Europa hat die Wahlen in der Schweiz verloren – oder doch nicht ganz? Von Thomas Cottier

Die EU-feindliche SVP legt im Nationalrat deutlich Sitze zu, die EU-freundliche GLP büsst mehrere Mandate ein. Das zeigt: Europa hat die Wahlen 2023 ins eidgenössische Parlament verloren. Umso wichtiger ist deshalb jetzt, dass alle politischen Kräfte diesseits der SVP eine Allianz der europäischen Vernunft schliessen.

Die Bemühungen um ein geregeltes Verhältnis zur Europäischen Union (EU) gehören klar zu den Verlierern der National- und Ständeratswahlen vom 22. Oktober 2023. Die Schweizerische Volkspartei (SVP/UDC), die weitere Integrationsschritte kategorisch ablehnt, hat ihren Wähleranteil im Nationalrat auf 27.9 Prozent erhöht und ist fortan mit 61 Sitzen im Nationalrat vertreten; die Ergebnisse im Ständerat sind noch offen. Die Partei konnte sich auf Kosten nicht stimmberechtigter Personen mit dem Thema und dem Feindbild Migration durchsetzen. Sie sieht sich in ihrer EU-feindlichen Haltung und ihrer Betonung nationaler Souveränität bestätigt. Die Grünliberale Partei (GLP/VLS), die sich als einzige für den Rahmenvertrag mit der EU eingesetzt hat, fällt auf 7.6 Prozent Prozent zurück und verliert 6 von 16 Sitzen im Nationalrat. Die Grünen (les Vert-e-s), die sich für eine starke Klimapolitik einsetzen, büssen 8.4 Prozent Wähleranteil ein und kommen noch auf 9.8 Prozent im Nationalrat. Sie fallen von 28 auf 23 Sitze zurück.

Alle Parteien, auch der Freisinn (FDP/PLR) mit 14.3 Prozent und 28 Sitzen, die Sozialdemokraten (SP/PS) mit 18.3 Prozent und 41 Sitzen sowie die Mitte (le Centre) neu mit 14.1 Prozent und 29 Sitzen im Nationalrat, haben das Thema Europa und die Beziehungen zur EU im Wahlkampf tunlichst vermieden. Die Frage ist müssig, ob das den Ausgang angesichts dringenderer Probleme namentlich bei der GLP und den Grünen verändert hätte. Interessanter ist die Frage, wie sich die verdrängten europapolitischen Herausforderungen in der kommenden Legislatur auswirken werden.

Es braucht internationale Zusammenarbeit

Die SVP wird vorerst selbstbewusst auf eine restriktivere Einwanderungspolitik drängen. Sie wird erneut die Umsetzung der 2014 knapp gewonnenen Masseneinwanderungsinitiative und damit von Artikel 121a der Bundesverfassung zur Arbeitsmigration einfordern. Sie wird Kontrollen an der Grenze und abschreckende Massnahmen gegen asylsuchende Wirtschaftsflüchtlinge verlangen. Im Einklang mit ihrer nationalkonservativen Ausrichtung und Ideologie wird sie autonome Massnahmen der Schweiz vorschlagen. Sie wird dabei bald feststellen müssen, dass all die Fragen der Migration nicht im Alleingang gelöst werden können. Dieser führt in die Sackgasse.

Die Abschiebung und Rückweisung von Flüchtenden in die Nachbarstaaten wird zu harschen Reaktionen und Vergeltungsmassnahmen führen, zumal Rückführungsverträge schwierig umzusetzen sind. Es bedarf der Solidarität und geregelter Verfahren mit der EU, es sei denn die SVP schlage die Errichtung von Internierungslagern vor. Weltweit wird die Klimamigration zunehmen und auch an den Schweizer Grenzen nicht haltmachen. Lösungen können auch hier nur mit der EU und in internationaler Zusammenarbeit gefunden werden.

Die Kündigung der Freizügigkeit und Einführung eines Punktesystems sowie von Kontingenten wird den Bedarf an Fachkräften nur mit grossen bürokratischem Aufwand seitens der Unternehmen sicherstellen können. Und gut qualifizierte Kräfte wollen ihre Familie mitnehmen, so dass das Ziel einer effektiven Beschränkung gegenüber dem heute in Europa freien Markt in der Praxis angesichts hier rückläufiger Geburtenraten kaum erreicht werden kann. Die ablehnende Haltung gegenüber ausserfamiliärer Kinderbetreuung wird das Problem des Fachkräftemangels weiter verschärfen. Die Erosion der bilateralen Verträge setzt die Industrie zusätzlich unter Druck, und mit dem einstweiligen Ausschluss der Schweiz aus der Forschungszusammenarbeit mit der EU verliert unser Land ihre besten Nachwuchskräfte in der Wissenschaft.

Autarkie ist keine tragfähige Lösung

Das gleiche gilt für die Sicherheitspolitik. Die nationale Sicherheit kann nicht im Alleingang mit der Aufrüstung der Schweizer Armee erzielt werden. Es genügt nicht, allein an der Grenze zu stehen und auf die nationale Souveränität und integrale Neutralität zu pochen. Die Rüstung kann autonom nicht finanziert werden und ist auf zuverlässige Kooperation mit den EU- und den Nato-Staaten angewiesen. Die heutigen Bedrohungen verlangen eine enge internationale Zusammenarbeit.

Das gleiche gilt für die Versorgung. Die Versorgung mit Energie kann nicht im Alleingang bewältigt werden, es sei denn die Wähler nehmen massiv höhere Kosten für notabene vermehrt fossil produzierten Strom in Kauf. Das Stromabkommen bleibt unabhängig der Wählergunst notwendig. Kommt es nicht, werden dies die Leute mit dem Portemonnaie, allenfalls auch mit Blackouts bezahlen. Sicherheit ist anders. Eine abgeschottete Landwirtschaft ist ebenfalls mit hohen Kosten verbunden und vermag im Fall eines klimabedingten Ernteausfalles das Land nicht annährend zu versorgen. Autarkie ist auch hier keine tragfähige Antwort.

SVP wird Verantwortung übernehmen müssen

Die SVP wird in all diesen Fragen Verantwortung übernehmen müssen. Sie wird ihre Wahlversprechen nur umsetzen können, wenn sie der Zusammenarbeit mit der EU zustimmt – in Fragen der Migration, der Klimapolitik und der Sicherheitspolitik, hier auch mit der Nato. Sie wird ihre Vorstellungen der nationalen Souveränität und Neutralität überdenken müssen. All die aufgestauten und verdrängten Probleme werden sich sonst weiter verschärfen. Bleiben sie ungelöst, hinterlassen sie enttäuschte und frustrierte WechselwählerInnen. Die heute verdrängte Europafrage wird dann unter Druck mit Bestimmtheit die Wahlen 2027 dominieren. Es liegt daher im Interesse gerade der SVP, tragfähige Lösungen schon vorher einzufahren. Auch die nächsten Wahlen werden über das Portemonnaie entschieden.

