ist von bodenloser Frechheit. Es war nämlich Blocher, der 1992 mit einer millionenschwerer Schmutzkampagne gegen den Beitritt der Schweiz zum EWR (Europäischer Wirtschaftsraum) die Volksabstimmung zum Kippen ins knappe Nein brachte. Das wäre eine einfache Lösung für den Zugang zum EU-Binnenmarkt gewesen. Seither sind zwar Notlösungen gefunden worden, was nun aber zu Ende ist. Für einen Vertrag braucht es zwei Seiten; die EU hat seit Jahren das Ende von Notlösungen signalisiert.

Unreflektiertes vom Biertisch

Blochers im Interview weiter enthaltene Beschimpfung der «classe politique, welche die lästigen Volksabstimmungen und das Kantonsmehr (Ständemehr) beseitigen» will, ist sein übliches Echo vom unreflektierten Biertisch. Dass die beiden SVP-Bundesräte Guy Parmelin und Albert Rösti ohne Beschluss der Gesamtregierung in ihren internationalen Kontakten am Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos die These vom doppelten Mehr, also einer Mehrheit von Volk und Kantonen, bei der kommenden Volksbefragung über die Bilateralen III vertreten haben, wiegt schwerer. Das geht in Richtung Befehlsempfang aus Herrliberg für Minister, die unabhängig von ihrer Partei gemäss dem Wohl des Landes entscheiden sollten. Die Bilateralen I und II sind beide dem einfachen Referendum unterstellt worden, da darin keine Veränderung der Bundesverfassung – Grundvoraussetzung des obligatorischen Referendums mit doppeltem Mehr – vorgesehen war, was auch auf die Bilateralen III zutreffen wird.

Die EU brauche «Geld, Geld, Geld», behauptet Blocher weiter. Er meint damit den Kohäsionsbeitrag, der mit den Bilateralen III auf eine solide Basis gestellt werden soll. Die Schweiz leistet diesen Beitrag seit Jahren, um zum Ausgleich zwischen West und Ost im EU-Binnenmarkt beizutragen. Dies auch in unserem eigenen Interesse, ist doch gerade die exportabhängige Schweiz auf prosperierende  Märkte angewiesen. Es handelt sich um Mittel, die für das Wohl Gesamteuropas eingesetzt werden. An dessen Stärkung muss sich in diesen Zeiten von europäischen (Ukraine) und globalen geopolitischen Verwerfungen auch das Nichtmitglied Schweiz, das nichts für das reguläre EU-Budget leistet, beteiligen.

Geld braucht die EU tatsächlich für die Bewältigung der grossen Zukunftsprobleme: Klimawandel, Regulierung von Technologie, sicherheitspolitische Probleme mit einem Make-America-Great-Again-Präsidenten Trump in den USA, illegale Immigration. Alles Probleme, die auch die Schweiz betreffen, und die wir in enger Zusammenarbeit mit unseren europäischen Partnern besser und kostengünstiger regeln als allein.

Angriff auf die Personenfreizügigkeit

«Arbeitskräfte finden wir auch ohne Personenfreizügigkeit», meint Blocher weiter. Das ist zumindest eine grobe Verdrehung. Gerade die Personenfreizügigkeit im EU-Binnenmarkt, der sich die Schweiz mit dem bilateralen Freizügigkeitsabkommen von 1999 (FZA) angeschlossen hat, garantiert, dass die gesuchten, qualifizierten Fachkräfte, die wir dringend benötigen, ohne administrative Probleme gefunden werden können. Denn diese kommen primär aus der EU. Die SVP-Initiative gegen das FZA (Begrenzungsinitiative) haben Volk und Stände 2020 mit über 60 Prozent Nein-Stimmen verworfen.

In diesem wichtigen Bereich der nun abgeschlossenen Vorverhandlungen zwischen der Schweiz und der EU für die Bilateralen III konnten bereits die Umrisse von fairen Kompromissen zwischen allgemeinen EU-Regelungen und spezifisch schweizerischen Bedürfnissen gefunden werden. So insbesondere beim Lohnschutz, der Sozialhilfe und dem Landesverweis bei Strafverfahren.

Wo Beat Jans gefordert sein wird von Martin Gollmer

Der neu gewählte Bundestrat Beat Jans ist seit Anfang 2024 Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartements. Er ist dort gleich mehrfach gefordert – auch europapolitisch. Stichworte dazu sind etwa Zuwanderung, Asylpolitik und Personenfreizügigkeit. Im schwierigen EU-Dossier könnte er für neuen Schwung in der Landesregierung sorgen.

Seit dem 1. Januar 2024 ist der neu gewählte Bundesrat Beat Jans (SP) im Amt. Er ist für das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) zuständig. Dieses übernimmt er von seiner Parteikollegin Elisabeth Baume-Schneider, die nach nur einem Jahr ins Eidgenössische Departement des Inneren geflüchtet ist. Jans erbt von ihr einige auch europapolitisch bedeutsame Probleme, die dringend einer Lösung bedürfen. Hier eine Auswahl:

  • Hohe Zuwanderung. Die Zuwanderung in die Schweiz dürfte 2023 einen rekordverdächtigen Wert erreicht haben. Bis Ende November liessen sich rund 96’000 Personen hierzulande nieder – fast so viele wie im Spitzenjahr 2008. Die Auswanderung bei der ausländischen Bevölkerung betrug dabei 34’500 Personen. Das ergibt eine Nettozunahme der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung von 61’500 Personen oder von 3.9 Prozent. Nicht dazu zählen Asylsuchende, Personen mit Schutzstatus S und vorläufige Aufgenommene. Die Zuwanderung erfolgt fast ausschliesslich in den Arbeitsmarkt. Trotzdem beklagt die Wirtschaft einen Fachkräftemangel. Derweil kritisiert die nationalkonservative SVP, die mit Abstand wählerstärkste Partei der im Land, die hohe Zuwanderung und schürt die Angst vor einer 10-Millionen-Schweiz. Mit diesem Thema hat sie die Wahlen 2023 ins eidgenössische Parlament gewonnen.

Jans wird entscheiden müssen, welches Problem er höher gewichtet: Fachkräftemangel oder Überbevölkerung. Dabei fällt ins Gewicht, dass die Schweiz aufgrund des bilateralen Personenfreizügigkeitsabkommens mit der EU die Zuwanderung nur beschränkt selbst steuern kann. Was Jans hier tut und wie er sich entscheidet, ist durchaus von Belang: Die SVP sammelt Unterschriften für die «Nachhaltigkeitsinitiative», mit der sie die Zuwanderung begrenzen will. 2024 steht zudem eine Bilanz zu den Massnahmen an, die die Schweiz seit der Annahme der «Masseneinwanderungsinitiative» im Jahr 2014 ergriffen hat. Ziel deren Umsetzung war es, das Arbeitskräftepotenzial im Inland besser auszuschöpfen.

  • Unterbringung von Asylsuchenden, Dauer der Asylverfahren und Rückführung von abgelehnten Asylbewerbern. Rund 28’000 Personen haben bis Ende November 2023 ein Asylgesuch in der Schweiz gestellt. Rund 30’000 dürften es bis Ende 2023 werden. Das ist zwar weniger als im Rekordjahr 2015, als fast 40’000 Asylsuchende ins Land kamen, aber mehr als in den vergangenen Jahren. Dazu kommen noch die Flüchtlinge aus der Ukraine, die den Schutzstatus S erhalten haben. Die Unterbringung dieser Asylsuchenden und Flüchtlinge und deren Verteilung auf die Kantone ist ein Dauerthema, das Jans auch 2024 beschäftigen wird.

Kommt dazu dass die Asylverfahren immer noch zu lange dauern. Ziel der letzten Asylreform war es, diese Verfahren zu beschleunigen – etwa durch deren Konzentration auf sechs Zentren. Noch immer betreibt der Bund aber Dutzende solcher Standorte. Ein Problem ist auch, dass das System eigentlich nur auf 24’000 Personen pro Jahr ausgelegt. Kommen mehr Asylsuchende und Flüchtlinge wie dieses Jahr, zeigt sich das System überfordert und häufen sich die Pendenzen.

Ungelöst ist nach wie vor auch die Rückführung abgelehnter Asylbewerber in ihre Herkunftsstaaten. Viele von ihnen verweigern deren Rücknahme. Zahlreiche abgelehnte Asylbewerber bleiben deshalb in der Schweiz – ein unbefriedigender Zustand. Im Nationalrat ist deshalb jüngst ein asyl- und völkerrechtlich fragwürdiger Vorstoss zur Abstimmung gekommen, abgewiesene Asylsuchende in irgend ein sicheres Drittland zu schicken. Trotz Zustimmung der SVP und FDP scheiterte der Vorstoss nur knapp.