Aufgabe und Chance all der anderen Parteien mit ihrer grossen Mehrheit ist es, den Druck der verdrängten Probleme zu nutzen und nun eine Allianz der europäischen Vernunft zu schliessen. Sie gewinnen alle, wenn sie sich zusammenraufen und am gleichen Strick ziehen. Die Europafrage ist in dieser Legislatur Schlüssel nicht nur für die Erreichung der Klimaziele, sondern auch für die sozialen Anliegen der SP und der Grünen. Die Lebensmittelkosten, die Gesundheitskosten lassen sich ohne Abkommen mit der EU und mehr Wettbewerb nicht senken. Die FDP und GLP können hier ihren Beitrag leisten zur Stärkung des Schweizer Standortes. Die Gewerkschaften müssen einsehen, dass die nur Dank der SVP mögliche sture Haltung zum Lohnschutz zu viel Kollateralschaden verursacht. Sie trägt zur Erosion des Werkplatzes Schweiz bei und gefährdet zahlreiche Stellen im Land. Sie verspielt Chancen zu Gunsten einer prosperierenden Wirtschaft, die in innovativen Branchen neue Jobs schafft. Und der Mitte kommt das Vorrecht zu, in der nächsten Legislatur als Zünglein an der Waage zu entscheiden und sich für die oder eine andere Lösung einzusetzen. Alle aber müssen aus sachlichen Gründen in die richtige Richtung nach Europa gehen. Polen hat es uns mit seinen Wahlen vom 15. Oktober 2023 vorgemacht.

EU-Sanktionen ignoriert – die Schweiz schadet sich selbst von Daniel Woker

Die Nichtteilnahme der Schweiz an Sanktionen der EU gegen Personen und Unternehmen aus Unrechtsstaaten wie China, Russland und Nordkorea ist ethisch inakzeptabel, wirtschaftspolitisch höchstens kurzfristig nützlich, sicherheits- und europapolitisch falsch und für das internationale Ansehen der Schweiz verheerend.  

Dank unabhängigen schweizerischen Medien wie der Neuen Zürcher Zeitung und dem Tages-Anzeiger ist ein veritabler Skandal aufgedeckt worden: Laut offiziell bestätigten Berichten hat der Bundesrat bereits vor rund zehn Monaten und ohne Orientierung der Öffentlichkeit beschlossen, eine rund 1000-seitige Liste der EU mit Hunderten von überführten Straftätern aus Unrechtsstaaten zu ignorieren. Diese haben sich gravierender Verbrechen im Bereich der Menschenrechte, des Terrorismus, der chemischen Kampfstoffe und der Cyberkriminalität schuldig gemacht.

Ein Beispiel daraus sind Chinesen, die individuell für genozid-ähnliche – dieser Wortlaut stammt aus einem Bericht der UNO-Menschenrechtskommission, der die Schweiz angehört – Straftaten gegen ihre uigurische Minderheit verantwortlich sind. Sie werden dafür von den EU-Staaten mit Sanktionen belegt. Der Entscheid des Bundesrates, hier nicht mitzutun, ist offensichtlich ethisch inakzeptabel, was keiner weiteren Erklärung bedarf, aber auch kurzsichtig, weil er für die Schweiz nur Nachteile bringt.

Aus Rücksicht auf Wirtschaft und Neutralität

Wirtschaftsinteressen und Neutralität werden von den zuständigen Bundesbehörden angegeben, um den Entscheid zu rechtfertigen. Jedoch ist die schweizerische Neutralität völkerrechtlich überholt, findet im westlichen Ausland keine Anerkennung mehr und existiert nur noch als helvetische Trutzburg. Eine wichtige Rolle bei diesem Entscheid haben offensichtlich Interventionen der chinesischen Regierung gespielt, die Konsequenzen für die schweizerische Wirtschaft androhen. Soweit sind wir also: Wilhelm Tell’s Söhne kuschen vor dem Drachen aus Peking.

Dies ist nicht nur beschämend, sondern mittel- und längerfristig auch nutzlos. Denn die schweizerische Wirtschaft ist so eng mit den westlichen Partnerländern verflochten, dass in Deutschland oder den USA verhängte Sanktionen auch von schweizerischen Unternehmen vollzogen werden müssen – sei es als Tochter oder als Besitzer der betroffenen Firmen in Industrie und Dienstleistung oder auch nur wegen Abwicklung eines Geschäftes in Dollar. Soviel sollte man eigentlich aus den zahlreichen Affären etwa in der helvetischen Finanzwirtschaft gelernt haben.

Das Freihandelsabkommen der Schweiz mit China (FTA) – das bei Teilnahme Berns an den Sanktionen allenfalls von Beijing in Frage gestellt werden könnte – bietet  höchstens temporäre Vorteile. Falls die EU ihrerseits mit China ein FTA oder ähnlich abschliesst, ist das schweizerische Pendant überholt. Falls dies nicht eintreffen sollte, wird Brüssel kaum zusehen, wie aus der Schweiz heraus operierende Wirtschaftsakteure gegenüber EU-Mitgliedern dauerhaft bevorteilt würden.

Kontraproduktiv für Sicherheits- und Europapolitik

Ausser bei der SVP und bei auf dem anderen politischen Flügel naiven Pazifisten hat in der schweizerischen Politik mit dem Ukrainekrieg ein sicherheitspolitisches Umdenken eingesetzt: Eine engere militärische Zusammenarbeit mit NATO und auch EU wird im Rahmen erhöhter Leistungen für die Landesverteidigung für unverzichtbar angesehen. Die Schweiz ist hier weitgehend Bittsteller und auf das Wohlwollen westlicher Partnerländer angewiesen. Keine Sanktionen gegen bekannte Terroristen oder auch chinesische Übeltäter zu ergreifen, und damit den Bemühungen dieser beiden Organisationen in den Rücken zu fallen, widerspricht dem Ziel sicherheitspolitische Annäherung diametral. Es ist kein Zufall, dass die für den negativen Entscheid leitende Bundesstelle im vom SVP-Bundesrat Guy Parmelin geführten Volkswirtschaftsdepartement angesiedelt ist.

In jüngster Zeit sind sowohl von der EU-Kommission als auch vom EU-Parlament längst bekannte Signale an die um andauernden Zugang zum Binnenmarkt kämpfende Schweiz nachdrücklich wiederholt worden. So wird es keinen Weg geben um die grundsätzliche Akzeptanz herum von Eckpfeilern der europäischen Architektur wie etwa dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Dies gilt ebenso für den von der EU angenommenen Grundsatz, dass das unter Xi Jinping zunehmend totalitäre China neben Handelspartner eben auch systemischer Rivale ist. Was bedeutet, dass gravierende Menschenrechtsverletzungen sanktioniert werden, ungeachtet und gleichlaufend mit Handelserleichterungen. In einem Moment, wo die bilateralen Beziehungen zwischen Bern und Brüssel ohnehin bis zum Zerreissen angespannt sind, erscheint das unnötige Ausscheren Berns aus der beschriebenen Sanktionsfront europapolitisch kontraproduktiv.

Das internationale Ansehen des Landes leidet

Von zentraler Bedeutung für uns ist das Ansehen der Schweiz im westlichen Ausland, beruhend auf der Überzeugung anderer, dass Helvetien demselben Wertekanon verpflichtet ist. Und nicht wie wir in Moskau, Peking, Teheran und anderen Hauptstädten gesehen werden, wo ohnehin Macht vor Recht gilt und damit auch nur Ersteres im bilateralen Verhältnis zählt. Die vage Vorstellung, die Schweiz könne als weisser Vermittlungsritter in und aus Europa im globalen Strategieumfeld eine Rolle spielen, ist illusorisch. Unser Land wird vielmehr allseits immer stärker als reiner Profiteur gesehen, der alle Vorteile des von der EU geschaffenen europäischen Umfeldes geniesst, ohne entsprechende Verpflichtungen zu übernehmen.