  • Positionierung in der europäischen Asylpolitik. Aufgrund des bilateralen Dublin-Assoziierungsabkommens ist die Schweiz an der Asyl- und Migrationspolitik der EU beteiligt. Ende 2023 haben sich die EU-Mitgliedstaaten nach langen Jahren des Streits auf eine Reform dieser Politik geeinigt. So sollen vor allem in den Grenzstaaten im Süden grosse Auffanglager errichtet werden. Dort sollen für Flüchtlinge mit geringer Chance auf Asyl schnelle Verfahren durchgeführt werden.

Zudem beschlossen die Mitgliedstaaten einen Verteilungsmechanismus für Flüchtlinge, der auf Solidarität beruht. Entweder übernimmt ein EU-Land Flüchtlinge aus den Grenzstaaten oder – wenn es dies nicht will – bezahlt es finanzielle Beiträge an die Betreuung von Flüchtlingen an die anderen EU-Länder. Einfach nichts tun, soll nicht mehr möglich sein. Für die Schweiz – und somit für Jans – stellt sich nun die Frage, soll sie Flüchtlinge aus den Grenzstaaten aufnehmen oder finanzielle Beiträge leisten.

  • Bilaterale III und Personenfreizügigkeit. Jans ist als Vorsteher des EJPD auch für die Umsetzung des bilateralen Personenfreizügigkeitsabkommens mit der EU zuständig. Deshalb gehört er – zusammen mit Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) sowie Wirtschafts-, Forschungs- und Bildungsminister Guy Parmelin (SVP) – auch dem Europaausschuss des Bundesrats an. Dieser ist angesichts anstehender Verhandlungen mit der EU über ein neues bilaterales Vertragspaket namens Bilaterale III besonders gefordert. Jans hat in Interviews vor seiner Wahl in den Bundesrat betont, dass er für geregelte Beziehungen mit der EU und somit auch für den raschen Abschluss eines neuen Vertragspakets eintritt. Das dürfte neuen europapolitischen Schwung in den Bundesrat bringen.

Besonders gefragt dürfte Jans’ Einschätzung aber in Sachen Personenfreizügigkeit gefragt sein. Dort fordert die EU die Übernahme ihrer Unionsbürgerrichtlinie in schweizerisches Recht. Befürchtet wird hierzulande, dass dies zu einer Zuwanderung ins schweizerische Sozialsystem führen könnte. Die Schweiz will deshalb in den Verhandlungen mit der EU Ausnahmen bei den Aufenthaltsrechten von EU-Bürgern erreichen. Umstritten ist in diesen Verhandlungen auch der Lohnschutz für schweizerische Arbeitskräfte. Sollen etwa bei den Spesen für in die Schweiz entsandte ausländische Arbeitnehmer nur die oftmals niedrigeren Ansätze in deren Herkunftsländern gelten, wie das in der EU üblich ist? Nein, sagen die hiesigen Gewerkschaften, die Lohndumping befürchten. Jans hat nach seiner Wahl angekündigt, alles zu tun, um in dieser Frage wie insgesamt im Lohnschutz zu einer Lösung zu kommen – auch unter Einbezug der schweizerischen Arbeitgeber.

  • Europakompatible Gesetzgebung. In den Aufgabenbereich des EJPD fällt auch die Prüfung der Europakompatibilität vorgeschlagener Erlasse auf allen Gebieten des Bundesrechts. Das gilt nicht nur für die Umsetzung von Verträgen, sondern auch der Frage, inwieweit autonome Erlasse vom EU-Recht abweichen können und sollen und inwieweit sich eine europakompatible Lösung zur Vermeidung von Handelshemmnissen und politischen Schwierigkeiten aufdrängt. Die Frage wird sich vor allem im Bereich der Konzernverantwortung stellen, bei der der Bundesrat eine international abgestützte Regelung versprochen hat, die über das geltende schweizerische Recht hinausgeht.

Jans steht also in einem nur scheinbar unbedeutenden Departement wie dem EJPD gleich vor mehreren gewichtigen Herausforderungen. Wie er sie angeht, dürfte in den kommenden Jahren auch das seit längerem schwierige Verhältnis der Schweizerinnen und Schweizer zur EU wesentlich bestimmen.

La Suisse et l’UE: des opportunités! par Maurice Wagner

Un accord Suisse-UE aurait beaucoup d’avantages – notamment pour l’industrie, la recherche et l’éducation dans notre pays. Et pourquoi ne pas travailler à la reconnaissance mutuelle entre l’UE et la Suisse des homologations de médicaments?   

Les chances d’un accord Suisse-UE sont bonnes, titrait Le Temps le 21 décembre 2023. Un accord avec l’UE est nécessaire, quoi qu’en pensent l’UDC et l’USS. Swissmem, l’organisation faîtière suisse de l’industrie technologique, est la dernière organisation ayant réclamé un accord entre la Suisse et l’UE. Elle vient effet de lancer un appel à l’aide en raison du franc suisse fort et elle  exige une amélioration des conditions-cadres. Heureusement que la Suisse a appris à vivre avec un franc fort, car influencer les cours de change entre le franc suisse et le dollar ainsi que l’euro est à la fois difficile et problématique.

En revanche, il est dans le pouvoir de la Suisse de négocier professionnellement et de signer un accord avec l’UE afin d’améliorer les conditions-cadres et de corriger les conséquences délétères du claquage de porte de mai 2021 à Bruxelles. Un accord entre la Suisse et l’UE devrait couvrir notamment la santé, la sécurité alimentaire  et l’énergie. Il permettrait par ailleurs à la Suisse non seulement de réintégrer les programmes Horizon (recherche) et Erasmus (étudiants), mais aussi de remettre sur les rails l’accord de reconnaissance mutuelle concernant le MedTech et de reconduire l’accord correspondant concernant l’industrie technologique, qui ne tient plus qu’à un fil.

Les dommages réels ou potentiels subis par l’industrie MedTech et l’industrie technologique pèsent plus lourd que la question des remboursements des notes de frais de quelques travailleurs détachés, même si l’industrie est insuffisamment vocale sur cette question. Les coûts réglementaires additionnels dans le secteur MedTech doivent être financés et ont un impact sur le niveau des prix et donc des primes d’assurance-maladie. Ceux qui bloquent les négociations Suisse-UE contribuent ainsi à augmenter les primes d’assurance… Le président de l’USS, toujours le premier à critiquer le niveau des primes de l’assurance-maladie, comprendra assurément…

Passant du secteur MedTech au secteur pharma, j’ai lu avec intérêt que Swissmedic venait   d’homologuer un médicament préventif contre la bronchiolite. Ce médicament est déjà utilisé en France depuis trois mois. Cela pose la question des multiples procédures d’enregistrement. Est-il nécessaire que la Suisse (Swissmedic) réinvente la roue pour chaque nouveau médicament ? Et vice versa, dans le cas, certes peu probable, où la Suisse homologuerait un médicament avant les pays de l’UE ? Ne serait-il pas intelligent de travailler à la reconnaissance mutuelle entre l’UE et la Suisse des homologations de médicaments? Cette reconnaissance mutuelle a fait ses preuves dans le domaine MedTech, et permettrait de diminuer les coûts de la santé, puisqu’on éviterait ainsi de multiplier sans raison les coûts des enregistrements! La Conseillère fédérale Elisabeth Baume-Schneider sera-t-elle plus sensible à cette problématique que ses prédécesseurs?

Schweizerische Europapolitik: Hektische Stagnation von Daniel Woker

Im neuesten Bericht zu den Diplomatischen Dokumenten der Schweiz (Dodis), nach einer Sperrfrist von 30 Jahren freigegeben am 1. Januar 2024, wird das Jahr 1993 beleuchtet. Hauptthema war damals und bleibt heute das Verhältnis der Schweiz zur EU. Auch andere aussenpolitische Realitäten sind seither unverändert geblieben.

Seit der knappen, aber negativen Volksabstimmung über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) von 1992 ist das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU zerrüttet. Die danach abgeschlossenen bilateralen Abkommen I und II sind ein Heftpflaster, das der Schweiz einen Notzugang zum europäischen Binnenmarkt erlaubt. Die nie genesene Wunde muss nun neu durch die Bilateralen III verarztet werden. Es ist ein Lichtblick, dass die Weiterführung des Zugangs zum Binnenmarkt sowohl von Seiten der EU als auch der Schweiz positiv beurteilt wird. Gemäss einer kürzlich veröffentlichen Umfrage will eine klare Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer ein geordnetes Verhältnis mit der EU. Offen bleibt die Wunde, da in zahlreichen anderen gesamteuropäischen Belangen – Klimaschutz, Regelung von Zukunftstechnologien, Sicherheitspolitik insbesondere mit einem möglichen neuerlichen Präsidenten Donald Trump in Washington – die Schweiz nicht an Entscheidungsfindung und Beschlussfassung der EU beteiligt ist. Ihr bleibt nolens volens nur der Nachvollzug.

1993: Europäischer Optimismus trotz allem

 Trotz dem deprimierenden Nein zum EWR Ende 1992 – am berühmte Dimanche Noir des damaligen Bundesrates Jean-Pascal Delamuraz – blieb die Landesregierung auch im unmittelbaren Nachgang dazu optimistisch, dass die folgende Epoche mit einem bilateralen Zugang zur damaligen EG (Europäische Gemeinschaft) ein kurzzeitiges Provisorium bleiben würde. Dies vor einem definitiven Entscheid, ob voller Beitritt zur EG oder doch ein zweiter Anlauf zum EWR. 1993 signalisierte der Bundesrat im aussenpolitischen Bericht, dass ein Beitritt «noch in diesem Jahrhundert» wahrscheinlich sei.

Das wurde damals auch an bilateralen Treffen mit den Chefs der wichtigsten Partnerländer so dargelegt. Das förderte deren Entgegenkommen, der Schweiz die Extrawurst eines vorläufigen bilateralen Zugangs zum europäischen Binnenmarkt zu erlauben. So wird der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl im Dodis-Bericht mit dem Zitat erwähnt «Schweizer Trotz hilft auf  die Dauer nichts». Und auch der frühere französische Staatspräsident François Mitterrand liess sich überzeugen, dass die Schweiz in ihrem eigenen Interesse bald der EG beitreten würde, wie sich das für die übrigen europäischen Neutralen Österreich, Schweden und Finnland damals abzeichnete.

Auf konservativen Nationalismus eingeschwenkt

Wie man nun weiss, trat dies leider nicht ein. Vielmehr folgten 30 Jahre hektischer Stagnation in der schweizerischen Europapolitik. Diese kaprizierte sich primär darauf, möglichst viele bilaterale Vorteile zu erreichen, ohne bleibende Verpflichtungen übernehmen zu müssen. Auch wenn 2024 mit den Bilateralen III eine weitere provisorische Lösung gefunden werden sollte, ist emotionslos festzustellen, dass die Schweiz in den vergangenen 30 Jahren im Verhältnis zur EU auf einen Kurs des konservativem Nationalismus eingeschwenkt ist.

Der von Blochers SVP 1992 mit ihrer Schmutzpropaganda gegen Europa – «Brüssel als moderner Habsburger Drache, der die wehrhafte Schweiz verschlingen will» eingeleitete Prozess hatte ungeahnten Erfolg über weite Teile der politischen Schweiz hinweg. Er führte zu einem generellen Rechtsruck auch links von der Schweizerischen Volkspartei. Hatte die FDP Anfang der 90er-Jahre den EG-Beitritt noch in ihrem Parteiprogramm, so meinte der Präsident der Jungen (!) FDP in einer öffentlichen Diskussion kürzlich im Brustton der Überzeugung eines Zürcher Bahnhofstrasse-Liberalen «Beitritt der Schweiz zur EU: nie».

Kein europäisches Bewusstsein vorhanden

 Dies ist umso kurzsichtiger, als spätestens seit dem kürzlichen Entscheid der EU mit Kiew Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, die Ukraine ein unverzichtbarer Teil von Europa geworden ist. Die schweizerische Ukrainepolitik ist also damit ebenfalls Teil unserer Europapolitik. Auch hier ist heutzutage nichts von einem europäischen Bewusstsein der Schweiz auszumachen. Es herrscht primär Verweigerung: keine Waffenlieferungen wegen dem Neutralitätsdogma, keine Finanzhilfe wegen der Schuldenbremse und der konservativen Nationalbank und auch keine schweizerische Friedensvermittlung, die offensichtlich nicht gefragt ist. Der Lichtblick besteht hier in der Absicht des Auswärtigen Departements, über zehn Jahre sechs Milliarden Franken Wiederaufbauhilfe zu leisten. Aber auch diese Geste ist mit Schatten behaftet, sollte diese Summe zulasten der Unterstützung des globalen Südens gehen.

Europäisches Bewusstsein wäre hier einmal angezeigt, weil auch uns wohl geneigte internationale Beobachter der schweizerischen Ukrainepolitik mit Unverständnis und Kritik begegnen. So etwa der ehemalige deutsche Bundespräsident Joachim Gauck, das verkörperte Gewissen Deutschlands, in einem Jahreswechsel-Gespräch in den Tamedia-Zeitungen. Er sieht mehr Solidarität mit der von Wladimir Putins Aggression schwer geprüften Ukraine als Jahrhundertaufgabe Europas an.

Sicherheitspolitik: Mehr Nato und EU notwendig

Aber auch im ureigenen Interesse unseres Landes sind grössere europäische Anstrengungen der Schweiz dringend nötig. So beispielsweise in der Sicherheitspolitik. Wie von Verteidigungsministerin Viola Amherd eben betont – und vom neu ernannten Staatssekretär im VBS, Brigadier Markus Mäder nachdrücklich unterstrichen –, wird die massive Erhöhung des schweizerischen Wehrbudgets, um sinnvoll zu sein, auch engere und mehr Zusammenarbeit mit der Nato und der sicherheitspolitischen EU mit sich bringen. Um in beiden Organisationen ernst genommen zu werden, muss die Jungfrau Helvetia von der unbefleckten (Neutralitäts-)Empfängnis abrücken und schönen Worten Taten zu Gunsten der Ukraine folgen lassen, dem gegenwärtig dringendsten Brennpunkt von Nato und EU.

Auch hier kontrastiert die ergebnisorientierte, offene Politik von Anfang der 1990er-Jahre mit der gegenwärtigen Neutralitätsängstlichkeit. Wie im Dodis- Bericht nachzulesen ist, erlaubte der Bundesrat damals im Rahmen der primär serbischen Aggression in Bosnien-Herzegowina ein erstes Mal militärische Überflüge der Nato über die Schweiz – «neutrality be damned».

Gute Dienste trotz Neutralität nicht gefragt

Neutralitäts-Fetischisten verweisen gerne auf die angeblich nur wegen der Neutralität möglichen Guten Dienste der Schweiz, im Sinne einer geschichtlichen, unverrückbaren Realität. Die Dodis-Dokumente von 1993 gehen auch auf die damalige Nahostpolitik des Bundesrates ein, mit Berichten über Kontakte mit Israel ebenso wie mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO); dies aber immer im Rahmen der damals dominanten Verträge von Oslo. Die wichtigsten im Spannungsfeld Nahost je geführten Verhandlungen fanden unter der Ägide der USA in der Hauptstadt des Nato-Mitglieds Norwegen statt und nicht im internationalen Begegnungsort Genf in der neutralen Schweiz.

Dies entspricht einem im Dodis-Bericht erwähnten Résumé des damals als schweizerischer Botschafter in Washington abtretenden Edouard Brunner, der ausdrücklich festhielt, dass die USA seit Ende des Kalten Krieges ihr Interesse an der schweizerischen Neutralität verloren hätten.

Heute steht mit Blick auf den Nahen Osten mit der Aktualität des Krieges zwischen der palästinensischen Terrororganisation Hamas und Israel das Mittun der Schweiz im Uno-Sicherheitsrat im Mittelpunkt. Die Schweiz hat sich in New York im Rahmen ihrer Möglichkeiten bislang gut geschlagen. Positiv ist insbesondere, dass sich so die  aussenpolitische Diskussion in der Schweiz – und damit ein entsprechendes Bewusstsein hierzulande – verstärkt hat. Das Bewusstsein nämlich, was ein mittelgrosser europäischer Staat angesichts zunehmender Schwerpunktverlagerung von Europa weg auf der globalen Bühne ausrichten kann und – vor allem – was nicht. Insbesondere, wenn ihm das spezifisch schweizerische Handicap anhaftet, nicht an den zwei Strukturen EU und Nato teilzuhaben, die global für ein starkes Europa stehen.

Im Nahen Osten wird weiterhin eine schweizerische Vermittlung von den Konfliktparteien offenbar nicht nachgefragt. Das lässt deren konstantes Anbieten eigenartig erscheinen. Genf und das Weltwirtschaftsforum in Davos sind internationale Treffpunkte, welche mit spezifisch schweizerischer Leistung nur mehr wenig zu tun haben.