Wer etwas anderes behauptet, kennt unser gegenwärtiges internationales Umfeld nicht. Wie Ungarn, Polen unter nationalistischen Regierungen und allenfalls jetzt auch die Slowakei werden wir zunehmend als Bremsklotz auf dem Weg zu einer grösseren europäischen Autonomie gesehen. Ein entsprechendes Beispiel liefern kürzliche Gespräche mit offiziellen Stellen und der Zivilgesellschaft in den baltischen Staaten, die mir aus erster Hand zugekommen sind. Die zögernde und weitgehend kümmerliche Teilnahme der Schweiz an den Bemühungen zugunsten der Ukraine wurden als arttypisches Beispiel bezeichnet des nur auf Profit ausgerichteten Aussenseiters.

Noch vor 20 Jahren wurden wir in Brüssel als reicher, wenn auch bedächtiger Teilnehmer an der  europäischen Einigung von Allen mit Wohlwollen gesehen. Das dürfte sich spätestens seit dem Ukrainekrieg ins Gegenteil verkehrt haben: Wir sind jetzt ein im besten Fall lästiger Beifahrer, auf den letztlich auch verzichtet werden kann. Ausser bei verhockten Nationalisten und wolkigen Idealisten dürfte allen klar sein, was das für die Schweiz bedeutet.

Voll dabei und doch isoliert in Europa von Martin Gollmer

Bei der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG), einem neuen Debattier- und Datingklub für europäische Staats- und Regierungschefs, macht die Schweiz voll mit. Doch dort, wo in Europa auch für unser Land relevante Entscheide gefällt werden, bei EU und Nato, ist die Schweiz nach wie vor nicht Mitglied.

Am 5. Oktober 2023 hat im südspanischen Granada das nun schon dritte Treffen europäischer Staats- und Regierungschefs im Rahmen der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) stattgefunden. Dieses Format geht auf eine Idee des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron zurück, die er im  Mai 2022 vor dem EU-Parlament in Strassburg vortrug. Nachdem der russische Angriff auf die Ukraine weitere Beitrittsanträge aus Osteuropa ausgelöst hatte – unter anderem von der Ukraine selbst – sagte Macron in seiner Rede: «Die Europäische Union kann aufgrund ihres hohen Grades an Integration und ihrer ehrgeizigen Ziele kurzfristig nicht das einzige Mittel sein, den europäischen Kontinent zu strukturieren.» Es sei die historische Pflicht der EU, über eine geeignete Organisation des Kontinents nachzudenken und den Beitritt nicht als einzige Antwort anzusehen.

Macron schlug deshalb die Schaffung einer «Europäischen Politischen Gemeinschaft» vor. Diese neue Organisation – eine Art Konföderation – würde es europäischen demokratischen Staaten, die das Wertefundament der EU teilen, ermöglichen einen neuen Raum der politischen Zusammenarbeit zu finden in Bereichen wie Sicherheit, Energie, Verkehr, Investitionen, Infrastruktur oder Personenverkehr. Sich dieser Gemeinschaft anzuschliessen, müsste nicht zwangsläufig zu einem EU-Beitritt führen, genauso wie sie auch jenen, die die Europäische Union verlassen haben, nicht verschlossen bliebe. Macron verstand, dass die EU angesichts der russischen Aggression in Europa ein Forum zum Austausch auf höchster politischer Ebene brauchte, dass über sie selbst hinausreichte.

Illusterer Klub mit schwierigen Mitgliedern

Zur EPG gehören zurzeit 47 Staaten – die 27 EU-Länder und die Resteuropäer von Albanien über die Schweiz bis zum Vereinigten Königreich. Nicht dabei sind Russland und Weissrussland. Lupenreine Demokratien, Friedensförderer und Rechtsstaatverfechter sind auch so nicht alle. In der EU bereiten diesbezüglich Polen und Ungarn Sorgen. Mitglied in der EPG ist zudem Aserbaidschan, das eben in einem Krieg gegen Armenien (ebenfalls Mitglied) die Region Berg Karabach annektiert hat. Auch Serbien ist dabei, das im Konflikt mit Kosovo (ebenfalls Mitglied) derzeit wieder für negative Schlagzeilen sorgt. Schliesslich gehört auch die Türkei zum Klub trotz ihres autokratischen Regimes von Präsident Recep Tayyip Erdogan.

Die Treffen der Staats- und Regierungschefs der EPG finden halbjährlich statt – einmal in einem EU-Land, einmal ausserhalb der EU. Die Zusammenkünfte haben informellen Charakter; gemeinsame Beschlüsse oder eine Abschlusserklärung gibt es keine. Auf der Agenda stehen jeweils Diskussionen zu aktuellen Themen – in Granada gab es drei Arbeitsgruppen zu den Bereichen Digitalisierung, Energie/grüner Umbau und Multilateralismus/Geostrategie. Daneben kommt es zu zahlreichen bilateralen Treffen zwischen Staats- und Regierungschefs. So traf etwa Bundespräsident Alain Berset, der die Schweiz in Granada zusammen mit Staatssekretär Alexandre Fasel vertrat, Frankreichs Präsidenten Macron, die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die Ministerpräsidenten von Luxemburg, den Niederlanden, Irlands und Albaniens sowie die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Berset bezeichnete denn auch die EPG als sehr nützliches Format.

Abwesend, dort wo es wirklich zählt

In der EPG ist die Schweiz also voll dabei. Das ist gut so. Vor allem die Möglichkeit, im Rahmen der EPG Kontakte zu anderen europäischen Ländern – und insbesondere zu EU-Staaten – knüpfen zu können, ist für die Schweiz in ihrer selbstgewählten teilweisen Isolation in Europa wertvoll. Trotzdem bleibt die EPG vorerst ein Debattier- und Datingklub für europäische Staats- und Regierungschefs. Dies, auch wenn manche Beobachter die EPG schon als einen der Kreise ansehen, die eine EU mit verschiedenen Integrationsgraden zukünftig um sich herum ziehen könnte. Die EPG kann eine Mitgliedschaft der Schweiz in der EU – der wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Organisation Europas – denn auch einstweilen nicht ersetzen. Auch ein Ersatz für eine Mitgliedschaft in der Nato, dem nordatlantischen Verteidigungsbündnis, ist die EPG nicht. Die Nato ist die wichtigste sicherheits- und verteidigungspolitische Organisation Europas.

Staats- und Regierungschefs, Minister, Diplomaten, Regierungsbeamte und Parlamentarier aus den Mitgliedstaaten dieser beiden Staatenbündnisse treffen sich in hohem Rhythmus, diskutieren Themen der Aktualität und fassen Beschlüsse dazu. Von diesem regelmässigen Austausch sind Vertreter der Schweiz ausgeschlossen. Sie können – sieht man von ein paar wenigen Ausnahmen ab – nicht mitreden, wenn in den Gremien von EU und Nato Entscheidungen vorbereitet werden. Und sie können überhaupt nirgends mitentscheiden. Mit andern Worten: Die Schweiz ist in den beiden wichtigsten Organisationen Europas als Nicht-Mitglied weitgehend isoliert und ohne Stimme.