Wenn Innenpolitik die Aussenpolitik dominiert

Schliesslich werfen auch institutionelle Probleme Schatten auf die schweizerische Aussenpolitik. Entgegen einem oft gehörten Bonmot ist nicht alle Aussenpolitik auch Innenpolitik, sondern gerade umgekehrt: Dominiert die Innenpolitik die Aussenpolitik, wird letztere zur Mühsal und Peinlichkeit. Beispielhaft steht dafür etwa die kleinliche innerschweizerische Diskussion über die Spesenentschädigung für entsandte ausländische Arbeitnehmer zu einem Zeitpunkt, wo in Brüssel um Unterstützung für die Ukraine und damit um die Antwort auf die Schicksalsfrage nach der Zukunft der Demokratie in Europa gerungen wird.

Dem dabei aktiv als europäische Abrissbirne tätigen und dem russischen Autokraten und Kriegsherrn Wladimir Putin zudienenden ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban haben rechtskonservative Kreise, angeführt von Blochers SVP, kürzlich in Zürich zugejubelt. Ausgerechnet die zwei Vertreter dieser Partei im Bundesrat – Guy Parmelin und Albert Rösti – sind mit zentralen Dossiers in den bilateralen Verhandlungen Berns mit Brüssel betraut. Werden Sie über den Schatten ihrer Parteidoktrin, die grundsätzlich zu allem, was mit der EU zu tun hat, nein sagt, springen wollen, springen können?

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Auch die Hausaufgaben müssen gemacht werden von Martin Gollmer

Der Bundesrat hat den Entwurf des Verhandlungsmandats für ein neues bilaterales Vertragspaket mit der EU verabschiedet. Damit ist ein wichtiger Schritt zur Verbesserung des gestörten Verhältnisses zwischen der Schweiz und der EU getan. Gleichwohl dürften die kommenden Verhandlungen mit der EU-Kommission schwierig werden – vor allem aus schweizerisch-innenpolitischen Gründen.

Das Positive vorneweg: Die Schweiz will mit der EU über ein neues bilaterales Vertragspaket verhandeln. Das ist klar, nachdem der Bundesrat am Freitag, 15. Dezember, den Entwurf eines entsprechenden Verhandlungsmandats verabschiedet hat. Zweieinhalb Jahre nach dem Abbruch der Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen mit der EU und eineinhalb Jahr nach dem Beginn von Sondierungsgesprächen mit der EU über ein neues Vertragspaket ist das eine gute Nachricht. Endlich scheint es vorwärts zu gehen in den lange Zeit gestörten Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU.

Das Paket, das in der Öffentlichkeit den Namen «Bilaterale III» erhalten hat, umfasst unter anderem die Aktualisierung der fünf bestehenden Binnenmarktabkommen mit der EU zur Personenfreizügigkeit, zum Abbau technischer Handelshemmnisse, zum Land- und Luftverkehr sowie zur Landwirtschaft. Zudem sollen zwei neue Binnenmarktabkommen mit der EU abgeschlossen werden in den Bereichen Strom und Lebensmittelsicherheit. Auf den Gebieten Forschung, Bildung, und Gesundheit sieht das Paket schliesslich Kooperationsabkommen mit der EU vor. Der vom Bundesrat der EU vorgeschlagene Paketansatz der Bilateralen III ist breiter als es der Inhalt des gescheiterten Rahmenabkommens war. Damit soll in den Verhandlungen leichter ein Ausgleich der Interessen der beiden Seiten erreicht werden können.

In der Schweiz gibt es noch Widerstand

Trotzdem: Die Verhandlungen werden schwierig werden. Dies, obwohl man sich in den insgesamt elf Sondierungsgesprächen der Chefunterhändler der beiden Seiten sowie in 46 Gesprächen auf technischer Ebene in den trennenden Fragen näher gekommen ist und «Landezonen» für ungelöste Probleme definiert werden konnten. Die Gründe dafür liegen nicht zuletzt in der Schweiz. Innenpolitisch ist nämlich seit Beginn der Sondierungsgespräche mit der EU vor anderthalb Jahren noch nicht viel erreicht worden. Noch immer gibt es hierzulande erheblichen Widerstand gegen Teile der Festlegungen, die die Schweiz und die EU im Verlauf der bisherigen Gespräche gemacht haben. Teilweise dient der Widerstand gegen die Bilateralen III auch innenpolitischen Zielen, namentlich der Ausweitung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Gesamtarbeitsverträgen. Hier deshalb eine Übersicht der wichtigsten noch umstrittenen Punkte:

  • Dynamische Rechtsübernahme: Die Schweiz soll EU-Recht in den Binnenmarktabkommen fortan dynamisch übernehmen, d.h. fortlaufend und nicht nur periodisch. Die Schweiz könnte dabei weiterhin selbständig entscheiden, ob sie EU-Recht übernehmen will. Auch bliebe der Rechtsweg gegen in schweizerische Gesetze übergeführtes EU-Recht bis zu einem allfälligen Referendum offen. Verweigert die Schweiz aber die Übernahme von EU-Recht, müsste sie mit Ausgleichsmassnahmen der EU rechnen.
  • Streitbeilegung: Werden sich die Schweiz und die EU bei der Auslegung von EU-Recht in den Binnenmarktabkommen nicht einig, soll in letzter Instanz der Europäische Gerichtshof (EuGH), das oberste Gericht der EU, entscheiden. Dies aber erst, wenn zuvor eine Streitbeilegung in einem gemischten Ausschuss gescheitert ist und ein paritätisch besetztes Schiedsgericht den EuGH anruft.

Gegen diese beiden institutionellen Regelungen läuft vor allem die national-konservative Schweizerische Volkspartei (SVP) Sturm. Sie sieht die Souveränität der Schweiz bedroht und fürchtet, dass «fremde Richter» hierzulande Recht sprechen könnten. Der Milliardär Alfred Gantner, Gründer der Private-Equity-Firma Partners Group und Mitglied der EU-skeptischen Vereinigung «Kompass/Europa», erwägt diese institutionellen Regelungen mit einer Volksinitiative zu bekämpfen, wie er dem «SonntagsBlick» sagte.

  • Lohnschutz: Aus der EU entsandte Arbeitnehmer sollen in der Schweiz für gleiche Arbeit den gleichen Lohn erhalten wie hiesige Arbeitskräfte. Spesen müssten jedoch nur nach den Ansätzen des Heimatslandes und nicht nach den Gepflogenheiten des Gastlandes bezahlt werden. Damit würden dem Lohndumping Tür und Tor geöffnet, fürchten die schweizerischen Gewerkschaften und kämpfen deshalb gegen das Verhandlungspaket an. Immerhin lässt sich sagen, dass diese Spesenregelung gegen den Grundsatz gleicher Lohn für gleiche Arbeit verstösst und auch innerhalb der EU umstritten ist. Hier ist das letzte Wort noch kaum gesprochen. Verstösse gegen das Entsenderecht könnten von den schweizerischen Behörden mit Bussen geahndet werden. Um diese sicherzustellen, mussten ausländische Firmen, die Arbeitnehmer in die Schweiz entsenden, bisher generell eine Kaution hinterlegen. Neu sollen diese Kaution nur noch Firmen leisten müssen, die schon einmal straffällig geworden sind. Die Gewerkschaften sehen darin eine weitere Abschwächung des Lohnschutzes.
  • Landverkehr: Die Schweiz soll den internationalen Schienenpersonenverkehr öffnen. Das heisst, dass künftig auch ausländische Bahnunternehmen eigenständig Bahnverbindungen in die Schweiz anbieten können. Bisher konnten sie dies nur in Kooperation mit den SBB. Ausländische Bahnunternehmen müssten aber die hiesigen Lohn- und Arbeitsbedingungen einhalten. Auch müssten sie den Taktfahrplan und die Tarife in der Schweiz (bspw. Generalabonnement und Halbtax-Abonnement) berücksichtigen. Die Gewerkschaften fürchten trotzdem eine Schwächung des hiesigen Service Public im öffentlichen Verkehr.
  • Kohäsionszahlung: Die in den Sondierungsgesprächen besprochene Lösung sieht vor, dass ein rechtsverbindlicher Mechanismus für regelmässige Schweizer Beiträge zugunsten wirtschaftlich schwächerer EU-Mitgliedstaaten ausgehandelt werden soll. Die Ausgestaltung eines solchen Mechanismus wurde aber noch nicht definiert. Gleiches gilt für die Eckwerte des nächsten Schweizer Kohäsionsbeitrags, wie bspw. Dauer, Höhe, zu begünstigende Länder oder thematische Prioritäten. Wird die Rechnung für die Schweiz zu teuer, könnte in der Bevölkerung breiter Widerstand gegen das Verhandlungspaket entstehen.