Eigentlich ein unhaltbarer Zustand

Das ist umso problematischer, als das, was EU und Nato tun, weit über das Gebiet ihrer Mitgliedstaaten hinaus Wirkung hat. Auch die Schweiz ist betroffen. So übernimmt sie seit über 30 Jahren regelmässig und bewusst EU-Recht, um Nachteile ihrer Einwohner und Unternehmen im Verkehr mit der Europäischen Union zu vermeiden. Dieser Nachvollzug hat beachtliche Ausmasse erreicht. Wissenschaftlichen Studien zufolge sollen zwischen 40 und 60 Prozent des schweizerischen Rechts direkt oder indirekt von  EU-Recht beeinflusst sein. Damit hat die Schweiz gemäss dem an der Universität Zürich lehrenden Europarechtlers Matthias Oesch durchaus wichtige Teile ihrer Rechtssetzung faktisch an die EU delegiert. Das ist ein unhaltbarer Zustand für ein Land, das grossen Wert auf seine Souveränität legt.

Auch von den Tätigkeiten der Nato ist die Schweiz betroffen. Was diese in Sachen Verteidigung tut oder lässt, beeinflusst auch die Sicherheit der Eidgenossenschaft. Mitten in Nato-Gebiet gelegen, profitiert die Schweiz vom Schutzschirm, den das Militärbündnis über Europa aufgespannt hat. Das ist wichtig, denn das Land könnte sich im Fall eines militärischen Angriffs kaum lange selbst verteidigen.

Doch statt in der EU und in der Nato voll mitzumachen und die Zukunft Europas mitzugestalten und mitzuentscheiden, begnügt sich die Schweiz mit Kooperationen und bilateralen Verträgen. Immerhin will sie diese ausbauen. Doch auch das ist immer noch zu wenig für ein Land, das mitten in Europa liegt und mit diesem kulturell, wertemässig und wirtschaftlich aufs Engste verbunden ist.

Europakolloquium, 21.9.: Präsentation D. Martin

Dominique Martin, Leiter Public Affairs des Verbandes Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen ( VSE) begründete am 21.September 23 an einer von ASE gemeinsam mit dem Europa Institut Basel organisierten Anlass eingehend die Notwendigkeit eines Energieabkommens mit der EU aus Sicht der betroffenen Branche. Seine hier wiedergegebenen Folien sprechen für sich fassen die gemachen Überlegungen und Argumente konzis zusammen. Ohne Abkommen läuft die Schweiz nach 2024 ernsthaft Gefahr der Versorgungsinstabilität und möglichen Blackouts.

Vortrag von Dr. Martin

Ja nicht zu viel Europa! von Martin Gollmer

Es scheint, als hätten mit der Ernennung von Jean-Daniel Ruch zum Staatssekretär für Sicherheitspolitik diejenigen Kräfte in Bundesbern gewonnen, die zur EU und zur Nato auf Distanz bleiben und an der traditionellen Neutralität festhalten wollen.

Das war eine dicke Überraschung: Am Freitag, 15. September 2023, wählte der Bundesrat nicht die Favoritin Pälvi Pulli, die Chefin Sicherheitspolitik im Verteidigungsdepartement, an die Spitze des neu geschaffenen Staatssekretariats für Sicherheitspolitik (Sepos), sondern den weitgehend unbekannten Karrierediplomaten Jean-Daniel Ruch.

Die umtriebige, ursprünglich aus Finnland stammende Pulli gilt in Bundesbern als Internationalistin. Sie steht für die Formel «Sicherheit und Kooperation». Sie will so viel sicherheits- und verteidigungspolitische Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten, der EU und der Nato wie möglich. Die Neutralität der Schweiz soll dabei nur so weit wie unbedingt nötig berücksichtigt werden. Das dürfte einer Mehrheit im Bundesrat und rechts-nationalen Politikkreisen nicht behagt haben.

Ruch gemässigter als Pulli

Ruch ist dagegen nicht so forsch wie Pulli, er ist stromlinienförmiger. Der aus Moutier stammende altgediente Botschafter mit Posten von Belgrad über Tel Aviv bis Ankara lancierte seine Karriere Ende der 1980er-Jahre im damaligen Militärdepartement in der Zentralstelle für Gesamtverteidigung. Die Stelle habe viel Gemeinsames gehabt mit dem Staatssekretariat für Sicherheitspolitik, sagte der 60-jährige Ruch bei der Präsentation durch Verteidigungsministerin Viola Amherd. Will heissen, dass sich das Sepos nicht nur schwergewichtig mit internationaler Kooperation befassen wird, sondern auch mit Ereignissen wie Stromausfällen in der Schweiz oder Cyberattacken aus dem Ausland.

Obwohl die Neutralität heute von manchen angezweifelt wird, misst Ruch ihr grossen Wert bei. Er bezeichnet sie bei seiner Präsentation als «Soft Power der Schweiz». Er habe während seiner diplomatischen Karriere mehrmals Dinge tun können,  die nur dank der Neutralität möglich geworden seien. So etwa im Nahen Osten, wo er einst als Sonderbeauftragter der damaligen Aussenministerin Micheline Calmy-Rey unterwegs war. Mit dieser Haltung dürfte Ruch bei einer Mehrheit der Landesregierung auf Anklang gestossen sein. Auch im nationalkonservativen politischen Lager dürfte man damit zufrieden sein.

Wie dem auch sei: Man soll den Stab nicht zu früh über Ruch brechen; er soll erst einmal im Amt beweisen können, wie er denkt und handelt. Dennoch wird man den Eindruck nicht los, dass mit der Ernennung Ruchs diejenigen Kräfte in Bundesbern gewonnen haben, die zur EU und zur Nato auf möglichst grosser Distanz bleiben und an der hergebrachten Neutralität festhalten wollen.

Mehr Kooperation notwendig

Dabei bräuchte die Schweiz mehr Kooperation mit der EU und der Nato in sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen. Den meisten Schweizerinnen und Schweizern ist nämlich inzwischen klar, dass sich die Schweiz bei einem militärischen Angriff aus dem Ausland nur kurze Zeit selbst verteidigen kann. Namhafte Politiker wie etwa FDP-Präsident Thierry Burkart haben denn auch für eine engere Kooperation insbesondere mit der Nato plädiert. Deren Abwehrdispositiv gegen einen feindlichen Angriff auf dem Boden oder in der Luft auf ihr Gebiet in Europa schützt jetzt schon auch die Schweiz mit. Es wäre deshalb an der Zeit, wenn auch die Schweiz ihren Beitrag an diese Verteidigungsbemühungen leisten würde.

Allein, die Neutralität der Schweiz verhindert wohl einen substanziellen Beitrag an diese Bemühungen. Die Neutralität erweist sich damit im heutigen Europa, dessen Sicherheitsarchitektur seit der russischen  Aggression gegen die Ukraine in Trümmern liegt, immer weniger als wirkungsvoller Schutz vor einem militärischen Angriff auf die Schweiz. Vielmehr verhindert die Neutralität eine weitgehende Kooperation mit der EU und der Nato zum umfassenden Schutz der Schweiz im Kriegsfall. Der neue Staatssekretär für Sicherheitspolitik Ruch wird sich auch an solchen Überlegungen messen lassen müssen.

It is up to Switzerland to shape the future of Europe! by Bouke Nagel

Bouke Nagel, olandese che vive da tempo a San Gallo, sottolinea la responsabilità comune degli Stati europei nel processo di integrazione. Questo include anche la Svizzera. La sua posizione in Europa, inserita nell’ordine multilaterale del dopoguerra, condivide in questo senso la storia della decolonizzazione e della disintegrazione degli imperi europei. Secondo l’autore, queste sono le vere ragioni storiche dell’unificazione europea. Bouke Nagel rimprovera alla Svizzera di aver partecipato a questo processo. Non solo per i propri interessi, ma per assumersi la corresponsabilità del futuro del continente europeo e delle democrazie del mondo basate sullo Stato di diritto.