Breite europapolitische Allianz vonnöten

In den anstehenden Verhandlungen auf die Bedenken der SVP Rücksicht zu nehmen, ist vergebene Mühe, auch wenn sie die mit Abstand wählerstärkste Partei in der Schweiz ist. Die SVP stemmt sich nämlich gegen jegliche Annäherung an die EU. Ob man den Gewerkschaften in den Verhandlungen entgegenkommen kann, ist fraglich, weil auch die EU ihre roten Linien hat. Vielleicht liessen sie sich mit einer Ausweitung der Gesamtarbeitsvertragspflicht in der Schweiz zum Einlenken bewegen. Aber dagegen wehrten sich bisher die Arbeitgeberverbände. Hier sind Bundesrat und Parlament gefordert.

Bleibt es beim Widerstand von SVP und Gewerkschaften, dürfte es schwierig werden das zukünftige Verhandlungsergebnis mit der EU durch eine allfällige Volksabstimmung zu bringen. Dies, obgleich sich in Umfragen stets über 60 Prozent für ein Abkommen und stabile Beziehungen mit der EU ausgesprochen haben und der taktische Widerstand der Gewerkschaften nicht überschätzt werden kann. Trotzdem bleibt es wichtig,  dass sich schon jetzt eine möglichst breite Koalition der europapolitischen Vernunft zugunsten der Bilateralen III bildet. Dieser sollten alle Mitte-Links-Parteien inklusive der gewerkschaftsnahen SP sowie die Wirtschaftsverbände angehören. Nur dann wird das vom Bundesrat aufgegleiste Verhandlungspaket mit der EU vor dem Volk eine Chance haben.

Zwiespältige Bilanz der Wahlen 2023 aus europapolitischer Sicht von Martin Gollmer

Die Zusammensetzung des neuen Bundesparlaments steht nach den zweiten Wahlgängen für den Ständerat fest. Europapolitisch interessant ist, dass die EU-freundlichen Kräfte im Ständerat gestärkt wurden, im Nationalrat dagegen geschwächt. Die Fortsetzung des bilateralen Wegs mit der EU dürfte damit nicht einfacher werden.

Die Beziehungen zur EU sind das wichtigste ungelöste aussenpolitische Problem der Schweiz. Dennoch war es im Vorfeld der Wahlen 2023 ins eidgenössische Parlament seltsam abwesend. Die Parteien vermieden das Sujet im Wahlkampf tunlichst. Die EU-feindliche SVP hatte mit dem Schreckgespenst einer unkontrollierte Migration und einer 10-Millionen-Schweiz ein zugkräftigeres Thema gefunden. Die anderen, tendenziell EU-freundlichen Parteien griffen die in der Bevölkerung kontrovers diskutierten Beziehungen zur EU aus Angst vor Wählerverlusten nicht auf. Sie wollten von der wählerstarken national-konservativen SVP nicht als Euroturbos gebrandmarkt werden können.

Nun sind die Wahlen vorbei und die Beziehungen zur EU kommen wieder aufs Tapet. Bereits hat der Bundesrat angekündigt, bis Ende Dezember ein Mandat für Verhandlungen mit der EU über ein weiteres Vertragspaket namens Bilaterale III zu verabschieden. Danach soll das Mandat im Januar den aussenpolitischen Kommissionen der eidgenössischen Räte, den Kantonen und den Sozialpartnern zur Vernehmlassung weitergeleitet werden. Das endgültige Mandat dürfte dann im Verlauf des Februars feststehen. In der Folge könnten im März die Verhandlungen mit der EU beginnen.

Spätestens mit der Vernehmlassung im Januar sind verbindliche europapolitische Stellungnahmen der Parteien gefragt. Dann wird sich zeigen, wie sich die neuen Kräfteverhältnisse in National- und Ständerat auf die vom Bundesrat angestrebte Fortsetzung des bilateralen Wegs mit der EU auswirken. Was ist dabei vom neuen Bundesparlament zu erwarten?

Ständerat: Keine Chance für die Isolationisten

Zunächst zum Ständerat. Dort gingen in der Deutschschweiz die zweiten Wahlgänge vom Sonntag, 19. November 2023, allesamt zugunsten von Kandidatinnen und Kandidaten aus, die für geregelte Beziehungen zur EU eintreten. Tiana Moser (GLP) gewann in Zürich, Franziska Roth (SP) in Solothurn, Simon Stocker (SP) in Schaffhausen und Marianne Binder (Mitte) im Aargau. Die SVP- und SVP-nahen Herausforderer, die für eine isolationistische Schweiz stehen, hatten keine Chance.

Damit sind in der kleinen Kammer die tendenziell EU-freundlichen Kräfte gestärkt worden. Zu diesen gehören die Vertreterinnen und Vertreter der Mitte (15 Sitze), der FDP (11), der SP (9), der Grünen (3) und der GLP (1). Diese verfügen damit über 39 von insgesamt 46 Sitzen im Ständerat – eigentlich eine solide Mehrheit. Allerdings gibt es in einigen dieser Parteien etliche Abweichler von der EU-freundlichen Linie – bei der SP etwa die Vertreter der Gewerkschaften. Auch reicht der Konsens in dieser Koalition nicht über die Fortsetzung des bilateralen Wegs mit der EU hinaus. Ein zweiter Anlauf zu einem EWR-Beitritt fände gegenwärtig nur wenige Anhänger. Und kaum jemand würde sich zum jetzigen Zeitpunkt für einen EU-Beitritt stark machen.

Das Lager der EU-feindlichen Kräfte ging dagegen geschwächt aus den Ständeratswahlen hervor. Die Vertreterinnen und Vertreter der SVP (6 Sitze) sowie des rechtspopulistischen Mouvement Citoyens Genevois (MCG; 1) können deshalb zumindest eine Fortsetzung des bilateralen Wegs mit der EU nicht verhindern. Dies auch dann nicht, wenn sich zu ihnen noch Abweichler aus den tendenziell EU-freundlichen Parteien gesellen.

Nationalrat: EU-Mehrheit könnte schnell kippen

Die Ergebnisse zumindest der zweiten Wahlgänge für den Ständerat korrigieren zum Teil den Rechtsrutsch, der sich im Nationalrat einstellte. Dort gewann die SVP 9 Sitze und kommt nun auf insgesamt 62 Mandate. Rechnet man noch die Vertreterinnen und Vertreter der EDU (2), des MCG (2) und der Lega (1) dazu, die sich der SVP-Fraktion anschliessen wollen, sind es sogar 67 Sitze. Das ist damit die mit Abstand grösste Gruppe im 200-köpfigen Nationalrat. Die SVP wehrt sich traditionell gegen jeglichen Ausbau der Beziehungen der Schweiz zur EU. Doch trotz ihrer Stärke kann sie auch in der grossen Kammer die Fortsetzung des bilateralen Wegs allein nicht blockieren.

Findet die SVP aber Partner im Nationalrat oder ausserhalb, könnte die Mehrheit zugunsten der EU schnell einmal kippen. Im Vordergrund steht dabei vor allem die Asylpolitik – ein Dossier, das aufgrund der Dublin- und Schengen-Assoziierungsabkommen mit der EU ebenfalls europapolitischen Charakter hat. In diesem Bereich tritt aufgrund der verstärkten illegalen Migration nicht nur die SVP, sondern etwa auch die FDP (28 Mandate, -1) für Verschärfungen ein. Zusammen kommen die rechtsbürgerlichen Parteien auf 95 Sitze im Nationalrat. Zur Mehrheit fehlen damit noch 6 Stimmen. Und die lassen sich angesichts der Brisanz des Asyl- und Migrationsthemas etwa in der politischen Mitte leicht finden.

Einen starken Partner hat die SVP mit den Gewerkschaften auch in der Ablehnung der Personenfreizügigkeit mit der EU gefunden. Diese wehren sich vehement gegen eine Abschwächung des Lohnschutzes für Schweizer Arbeitnehmer. Zusammen könnten die beiden in einer Volksabstimmung die Fortsetzung des bilateralen Wegs torpedieren.

Die SVP macht auch Opposition gegen ein Stromabkommen mit der EU, das gemäss Bundesrat Teil der Bilateralen III sein soll. Mit einem solchen Abkommen würde sich die Schweiz weiter mit der EU verzahnen, das gefährde die Souveränität des Landes. Die Stromversorgung der Schweiz soll im Land selbst sichergestellt werden, fordert die Partei. Einer der beiden Männer der SVP im Bundesrat, Energieminister Albert Rösti, sagte in einem Zeitungsinterview, er sei für ein Stromabkommen, aber nicht um jeden Preis. Einer der Preise, den die EU in diesem Bereich fordert, ist die Liberalisierung des Strommarktes in der Schweiz. Das ist in der Bevölkerung nicht populär. Bereits haben die Gewerkschaften Widerstand gegen eine solche Liberalisierung angemeldet – selbst wenn es der Schweiz in  den Verhandlungen mit der EU gelingen sollte, eine nur teilweise Öffnung des Strommarktes durchzusetzen. Da Marktliberalisierungen von linken Parteien kritisch gesehen werden, könnten sich auch diese dem Widerstand der Gewerkschaften und der SVP anschliessen.

Für die EU-freundlichen Kräfte verliefen die Nationalratswahlen enttäuschend. Die GLP, die als einzige Partei vorbehaltlos für das gescheiterte institutionelle Rahmenabkommen mit der EU eingetreten war, verlor mit 6 Sitze und kommt jetzt noch auf 10 Mandate in der grossen Kammer. Die Grünen, die zusammen mit der Operation Libero eine Europa-Initiative lancieren wollen, büssten 5 Sitze ein und haben neu nur noch 23 Vertreterinnen und Vertreter im Nationalrat. Einen Mandatsverlust gab es auch für die EVP (-1 auf 2 Sitze). Verbessern konnten sich dagegen – allerdings nur leicht – die SP (+2 auf 41 Sitze) und die Mitte (+1 auf 29 Sitze).

Europa hat die Wahlen in der Schweiz verloren – oder doch nicht ganz? Von Thomas Cottier

Die EU-feindliche SVP legt im Nationalrat deutlich Sitze zu, die EU-freundliche GLP büsst mehrere Mandate ein. Das zeigt: Europa hat die Wahlen 2023 ins eidgenössische Parlament verloren. Umso wichtiger ist deshalb jetzt, dass alle politischen Kräfte diesseits der SVP eine Allianz der europäischen Vernunft schliessen.

Die Bemühungen um ein geregeltes Verhältnis zur Europäischen Union (EU) gehören klar zu den Verlierern der National- und Ständeratswahlen vom 22. Oktober 2023. Die Schweizerische Volkspartei (SVP/UDC), die weitere Integrationsschritte kategorisch ablehnt, hat ihren Wähleranteil im Nationalrat auf 27.9 Prozent erhöht und ist fortan mit 61 Sitzen im Nationalrat vertreten; die Ergebnisse im Ständerat sind noch offen. Die Partei konnte sich auf Kosten nicht stimmberechtigter Personen mit dem Thema und dem Feindbild Migration durchsetzen. Sie sieht sich in ihrer EU-feindlichen Haltung und ihrer Betonung nationaler Souveränität bestätigt. Die Grünliberale Partei (GLP/VLS), die sich als einzige für den Rahmenvertrag mit der EU eingesetzt hat, fällt auf 7.6 Prozent Prozent zurück und verliert 6 von 16 Sitzen im Nationalrat. Die Grünen (les Vert-e-s), die sich für eine starke Klimapolitik einsetzen, büssen 8.4 Prozent Wähleranteil ein und kommen noch auf 9.8 Prozent im Nationalrat. Sie fallen von 28 auf 23 Sitze zurück.

Alle Parteien, auch der Freisinn (FDP/PLR) mit 14.3 Prozent und 28 Sitzen, die Sozialdemokraten (SP/PS) mit 18.3 Prozent und 41 Sitzen sowie die Mitte (le Centre) neu mit 14.1 Prozent und 29 Sitzen im Nationalrat, haben das Thema Europa und die Beziehungen zur EU im Wahlkampf tunlichst vermieden. Die Frage ist müssig, ob das den Ausgang angesichts dringenderer Probleme namentlich bei der GLP und den Grünen verändert hätte. Interessanter ist die Frage, wie sich die verdrängten europapolitischen Herausforderungen in der kommenden Legislatur auswirken werden.

Es braucht internationale Zusammenarbeit

Die SVP wird vorerst selbstbewusst auf eine restriktivere Einwanderungspolitik drängen. Sie wird erneut die Umsetzung der 2014 knapp gewonnenen Masseneinwanderungsinitiative und damit von Artikel 121a der Bundesverfassung zur Arbeitsmigration einfordern. Sie wird Kontrollen an der Grenze und abschreckende Massnahmen gegen asylsuchende Wirtschaftsflüchtlinge verlangen. Im Einklang mit ihrer nationalkonservativen Ausrichtung und Ideologie wird sie autonome Massnahmen der Schweiz vorschlagen. Sie wird dabei bald feststellen müssen, dass all die Fragen der Migration nicht im Alleingang gelöst werden können. Dieser führt in die Sackgasse.

Die Abschiebung und Rückweisung von Flüchtenden in die Nachbarstaaten wird zu harschen Reaktionen und Vergeltungsmassnahmen führen, zumal Rückführungsverträge schwierig umzusetzen sind. Es bedarf der Solidarität und geregelter Verfahren mit der EU, es sei denn die SVP schlage die Errichtung von Internierungslagern vor. Weltweit wird die Klimamigration zunehmen und auch an den Schweizer Grenzen nicht haltmachen. Lösungen können auch hier nur mit der EU und in internationaler Zusammenarbeit gefunden werden.

Die Kündigung der Freizügigkeit und Einführung eines Punktesystems sowie von Kontingenten wird den Bedarf an Fachkräften nur mit grossen bürokratischem Aufwand seitens der Unternehmen sicherstellen können. Und gut qualifizierte Kräfte wollen ihre Familie mitnehmen, so dass das Ziel einer effektiven Beschränkung gegenüber dem heute in Europa freien Markt in der Praxis angesichts hier rückläufiger Geburtenraten kaum erreicht werden kann. Die ablehnende Haltung gegenüber ausserfamiliärer Kinderbetreuung wird das Problem des Fachkräftemangels weiter verschärfen. Die Erosion der bilateralen Verträge setzt die Industrie zusätzlich unter Druck, und mit dem einstweiligen Ausschluss der Schweiz aus der Forschungszusammenarbeit mit der EU verliert unser Land ihre besten Nachwuchskräfte in der Wissenschaft.

Autarkie ist keine tragfähige Lösung

Das gleiche gilt für die Sicherheitspolitik. Die nationale Sicherheit kann nicht im Alleingang mit der Aufrüstung der Schweizer Armee erzielt werden. Es genügt nicht, allein an der Grenze zu stehen und auf die nationale Souveränität und integrale Neutralität zu pochen. Die Rüstung kann autonom nicht finanziert werden und ist auf zuverlässige Kooperation mit den EU- und den Nato-Staaten angewiesen. Die heutigen Bedrohungen verlangen eine enge internationale Zusammenarbeit.

Das gleiche gilt für die Versorgung. Die Versorgung mit Energie kann nicht im Alleingang bewältigt werden, es sei denn die Wähler nehmen massiv höhere Kosten für notabene vermehrt fossil produzierten Strom in Kauf. Das Stromabkommen bleibt unabhängig der Wählergunst notwendig. Kommt es nicht, werden dies die Leute mit dem Portemonnaie, allenfalls auch mit Blackouts bezahlen. Sicherheit ist anders. Eine abgeschottete Landwirtschaft ist ebenfalls mit hohen Kosten verbunden und vermag im Fall eines klimabedingten Ernteausfalles das Land nicht annährend zu versorgen. Autarkie ist auch hier keine tragfähige Antwort.

SVP wird Verantwortung übernehmen müssen

Die SVP wird in all diesen Fragen Verantwortung übernehmen müssen. Sie wird ihre Wahlversprechen nur umsetzen können, wenn sie der Zusammenarbeit mit der EU zustimmt – in Fragen der Migration, der Klimapolitik und der Sicherheitspolitik, hier auch mit der Nato. Sie wird ihre Vorstellungen der nationalen Souveränität und Neutralität überdenken müssen. All die aufgestauten und verdrängten Probleme werden sich sonst weiter verschärfen. Bleiben sie ungelöst, hinterlassen sie enttäuschte und frustrierte WechselwählerInnen. Die heute verdrängte Europafrage wird dann unter Druck mit Bestimmtheit die Wahlen 2027 dominieren. Es liegt daher im Interesse gerade der SVP, tragfähige Lösungen schon vorher einzufahren. Auch die nächsten Wahlen werden über das Portemonnaie entschieden.