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Für die EU ist die Schweiz heute nur ein gewöhnlicher Drittstaat von Martin Gollmer

Das Nicht-Mitglied Schweiz gilt für die EU nicht (mehr) als strategischer Partner und Verbündeter wie das aus dem Staatenbündnis ausgetretene Grossbritannien. Das zeigt sich im Fall der fortgesetzten schweizerischen Nicht-Beteiligung am Forschungsprogramm Horizon Europe exemplarisch.

Das ist eine bittere Pille: Grossbritannien, seit Anfang 2020 nicht mehr Teil der EU, darf wieder mitmachen, die Schweiz, auch Nicht-Mitglied der EU, muss vorerst weiterhin zuschauen. Die Rede ist vom EU-Forschungsprogramm Horizon Europe – mit einem Budget von 95 Milliarden Euro für die Jahre 2021 – 2027 das grösste Forschungsprogramm der Welt. Auf eine Rückkehr des Königreichs in das Programm haben sich die britische Regierung und die auf Seiten der EU verhandlungsführende Kommission Anfang September 2023 geeinigt. Die Einigung beweise, dass Grossbritannien und die EU strategische Partner und Verbündete seien, sagte Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen danach.

Die Beteiligung Grossbritanniens an Horizon Europe war eigentlich schon 2020 beschlossen worden. Damals vereinbarten London und Brüssel im Brexit-Handelsabkommen explizit den Zugang des Inselstaats zum Forschungsprogramm. Doch dann verstrickten sich die beiden Exekutiven in einen diplomatischen Kleinkrieg. Unter den Premierministern Boris Johnson und Liz Truss verfolgte Grossbritannien einen Konfrontationskurs gegenüber der EU und drohte, das im Brexit-Vertrag enthaltene Nordirland-Protokoll zu kündigen. Als Reaktion darauf verweigerte Brüssel London die vertraglich bereits zugesicherte Beteiligung an Horizon Europe.

Der seit Herbst 2022 amtierende Premierminister Rishi Sunak änderte den Kurs und begann wieder konstruktiv mit der EU-Kommission zu reden. Das Resultat war das sogenannte Windsor-Abkommen von Ende Februar dieses Jahres. Es legte die politische Grundlage für die britische Rückkehr ins Horizon-Forschungsprogramm und eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Grossbritannien und der EU auf breiter Front. Im Windsor-Abkommen verpflichtete sich London endlich auf die Anwendung des speziellen Handelsregimes für Nordirland. Schon vorher hatte London akzeptiert, dass in der britischen Provinz der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine Rolle spielt. Die mit diesem Ausgang verbundene Beteiligung der britischen Universitäten und Industrie an Horizon Europe war im Hintergrund von Gewicht und ein wichtiger Hebel der EU.

Unzimperliche EU

Auch im Fall der Schweiz verwendet die EU Horizon Europe unzimperlich als Druckmittel. Als Reaktion auf den einseitigen Abbruch der Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen zu den bilateralen Verträgen durch den Bundesrat im Mai 2021 schloss sie die Schweiz kurzerhand von Leitungsfunktionen im Forschungsprogramm aus. Die Schweiz hatte sich eine vollständige Beteiligung an solchen Programmen Ende der 1990er-Jahre im Rahmen der bilateralen Verträge I gesichert. Die EU will nämlich durchsetzen, dass die Schweiz zu der von ihr gewünschten Fortsetzung und Ausweitung des bilateralen Wegs gewisse institutionelle Regeln akzeptiert. Darunter befinden sich etwa eine dynamische Übernahme von EU-Recht und ein Mitwirken des EuGH bei der Schlichtung von etwaigen Streitfällen – Dinge, die in der Schweiz innenpolitisch umstritten sind.

Als wegweisend für das Schicksal der schweizerischen Beteiligung an Horizon Europe gilt eine gemeinsame Erklärung von Bern und Brüssel. Die EU-Kommission möchte nämlich die seit über einem Jahr laufenden Sondierungsgespräche mit der Schweiz schon seit Längerem mit einem solchen Dokument abschliessen. Darin sollen die Eckwerte für den Neustart der Verhandlungen über die alten Konfliktpunkte wie etwa Rechtsübernahme und Streitschlichtung sowie über neue bilaterale Abkommen etwa in den Bereichen Strom, Lebensmittelsicherheit und Gesundheit festgehalten werden. Der Entwurf für ein solches Memorandum of Understanding soll seit Ende des vergangenen Jahrs vorliegen. Doch Bern verzögert dessen Unterzeichnung mit dem Argument, es gebe noch nicht zu allen Lösungsansätzen für die Probleme zwischen der Schweiz und der EU ein gemeinsames Verständnis, weshalb es noch weitere Sondierungsrunden mit Brüssel brauche. Will die Schweiz wenigstens noch an der zweiten Hälfte der laufenden Programmperiode von Horizon Europe mitmachen können, muss sich Bern also beeilen.

Rückzug rächt sich

Der Fall von Horizon Europe zeigt, dass die EU die Schweiz nur noch als gewöhnlichen Drittstaat behandelt. Dies trotz Lage mitten in der Staatengemeinschaft, trotz den weltweit führenden eidgenössischen Hochschulen in Zürich und Lausanne, trotz den bilateralen Abkommen I und II aus der Jahrtausendwende und trotz eines Freihandelsabkommens aus dem Jahr 1972 (!). Als strategischer Partner und Verbündeter, wie EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen Grossbritannien bezeichnet hat, gilt sie nicht (mehr). Es rächt sich in diesem Zusammenhang, dass die Schweiz ihr 1992 bei der EU eingereichtes Beitrittsgesuch 2016 unter dem Druck nationalkonservativer Kreise wieder zurückgezogen hat. Gäbe es dieses Gesuch noch, würde die Schweiz als – wenn auch als ein ewiger – Beitrittskandidat gelten und könnte auf eine Vorzugsbehandlung der EU hoffen.

Seit dem Rückzug dieses Gesuchs gehen die bilateralen Verträge mit der EU auch nicht mehr als Übergangslösung bis zu einem Beitritt durch, sondern sind zu einem scheinbar definitiven Arrangement der Schweiz mit dem Staatenbündnis geworden. Kein Wunder deshalb, dass die EU seither harte institutionelle Bedingungen an die Fortsetzung und den Ausbau des bilateralen Wegs knüpft und dem schweizerischen Rosinenpicken je länger je kritischer gegenübersteht. Die Zeche bezahlen unter anderem die Hochschulen und die innovative Industrie sowie die kommende Generation von Forscherinnen und Forschern in der Schweiz.

Kann Fasel den EU-Turbo zünden? von Martin Gollmer

Alexandre Fasel, neuer Staatssekretär im Aussendepartement, steht vor etlichen grossen Herausforderungen. Die vielleicht grösste: Er muss das wichtige und aussen- wie innenpolitisch schwierige Verhältnis der Schweiz zur EU regeln. Dabei sollte es schnell gehen. Die EU will nämlich Verhandlungen, die noch nicht einmal begonnen haben, bis im Juni 2024 abschliessen.

Am 1. September 2023 tritt der Freiburger Diplomat Alexandre Fasel sein neues Amt als Staatssekretär im Aussendepartement an. Er wird Nachfolger von Livia Leu, die im Herbst nach drei Jahren als Botschafterin nach Berlin wechselt. Der 62-jährige Fasel steht vor formidablen Herausforderungen: Zum einen ist sein Aufgabengebiet ausserordentlich gross. Zum andern wird er für das wohl schwierigste und wichtigste Dossier im EDA zuständig – die Beziehungen der Schweiz zur EU.