Aufgabe und Chance all der anderen Parteien mit ihrer grossen Mehrheit ist es, den Druck der verdrängten Probleme zu nutzen und nun eine Allianz der europäischen Vernunft zu schliessen. Sie gewinnen alle, wenn sie sich zusammenraufen und am gleichen Strick ziehen. Die Europafrage ist in dieser Legislatur Schlüssel nicht nur für die Erreichung der Klimaziele, sondern auch für die sozialen Anliegen der SP und der Grünen. Die Lebensmittelkosten, die Gesundheitskosten lassen sich ohne Abkommen mit der EU und mehr Wettbewerb nicht senken. Die FDP und GLP können hier ihren Beitrag leisten zur Stärkung des Schweizer Standortes. Die Gewerkschaften müssen einsehen, dass die nur Dank der SVP mögliche sture Haltung zum Lohnschutz zu viel Kollateralschaden verursacht. Sie trägt zur Erosion des Werkplatzes Schweiz bei und gefährdet zahlreiche Stellen im Land. Sie verspielt Chancen zu Gunsten einer prosperierenden Wirtschaft, die in innovativen Branchen neue Jobs schafft. Und der Mitte kommt das Vorrecht zu, in der nächsten Legislatur als Zünglein an der Waage zu entscheiden und sich für die oder eine andere Lösung einzusetzen. Alle aber müssen aus sachlichen Gründen in die richtige Richtung nach Europa gehen. Polen hat es uns mit seinen Wahlen vom 15. Oktober 2023 vorgemacht.

EU-Sanktionen ignoriert – die Schweiz schadet sich selbst von Daniel Woker

Die Nichtteilnahme der Schweiz an Sanktionen der EU gegen Personen und Unternehmen aus Unrechtsstaaten wie China, Russland und Nordkorea ist ethisch inakzeptabel, wirtschaftspolitisch höchstens kurzfristig nützlich, sicherheits- und europapolitisch falsch und für das internationale Ansehen der Schweiz verheerend.  

Dank unabhängigen schweizerischen Medien wie der Neuen Zürcher Zeitung und dem Tages-Anzeiger ist ein veritabler Skandal aufgedeckt worden: Laut offiziell bestätigten Berichten hat der Bundesrat bereits vor rund zehn Monaten und ohne Orientierung der Öffentlichkeit beschlossen, eine rund 1000-seitige Liste der EU mit Hunderten von überführten Straftätern aus Unrechtsstaaten zu ignorieren. Diese haben sich gravierender Verbrechen im Bereich der Menschenrechte, des Terrorismus, der chemischen Kampfstoffe und der Cyberkriminalität schuldig gemacht.

Ein Beispiel daraus sind Chinesen, die individuell für genozid-ähnliche – dieser Wortlaut stammt aus einem Bericht der UNO-Menschenrechtskommission, der die Schweiz angehört – Straftaten gegen ihre uigurische Minderheit verantwortlich sind. Sie werden dafür von den EU-Staaten mit Sanktionen belegt. Der Entscheid des Bundesrates, hier nicht mitzutun, ist offensichtlich ethisch inakzeptabel, was keiner weiteren Erklärung bedarf, aber auch kurzsichtig, weil er für die Schweiz nur Nachteile bringt.

Aus Rücksicht auf Wirtschaft und Neutralität

Wirtschaftsinteressen und Neutralität werden von den zuständigen Bundesbehörden angegeben, um den Entscheid zu rechtfertigen. Jedoch ist die schweizerische Neutralität völkerrechtlich überholt, findet im westlichen Ausland keine Anerkennung mehr und existiert nur noch als helvetische Trutzburg. Eine wichtige Rolle bei diesem Entscheid haben offensichtlich Interventionen der chinesischen Regierung gespielt, die Konsequenzen für die schweizerische Wirtschaft androhen. Soweit sind wir also: Wilhelm Tell’s Söhne kuschen vor dem Drachen aus Peking.

Dies ist nicht nur beschämend, sondern mittel- und längerfristig auch nutzlos. Denn die schweizerische Wirtschaft ist so eng mit den westlichen Partnerländern verflochten, dass in Deutschland oder den USA verhängte Sanktionen auch von schweizerischen Unternehmen vollzogen werden müssen – sei es als Tochter oder als Besitzer der betroffenen Firmen in Industrie und Dienstleistung oder auch nur wegen Abwicklung eines Geschäftes in Dollar. Soviel sollte man eigentlich aus den zahlreichen Affären etwa in der helvetischen Finanzwirtschaft gelernt haben.

Das Freihandelsabkommen der Schweiz mit China (FTA) – das bei Teilnahme Berns an den Sanktionen allenfalls von Beijing in Frage gestellt werden könnte – bietet  höchstens temporäre Vorteile. Falls die EU ihrerseits mit China ein FTA oder ähnlich abschliesst, ist das schweizerische Pendant überholt. Falls dies nicht eintreffen sollte, wird Brüssel kaum zusehen, wie aus der Schweiz heraus operierende Wirtschaftsakteure gegenüber EU-Mitgliedern dauerhaft bevorteilt würden.

Kontraproduktiv für Sicherheits- und Europapolitik

Ausser bei der SVP und bei auf dem anderen politischen Flügel naiven Pazifisten hat in der schweizerischen Politik mit dem Ukrainekrieg ein sicherheitspolitisches Umdenken eingesetzt: Eine engere militärische Zusammenarbeit mit NATO und auch EU wird im Rahmen erhöhter Leistungen für die Landesverteidigung für unverzichtbar angesehen. Die Schweiz ist hier weitgehend Bittsteller und auf das Wohlwollen westlicher Partnerländer angewiesen. Keine Sanktionen gegen bekannte Terroristen oder auch chinesische Übeltäter zu ergreifen, und damit den Bemühungen dieser beiden Organisationen in den Rücken zu fallen, widerspricht dem Ziel sicherheitspolitische Annäherung diametral. Es ist kein Zufall, dass die für den negativen Entscheid leitende Bundesstelle im vom SVP-Bundesrat Guy Parmelin geführten Volkswirtschaftsdepartement angesiedelt ist.

In jüngster Zeit sind sowohl von der EU-Kommission als auch vom EU-Parlament längst bekannte Signale an die um andauernden Zugang zum Binnenmarkt kämpfende Schweiz nachdrücklich wiederholt worden. So wird es keinen Weg geben um die grundsätzliche Akzeptanz herum von Eckpfeilern der europäischen Architektur wie etwa dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Dies gilt ebenso für den von der EU angenommenen Grundsatz, dass das unter Xi Jinping zunehmend totalitäre China neben Handelspartner eben auch systemischer Rivale ist. Was bedeutet, dass gravierende Menschenrechtsverletzungen sanktioniert werden, ungeachtet und gleichlaufend mit Handelserleichterungen. In einem Moment, wo die bilateralen Beziehungen zwischen Bern und Brüssel ohnehin bis zum Zerreissen angespannt sind, erscheint das unnötige Ausscheren Berns aus der beschriebenen Sanktionsfront europapolitisch kontraproduktiv.

Das internationale Ansehen des Landes leidet

Von zentraler Bedeutung für uns ist das Ansehen der Schweiz im westlichen Ausland, beruhend auf der Überzeugung anderer, dass Helvetien demselben Wertekanon verpflichtet ist. Und nicht wie wir in Moskau, Peking, Teheran und anderen Hauptstädten gesehen werden, wo ohnehin Macht vor Recht gilt und damit auch nur Ersteres im bilateralen Verhältnis zählt. Die vage Vorstellung, die Schweiz könne als weisser Vermittlungsritter in und aus Europa im globalen Strategieumfeld eine Rolle spielen, ist illusorisch. Unser Land wird vielmehr allseits immer stärker als reiner Profiteur gesehen, der alle Vorteile des von der EU geschaffenen europäischen Umfeldes geniesst, ohne entsprechende Verpflichtungen zu übernehmen.

Wer etwas anderes behauptet, kennt unser gegenwärtiges internationales Umfeld nicht. Wie Ungarn, Polen unter nationalistischen Regierungen und allenfalls jetzt auch die Slowakei werden wir zunehmend als Bremsklotz auf dem Weg zu einer grösseren europäischen Autonomie gesehen. Ein entsprechendes Beispiel liefern kürzliche Gespräche mit offiziellen Stellen und der Zivilgesellschaft in den baltischen Staaten, die mir aus erster Hand zugekommen sind. Die zögernde und weitgehend kümmerliche Teilnahme der Schweiz an den Bemühungen zugunsten der Ukraine wurden als arttypisches Beispiel bezeichnet des nur auf Profit ausgerichteten Aussenseiters.

Noch vor 20 Jahren wurden wir in Brüssel als reicher, wenn auch bedächtiger Teilnehmer an der  europäischen Einigung von Allen mit Wohlwollen gesehen. Das dürfte sich spätestens seit dem Ukrainekrieg ins Gegenteil verkehrt haben: Wir sind jetzt ein im besten Fall lästiger Beifahrer, auf den letztlich auch verzichtet werden kann. Ausser bei verhockten Nationalisten und wolkigen Idealisten dürfte allen klar sein, was das für die Schweiz bedeutet.

Voll dabei und doch isoliert in Europa von Martin Gollmer

Bei der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG), einem neuen Debattier- und Datingklub für europäische Staats- und Regierungschefs, macht die Schweiz voll mit. Doch dort, wo in Europa auch für unser Land relevante Entscheide gefällt werden, bei EU und Nato, ist die Schweiz nach wie vor nicht Mitglied.

Am 5. Oktober 2023 hat im südspanischen Granada das nun schon dritte Treffen europäischer Staats- und Regierungschefs im Rahmen der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) stattgefunden. Dieses Format geht auf eine Idee des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron zurück, die er im  Mai 2022 vor dem EU-Parlament in Strassburg vortrug. Nachdem der russische Angriff auf die Ukraine weitere Beitrittsanträge aus Osteuropa ausgelöst hatte – unter anderem von der Ukraine selbst – sagte Macron in seiner Rede: «Die Europäische Union kann aufgrund ihres hohen Grades an Integration und ihrer ehrgeizigen Ziele kurzfristig nicht das einzige Mittel sein, den europäischen Kontinent zu strukturieren.» Es sei die historische Pflicht der EU, über eine geeignete Organisation des Kontinents nachzudenken und den Beitritt nicht als einzige Antwort anzusehen.

Macron schlug deshalb die Schaffung einer «Europäischen Politischen Gemeinschaft» vor. Diese neue Organisation – eine Art Konföderation – würde es europäischen demokratischen Staaten, die das Wertefundament der EU teilen, ermöglichen einen neuen Raum der politischen Zusammenarbeit zu finden in Bereichen wie Sicherheit, Energie, Verkehr, Investitionen, Infrastruktur oder Personenverkehr. Sich dieser Gemeinschaft anzuschliessen, müsste nicht zwangsläufig zu einem EU-Beitritt führen, genauso wie sie auch jenen, die die Europäische Union verlassen haben, nicht verschlossen bliebe. Macron verstand, dass die EU angesichts der russischen Aggression in Europa ein Forum zum Austausch auf höchster politischer Ebene brauchte, dass über sie selbst hinausreichte.

Illusterer Klub mit schwierigen Mitgliedern

Zur EPG gehören zurzeit 47 Staaten – die 27 EU-Länder und die Resteuropäer von Albanien über die Schweiz bis zum Vereinigten Königreich. Nicht dabei sind Russland und Weissrussland. Lupenreine Demokratien, Friedensförderer und Rechtsstaatverfechter sind auch so nicht alle. In der EU bereiten diesbezüglich Polen und Ungarn Sorgen. Mitglied in der EPG ist zudem Aserbaidschan, das eben in einem Krieg gegen Armenien (ebenfalls Mitglied) die Region Berg Karabach annektiert hat. Auch Serbien ist dabei, das im Konflikt mit Kosovo (ebenfalls Mitglied) derzeit wieder für negative Schlagzeilen sorgt. Schliesslich gehört auch die Türkei zum Klub trotz ihres autokratischen Regimes von Präsident Recep Tayyip Erdogan.

Die Treffen der Staats- und Regierungschefs der EPG finden halbjährlich statt – einmal in einem EU-Land, einmal ausserhalb der EU. Die Zusammenkünfte haben informellen Charakter; gemeinsame Beschlüsse oder eine Abschlusserklärung gibt es keine. Auf der Agenda stehen jeweils Diskussionen zu aktuellen Themen – in Granada gab es drei Arbeitsgruppen zu den Bereichen Digitalisierung, Energie/grüner Umbau und Multilateralismus/Geostrategie. Daneben kommt es zu zahlreichen bilateralen Treffen zwischen Staats- und Regierungschefs. So traf etwa Bundespräsident Alain Berset, der die Schweiz in Granada zusammen mit Staatssekretär Alexandre Fasel vertrat, Frankreichs Präsidenten Macron, die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die Ministerpräsidenten von Luxemburg, den Niederlanden, Irlands und Albaniens sowie die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Berset bezeichnete denn auch die EPG als sehr nützliches Format.

Abwesend, dort wo es wirklich zählt

In der EPG ist die Schweiz also voll dabei. Das ist gut so. Vor allem die Möglichkeit, im Rahmen der EPG Kontakte zu anderen europäischen Ländern – und insbesondere zu EU-Staaten – knüpfen zu können, ist für die Schweiz in ihrer selbstgewählten teilweisen Isolation in Europa wertvoll. Trotzdem bleibt die EPG vorerst ein Debattier- und Datingklub für europäische Staats- und Regierungschefs. Dies, auch wenn manche Beobachter die EPG schon als einen der Kreise ansehen, die eine EU mit verschiedenen Integrationsgraden zukünftig um sich herum ziehen könnte. Die EPG kann eine Mitgliedschaft der Schweiz in der EU – der wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Organisation Europas – denn auch einstweilen nicht ersetzen. Auch ein Ersatz für eine Mitgliedschaft in der Nato, dem nordatlantischen Verteidigungsbündnis, ist die EPG nicht. Die Nato ist die wichtigste sicherheits- und verteidigungspolitische Organisation Europas.

Staats- und Regierungschefs, Minister, Diplomaten, Regierungsbeamte und Parlamentarier aus den Mitgliedstaaten dieser beiden Staatenbündnisse treffen sich in hohem Rhythmus, diskutieren Themen der Aktualität und fassen Beschlüsse dazu. Von diesem regelmässigen Austausch sind Vertreter der Schweiz ausgeschlossen. Sie können – sieht man von ein paar wenigen Ausnahmen ab – nicht mitreden, wenn in den Gremien von EU und Nato Entscheidungen vorbereitet werden. Und sie können überhaupt nirgends mitentscheiden. Mit andern Worten: Die Schweiz ist in den beiden wichtigsten Organisationen Europas als Nicht-Mitglied weitgehend isoliert und ohne Stimme.

Eigentlich ein unhaltbarer Zustand

Das ist umso problematischer, als das, was EU und Nato tun, weit über das Gebiet ihrer Mitgliedstaaten hinaus Wirkung hat. Auch die Schweiz ist betroffen. So übernimmt sie seit über 30 Jahren regelmässig und bewusst EU-Recht, um Nachteile ihrer Einwohner und Unternehmen im Verkehr mit der Europäischen Union zu vermeiden. Dieser Nachvollzug hat beachtliche Ausmasse erreicht. Wissenschaftlichen Studien zufolge sollen zwischen 40 und 60 Prozent des schweizerischen Rechts direkt oder indirekt von  EU-Recht beeinflusst sein. Damit hat die Schweiz gemäss dem an der Universität Zürich lehrenden Europarechtlers Matthias Oesch durchaus wichtige Teile ihrer Rechtssetzung faktisch an die EU delegiert. Das ist ein unhaltbarer Zustand für ein Land, das grossen Wert auf seine Souveränität legt.

Auch von den Tätigkeiten der Nato ist die Schweiz betroffen. Was diese in Sachen Verteidigung tut oder lässt, beeinflusst auch die Sicherheit der Eidgenossenschaft. Mitten in Nato-Gebiet gelegen, profitiert die Schweiz vom Schutzschirm, den das Militärbündnis über Europa aufgespannt hat. Das ist wichtig, denn das Land könnte sich im Fall eines militärischen Angriffs kaum lange selbst verteidigen.

Doch statt in der EU und in der Nato voll mitzumachen und die Zukunft Europas mitzugestalten und mitzuentscheiden, begnügt sich die Schweiz mit Kooperationen und bilateralen Verträgen. Immerhin will sie diese ausbauen. Doch auch das ist immer noch zu wenig für ein Land, das mitten in Europa liegt und mit diesem kulturell, wertemässig und wirtschaftlich aufs Engste verbunden ist.

Europakolloquium, 21.9.: Präsentation D. Martin

Dominique Martin, Leiter Public Affairs des Verbandes Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen ( VSE) begründete am 21.September 23 an einer von ASE gemeinsam mit dem Europa Institut Basel organisierten Anlass eingehend die Notwendigkeit eines Energieabkommens mit der EU aus Sicht der betroffenen Branche. Seine hier wiedergegebenen Folien sprechen für sich fassen die gemachen Überlegungen und Argumente konzis zusammen. Ohne Abkommen läuft die Schweiz nach 2024 ernsthaft Gefahr der Versorgungsinstabilität und möglichen Blackouts.

Vortrag von Dr. Martin