In der Medienmitteilung zur Ernennung Fasels umschreibt der Bundesrat dessen Aufgaben so: «Der Staatssekretär berät den Vorsteher des EDA und den Bundesrat in allen aussenpolitischen Fragen, sorgt für die Umsetzung der aussenpolitischen Strategie des Bundesrats, leitet das Staatssekretariat des EDA sowie das Aussennetz der Schweiz mit seinen rund 170 Vertretungen.» Und weiter: «Er unterstützt den Vorsteher des EDA auch bei innenpolitischen Fragen und der Zusammenarbeit mit dem Parlament und den Kantonen, insbesondere bei allen internationalen Themen mit innenpolitischen Auswirkungen wie der russischen Militäraggression gegen die Ukraine, den Beziehungen zur EU, der Arbeit im UNO-Sicherheitsrat und dem internationalen Krisenmanagement.»

Daran wird Fasel gemessen

Ob Fasels Amtszeit im Staatssekretariat EDA dereinst als erfolgreich bezeichnet werden wird, dürfte vor allem davon abhängen, wie er sich im dornenreichen EU-Dossier schlägt. Dabei ist Fasel – er kann auf ein Team um Botschafter Patric Franzen, Chef der Abteilung Europa im EDA, zählen – zweifach gefordert: Aussenpolitisch muss er sich mit einer EU herumschlagen, die gerade mit der Bewältigung mehrerer Krisen wie dem Ukrainekrieg, der Energieknappheit oder der Klimaerwärmung beschäftigt ist und daher wenig Zeit hat für einen eigenbrötlerischen Drittstaat wie die Schweiz. Zudem hat die Bereitschaft der EU zu Sonderlösungen abgenommen – dies vor allem im Zusammenhang mit der grossen Südosterweiterung in den Nullerjahren, als auf einen  Schlag zehn neue Mitgliedstaaten aufgenommen wurden. Diese mussten damals das gesamte EU-Recht übernehmen, ohne dass ihnen dabei nennenswerte Ausnahmereglungen gewährt wurden. Das erklärt, wieso die EU heute wenig Lust auf schweizerische Extrawürste hat und zugleich harte Bedingungen an die Fortsetzung des Schweizer bilateralen Sonderwegs knüpft wie dynamische Rechtsübernahme, Mitwirken des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) bei der Streitschlichtung oder Beachtung der Staatsbeihilfenregelungen.

Innenpolitisch muss Fasel für eine breite Akzeptanz der mit der EU ausgehandelten Lösung zur Fortsetzung des bilateralen Wegs sorgen. Denn am Ende der Verhandlungen mit der EU steht eine Volksabstimmung. Diese ist alles andere als einfach zu gewinnen. So kann Fasel etwa nicht darauf zählen, dass die wählerstärkste Partei in der Schweiz, die EU-feindliche SVP, dereinst das zurzeit zur Diskussion stehende Vertragspaket namens Bilaterale III stützen wird. Dynamische Rechtsübernahme oder eine Rolle für fremde EU-Richter sind ein rotes Tuch für die SVP.

Widerspenstig geben sich auch die Gewerkschaften. Sie sehen den Schutz der hohen Löhne in der Schweiz gefährdet und versuchen unter anderem, im Rahmen der Bilateralen III eine Ausweitung der Pflicht zu Gesamtarbeitsverträgen durchzusetzen. Dagegen wehren sich aber die Wirtschaftsverbände. Die Gewerkschaften nehmen dabei in Kauf, dass sie zur Verwirklichung eines innenpolitischen Anliegens ein für die Schweiz wichtiges aussenpolitisches Projekt gefährden. Andere wiederum befürchten, dass die von der EU geforderte Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie ins schweizerische Recht zu einer unerwünschten Einwanderung in die hiesigen Sozialwerke führen könnte.

Public Diplomacy vonnöten

Diese paar Beispiele zeigen – sie liessen sich vermehren –, dass es derzeit in Sachen Bilaterale III zahlreiche Bedenkenträger gibt. Ihnen wirkungsvoll entgegenzutreten, ist deshalb auch eine Aufgabe von Fasel – und natürlich auch des Bundesrats –, wenn eine künftige Volksabstimmung gewonnen werden soll. Denn zurzeit haben in der Öffentlichkeit vor allem die kritischen Stimmen zum Vertragspaket die Oberhand und versuchen, mit teils populistischen Argumenten Stimmung gegen die Bilateralen III zu machen. Dass die bisherigen Gespräche mit der EU hinter verschlossen Türen geführt worden sind und nur Informationshäppchen an die Öffentlichkeit drangen, hilft diesen kritischen Stimmen. Angezeigt wäre deshalb eine umfassende offene, ehrliche Information von Fasel und des Bundesrats über Ziele, Vor- und Nachteile der Bilateralen III sowie der dazugehörigen Verhandlungen und der dabei auftauchenden Probleme. Das Stichwort dazu heisst Public Diplomacy: Wie Gesetzgebung im Innern muss auch Rechtssetzung in den Aussenbeziehungen debattiert und vorbereitet werden. Das schliesst Vertraulichkeit in eigentlichen Verhandlungen nicht aus, schafft aber Vertrauen in diese.

Zusätzlich erschwert wird die Aufgabe von Fasel und seinem Team dadurch, dass nur noch ein kleiner Gestaltungsspielraum besteht. Denn der Bundesrat hat im vergangenen Juni bereits sogenannte Eckwerte für die künftigen Verhandlungen mit der EU festgelegt. Dies, als Ergebnis von zehn Sondierungsgesprächen mit der EU von Vorgängerin Leu – Sondierungsgespräche übrigens, die mehr schon Vorverhandlungen glichen. Fasel muss jetzt diese Sondierungsgespräche möglichst schnell zu Ende bringen, damit der Bundesrat danach das eigentliche Verhandlungsmandat verabschieden kann. Denn Zeit drängt: Die EU will die Verhandlungen mit der Schweiz bis im Juni 2024 abschliessen. Dann wird in der EU das Parlament neu gewählt und in der Folge auch die verhandlungsführende Kommission neu bestimmt. Doch der Bundesrat wird über das Verhandlungsmandat erst beraten, wenn auch in der Schweiz das Parlament neu gewählt ist (im Oktober) und die Wahlen in die Landesregierung stattgefunden haben (im Dezember).

Mal sehen, ob es Fasel angesichts dieser vertrackten Ausgangslage gelingt, in Sachen EU den Turbo zu zünden. Einschlägige Erfahrung hat er jedenfalls: Seine langjährige Karriere im diplomatischen Dienst der Schweiz unterbrach er anfangs der Nullerjahre für einige Zeit. Er ging zur Grossbank Credit Suisse, wo er für das Formel-1-Sponsoring und damit auch für den damaligen Rennstall Sauber-Petronas zuständig war. In seinen jungen Jahren hatte Fasel übrigens selber schon Runden gedreht auf der Rennstrecke von Magny-Cours.

Geheimniskrämerei geht weiter von Martin Gollmer

Der Bundesrat führt die Sondierungsgespräche mit der EU-Kommission über ein zukünftiges Vertragspaket namens Bilaterale III hinter verschlossenen Türen. Vermutlich wird er auch die angestrebten Verhandlungen vertraulich halten. Dabei wäre in einer direkten Demokratie wie der Schweiz eine offene und umfassende Information der Bevölkerung notwendig. Denn auch in aussenpolitischen Angelegenheiten hat oft das Stimmvolk das letzte Wort.

Seit gut einem Jahr sondiert die Schweiz mit der Europäischen Union (EU), wie der bilaterale Weg gesichert und ausgebaut werden könnte. Nicht weniger als zehn Gesprächsrunden haben in dieser Zeit stattgefunden. Verhandlungen zwischen Bern und Brüssel sind trotzdem noch nicht in Sicht. Im Raum steht ein von der Schweiz geschnürtes Vertragspaket, das den Namen «Bilaterale III» erhalten hat. Darin sollen institutionelle Fragen wie Rechtsübernahme und Streitschlichtung geregelt werden. Zudem strebt die Schweiz neue bilaterale Abkommen mit der EU in den Bereichen Gesundheit, Lebensmittelsicherheit und Strom an. Schliesslich will die Schweiz wieder an den EU-Forschungs- und Bildungsprogrammen «Horizon Europe» und «Erasmus» beteiligt werden. Von diesen war sie nach dem Abbruch der Verhandlungen über ein Rahmenabkommen zu den bilateralen Verträgen durch den Bundesrat im Mai 2021 von der EU ausgeschlossen worden.

Am 18. Juli war der für das Europadossier zuständige Bundesrat Ignazio Cassis in Brüssel, um mit seinem Gegenpart EU-Kommissar Maros Sefcovic eine «Standortbestimmung» zu den Sondierungsgesprächen vorzunehmen, wie es in einer dürren Medienmitteilung des schweizerischen Aussenministeriums hiess. Was ist dabei herausgekommen? In welchen Bereichen konnten Fortschritte erzielt werden? Wo hakt es noch? Bei welchen Anliegen der Schweiz zeichnen sich Erfolge ab? Welche Kröten muss sie möglicherweise schlucken? Wir wissen es nicht. In der Medienmitteilung war dazu nichts zu lesen. Auch gab Cassis nach dem Treffen mit Sefcovic keine Erklärungen vor den Medien ab.

Am 21. Juni verabschiedete der Bundesrat «Eckwerte für ein Verhandlungsmandat mit der EU».  Diese sollen die «Leitlinien für mögliche künftige Verhandlungen» bilden und als «Grundlage für die Vorbereitung eines Verhandlungsmandats» dienen, wie es in einer Medienmitteilung hiess. Welches sind diese Eckwerte? Wir wissen es nicht. «Die Eckwerte bilden den Kern der möglichen Verhandlungen und sind daher vertraulich», liess der Bundesrat verlauten.

Nur ein enger Kreis weiss Genaueres

Das sind nur die jüngsten Beispiele der bundesrätlichen Geheimniskrämerei um die Sondierungsgespräche und die angestrebten Verhandlungen mit der EU zu den Bilateralen III. Die breite Öffentlichkeit wird beinahe schon systematisch im Dunkeln gelassen. Selbst die Mitglieder der Aussenpolitischen Kommissionen von National- und Ständerat wissen nicht alles. Einigermassen gut informiert werden nur Vertreter der Kantone und der Sozialpartner (Arbeitgeber und Gewerkschaften), die das sogenannte Sounding Board des Bundesrats in dieser Angelegenheit bilden.

Wenn etwas nach aussen dringt aus den Sondierungsgesprächen, dann von Bedenkenträgern und EU-Gegnern aus diesen Kreisen. Sie berichten vor allem negativ über die Gespräche. Gleichzeitig tut der Bundesrat nichts, um dagegenzuhalten. Wann hat ein Mitglied der Landesregierung darüber informiert, was die Schweiz im Verhältnis zur EU schon alles tut, um die Löhne in der Schweiz zu schützen? Wann hat ein Berner Magistrat erläutert, was die dynamische Übernahme von EU-Recht für die  Schweiz bedeutet. Haben wir dann nichts mehr zu sagen? Wird dadurch die direkte Demokratie ausgehebelt? Wurde je von einem Vertreter Berns erklärt, was das für die Schweiz heisst, wenn der EU-Gerichtshof in einem allfälligen Streitschlichtungsverfahren eine Rolle erhält? Kommen jetzt die fremden Richter? Weil der Bundesrat nicht informiert, entsteht in der Bevölkerung kein Vertrauen in seine Arbeit. Und das Wissen über die Bilateralen III bleibt bruchstückhaft und oft negativ konnotiert. Beides – Vertrauen und Wissen – wird aber nötig sein, wenn das Schweizer Stimmvolk dereinst zu den Bilateralen III Ja sagen soll.

Höchste Zeit für Public Diplomacy

Wenn der Bundesrat eine mögliche künftige Volksabstimmung über die Bilateralen III gewinnen will, muss er offensiver kommunizieren. Aussenpolitik – und damit auch Europapolitik – ist gemäss Bundesverfassung Sache des Bundesrats. Damit verbunden sollte eigentlich auch sein, dass er über seine Tätigkeiten in diesem Bereich detailliert und ausführlich informiert. Das Stichwort dazu heisst «Public Diplomacy». Das Konzept postuliert, dass Regierungen die Öffentlichkeit über Ziele, Verlauf und Stand von Verhandlungen möglichst regelmässig, offen und umfassend unterrichten. Gewiss, in kritische Phasen werden Verhandlungen nicht auf dem Marktplatz geführt, sondern nach wie vor hinter verschlossenen Türen. Aber soweit sind wir mit der EU noch nicht. Verhandlungen mit ihr sind noch nicht einmal absehbar.

Aussenpolitik ist gerade in Demokratien immer auch Innenpolitik. Die beiden Bereiche lassen sich immer weniger trennen. Andere Staaten haben deshalb die Notwendigkeit von Public Diplomacy schon vor einiger Zeit erkannt. So auch die EU – zukünftiger Verhandlungspartner der Schweiz in Sachen Bilaterale III. Sie hat etwa das Verhandlungsmandat und laufende Verhandlungsvorschläge für ein Handels- und Wirtschaftsabkommen mit den USA und Kanada im Internet publiziert – allerdings auch erst auf Druck der Öffentlichkeit. Die EU belebte so die Debatte und erleichterte die Meinungsbildung über das Thema. Schon seit dem 1. Weltkrieg praktizieren die USA Public Diplomacy. Damals begann Präsident Woodrow Wilson mit seinen Prinzipien der Transparenz die bis dato übliche Geheimdiplomatie zu überwinden.

Die Schweiz dagegen setzt immer noch zu sehr auf vertrauliche Sondierungen und Verhandlungen. Das ist falsch. Gerade in einer direkten Demokratie, in der das Stimmvolk oft auch in aussenpolitischen Angelegenheiten das letzte Wort hat, ist eine frühzeitige offene und ausführliche Information der Bevölkerung äusserst wichtig. Es ist deshalb höchste Zeit, dass der Bundesrat seine Informationspolitik in der Aussenpolitik ändert. Im Falle der Bilateralen III würde das deren Chancen in einer allfälligen Volksabstimmung deutlich erhöhen.

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Einmal schnell, einmal langsam von Martin Gollmer

Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie die Europapolitik der Schweiz weisen zurzeit ein unterschiedliches Tempo auf. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine führt in diesen beiden Bereichen offensichtlich nicht zu den gleichen Schlussfolgerungen.

Kommt die europäische Integration der Schweiz auf dem sicherheits- und verteidigungspolitischen Weg schneller voran als auf dem politischen und wirtschaftlichen? Ja, meinen aufmerksame Beobachter der schweizerischen Europa-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Indizien zeigen, dass sie möglicherweise Recht haben. Nachdem Russland am 24. Februar 2022 seinen völkerrechtswidrigen Überfall auf das Nachbarland Ukraine startete, wurden in der schweizerischen Politik rasch Stimmen laut, die eine weitere Annäherung an das nordatlantische Militärbündnis Nato, forderten. Die Nato ist die wichtigste Organisation für Sicherheit und Verteidigung in Europa. Und Anfang Juli unterzeichnete Verteidigungsministerin Viola Amherd eine Absichtserklärung, mit der die Schweiz Teil der Luftverteidigungsinitiative European Sky Shield werden soll. Die von der Nato unabhängige Initiative geht auf Deutschland zurück. Bisher sind ihr 17 europäische Nato-Länder beigetreten. Mit Österreich und der Schweiz wollen jetzt erstmals auch zwei neutrale Nato-Nichtmitglieder mitmachen.

Derweil wurden nach dem Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine keine Forderungen gestellt, die Schweiz solle sich der Europäischen Union (EU), der wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Organisation in Europa, über den bisher begangenen bilateralen Weg hinaus weiter annähern. Mehr noch: Die Beziehungen Schweiz – EU dümpeln seit dem ergebnislosen Abbruch der mehrjährigen Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen zu den bilateralen Verträgen durch den Bundesrat am 26. Mai 2021 vor sich hin. Aussenminister Ignazio Cassis’ Diplomaten sondieren zwar seit über einem Jahr fleissig mit der EU, wie der bilaterale Weg gesichert und fortgesetzt werden könnte. Die Aufnahme von neuen Verhandlungen über ein Bilaterale III genanntes Vertragspaket ist aber auch nach zehn Sondierungsrunden noch nicht in Sicht. Das, obwohl die Schweiz seit 15 Jahren kein Abkommen mehr mit der EU geschlossen hat. Mit der EU ist die Schweiz notabene geografisch, kulturell, personell und wirtschaftlich aufs Engste verflochten.

Zerstörte Gewissheiten

Dieser Unterschied zwischen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik und der Europapolitik der Schweiz hängt wie eingangs betont eng mit dem Krieg in der Ukraine zusammen. Dieser hat eine jahrzehntealte Gewissheit auf einen Schlag zerstört: nämlich, dass Europa nach dem Ende des 2. Weltkriegs zu einem Kontinent des Friedens geworden ist, in dem die seither geltenden Grenzen der europäischen Nationalstaaten gegenseitig respektiert werden (was 1975 in der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa bestätigt wurde) und zwischenstaatliche Kriege der Vergangenheit angehören. Der plötzliche Verlust dieser Gewissheit hat die europäischen Staaten zum Handeln in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik veranlasst. Zahlreiche von ihnen beschlossen, das Verteidigungsbudget endlich auf die von der Nato geforderten 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts anzuheben. Die bisher neutralen Länder Finnland und Schweden beantragten den Beitritt zur Nato; Finnland ist inzwischen dem Militärbündnis beigetreten. Und Dänemark gab seinen langjährigen Vorbehalt gegen die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU auf.

Auch die Schweiz hat im Nachgang des Ausbruchs des Kriegs in der Ukraine ihr Verteidigungsbudget erhöht. Zudem forderten namhafte Politiker, die Schweiz solle ihre bisherige Zusammenarbeit mit der Nato ausbauen. Es werde immer deutlicher, dass die Schweiz ihre Sicherheit und Unabhängigkeit im Kriegsfall nicht mehr allein gewährleisten könne. Seit 1996 ist die Schweiz mit der Nato über das Kooperationsprogramm «Partnerschaft für den Frieden» verbunden. Seit 1999 nimmt sie auch an der Nato-Friedensmission für den Kosovo (KFOR) teil. Die Schweizer Luftwaffe trainiert seit Jahren im europäischen Ausland Ernstfalleinsätze. Angedacht ist eine gemeinsame Abwehr von Cyberattacken. Nun ist sogar auch eine Teilnahme an Verteidigungsübungen der Nato im Gespräch. Und mit dem Kampfjet F-35 und dem Luftabwehrsystem Patriot sind Nato-kompatible Rüstungsgüter in Beschaffung. Als vorläufig letzter Schritt kommt jetzt die beabsichtigte Teilnahme an der European Sky Shield Initiative (ESSI). Zunächst soll es um die gemeinsame Beschaffung von Luftabwehrsystemen und die Kooperation bei der Ausbildung gehen.

Neutralität gewährleistet

Auch die ESSI-Teilnahme soll mit der Neutralität der Schweiz vereinbar sein, versicherte Verteidigungsministerin Amherd anlässlich der Unterzeichnung der Absichtsverklärung. Dieser hat die Schweiz aber sicherheitshalber noch einen Neutralitätsvorbehalt angehängt. Das macht deutlich: Es wird immer schwieriger, die Sicherheit und Unabhängigkeit der Schweiz in Europa zu schützen und gleichzeitig den Status eines neutralen Landes aufrechtzuerhalten. Ja, die Neutralität nützt der Schweiz im unsicherer gewordenen Europa immer weniger und wird immer mehr zu einem Hindernis für einen wirkungsvollen Schutz vor einem allfälligen Angriff auf das Land. Trotzdem wagen es bisher nur wenige, die schweizerische Neutralität in Frage zu stellen.

Natürlich hat der Krieg in der Ukraine auch wirtschaftliche Folgen für Europa. Er hat beispielsweise aufgezeigt, wie abhängig wir geworden sind von Staaten, die in einem Systemwettbewerb mit uns stehen. Im Fall von Russland geht es vor allem um Energie und Rohstoffe. Trotzdem hat die EU harte Sanktionen gegen Russland erlassen, die auch einen Boykott von russischem Gas und Öl umfassen. (Die Schweiz hat diese Sanktionen nach anfänglichem Zögern übernommen.) Gleichzeitig hat die EU schleunigst begonnen, ihre Quellen für Gas- und Öllieferungen zu diversifizieren. Die Schweiz ist in diesem Prozess als Nicht-EU-Mitglied auf sich allein gestellt. Sie versucht, allfälligen Engpässen fast schon verzweifelt in Kooperationsabkommen mit den Nachbarstaaten Deutschland und Italien zuvorzukommen. Mit Italien ist ein solches Abkommen eben abgeschlossen worden. Trotzdem will die Schweiz auch in Zukunft am bilateralen Weg mit der EU festhalten, obwohl dieser für solche Herausforderungen nur beschränkt Lösungen bereithält. Der Bundesrat hat diesen Weg in seiner jüngsten Lagebeurteilung der Beziehungen Schweiz – EU als den für unser Land vorteilhaftesten bezeichnet. Einem neuen Anlauf zur Aufnahme in den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) oder gar einem Beitritt zur EU erteilt er dagegen gleichenorts eine Absage. Diese Lagebeurteilung hat in der schweizerischen Politik und Wirtschaft erstaunlicherweise fast niemand in Frage gestellt. Der Schweiz genügt offenbar die bisherige beschränkte wirtschaftliche Beziehung zur EU. Verkannt wird dabei, dass die EU in Europa nicht nur grosses wirtschaftliches Gewicht hat, sondern – nicht zuletzt aufgrund des Kriegs in der Ukraine – auch zu einem ernstzunehmenden politischen Akteur geworden ist.