Die wichtigsten Fragen und Antworten zu den Bilateralen III

Seit wann verhandeln die Schweiz und die EU über die Bilateralen III?

Was ist das Ziel der Verhandlungen mit der EU?

Was ist der Inhalt des geplanten bilateralen Vertragspakets?

Was ist schon geregelt, was muss noch verhandelt werden?

Hebelt die dynamische Übernahme von EU-Recht durch die Schweiz die direkte Demokratie und den Föderalismus aus?

Im Streitfall zwischen der Schweiz und der EU soll auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine Rolle spielen. Muss die Schweiz jetzt fremde Richter akzeptieren?

Gibt die Schweiz mit den Bilateralen III ihre Souveränität preis?

Was ist das Besondere an den Verhandlungen über die Bilateralen III?

Wie lange werden die Verhandlungen mit der EU dauern?

Wie geht es in der Schweiz weiter, wenn die Verhandlungen mit der EU einmal abgeschlossen sind?

Wie wird dereinst über die Bilateralen III abgestimmt?

Wie wichtig sind die Bilateralen III für die Schweiz?

Wie lautet die vorläufige Haltung der Vereinigung Die Schweiz in Europa zu den Bilateralen III?

  

Seit wann verhandeln die Schweiz und die EU über die Bilateralen III?

Am 18. März 2024 haben Bundespräsidentin Viola Amherd und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Brüssel die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU über ein neues, drittes bilaterales Vertragspaket eröffnet. Dieses Paket nennen wir hier «Bilaterale III», weil es auf die Bilateralen I (1999) und II (2004) folgt, fünf Abkommen der Bilateralen I mit institutionellen Bestimmungen verstärkt und aktualisiert sowie neue bilaterale Abkommen vorsieht. Zuvor hatte der Bundesrat am 8. März nach eingehenden Konsultationen von Kantonen, Parlament, Wirtschaftsverbänden und Sozialpartnern das definitive Mandat der Schweiz für diese Verhandlungen verabschiedet. Die 27 EU-Mitgliedstaaten hiessen die von der Kommission vorgelegten Verhandlungsrichtlinien am 12. März gut.

Für die Schweiz verhandelt der Bundesrat. Er ist für die Führung der Aussenpolitik des Landes zuständig. Auf Seite der EU führt die Kommission, die Exekutive und Verwaltung der Europäischen Union, die Verhandlungen. Ihr obliegt die Ausarbeitung internationaler Verträge. Chefunterhändler der Schweiz ist Patric Franzen, stellvertretender Staatssekretär und Leiter der Abteilung Europa im Eidgenössischen Departement des Äusseren (EDA). Sein Gegenpart bei der EU ist Richard Szostak, Leiter der Abteilung «Westeuropäische Partner» im Generalsekretariat der Kommission.

Was ist das Ziel der Verhandlungen mit der EU?

Der Bundesrat will in den Verhandlungen mit der EU den von 1999 bis 2004 erfolgreich begangenen, aber seither stagnierenden und holprig gewordenen bilateralen Weg stabilisieren und weiterentwickeln. Konkret geht es darum, in einzelnen Sektoren den hindernisfreien Zugang von Schweizer Unternehmen zum EU-Binnenmarkt zu sichern und auszubauen und einen dafür geeigneten institutionellen Rahmen zu schaffen. Der Binnenmarkt ist mit rund 450 Millionen Konsumentinnen und Konsumenten der weltweit grösste grenzüberschreitende Markt, in dem überall die gleichen Regeln gelten. Dank den Bilateralen III kann der grosse EU-Binnenmarkt für Schweizer Industrieunternehmen der Heimmarkt bleiben.

Zudem will der Bundesrat die Wiederaufnahme der Schweiz in die Bildungs- und Forschungsprogramme der EU und eine Teilnahme an anderen Programmen erreichen. Das EU-Forschungsprogramm «Horizon Europe» ist mit einem Budget von insgesamt 95,5 Milliarden Euro für die Jahre 2021-2027 das grösste seiner Art auf der Welt. Die EU hatte die Teilnahme der Schweiz an diesem Programm nach dem einseitigen Abbruch der Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen durch den Bundesrat im Jahr 2021 sistiert. Mit der Aufnahme der Verhandlungen wird die Beteiligung der Schweiz umgehend wieder möglich, steht aber unter Vorbehalt eines erfolgreichen Abschlusses der Verhandlungen bis Ende 2024. Für die Schweiz als rohstoffarmes Land ist die Teilnahme an den EU-Bildungs- und Forschungsprogrammen enorm wichtig; sie ermöglicht Fortschritt und Wohlstand.

Was ist der Inhalt des geplanten bilateralen Vertragspakets?

Der Bundesrat und die EU-Kommission wollen ein Vertragspaket schnüren mit den folgenden Elementen:

  • Neue bilaterale Abkommen zu den Themen Strom, Gesundheit und Lebensmittelsicherheit.
  • Dynamische Rechtsübernahme, Streitbeilegungsverfahren und Aktualisierung bestehender Abkommen im Bereich der Personenfreizügigkeit (Lohnschutz und Sozialrechte), des Land- und Luftverkehrs, der technischen Handelshemmnisse und der Landwirtschaft .
  • Teilnahme der Schweiz an den EU-Programmen für Bildung und Forschung.
  • Vorschriften zu Staatsbeihilfen in den Bereichen Verkehr und Strom.
  • Regelmässige Kohäsionszahlungen der Schweiz zur Verringerung der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten in der EU.
  • Einrichtung eines regelmässigen, hochrangigen politischen Dialogs.

Was ist schon geregelt, was muss noch verhandelt werden?

In zahlreichen Sondierungsgesprächen, die den eigentlichen Verhandlungen seit März 2022 vorausgegangen sind, haben der Bundesrat und die EU-Kommission ihre jeweiligen Verhandlungsanliegen detailliert erläutert und sogenannte Landungszonen definiert, innerhalb derer eine Lösung offener Verhandlungsfragen vorgesehen ist.  Die Ergebnisse der Sondierungsgespräche sind in einem Dokument schriftlich festgehalten – der sogenannten Gemeinsamen Verständigung (Sie findet sich hier). In den Verhandlungen müssen Bundesrat und EU-Kommission nun die in diesem Dokument umschriebenen Lösungsansätze konkretisieren; nachstehend die wichtigsten:

  • Strom: Mit dem Abschluss eines Stromabkommens wird die Schweiz am Strombinnenmarkt der EU teilnehmen. Dies, um den Stromhandel zwischen der Schweiz und der EU zu fördern und die Versorgungssicherheit und die Netzstabilität in der Schweiz zu gewährleisten.

Der Bundesrat ist einverstanden mit der von der EU-Kommission geforderten Öffnung des schweizerischen Strommarktes. Endverbraucher gleich welcher Art sollen ihren Stromlieferanten frei auswählen können. Dabei will der Bundesrat garantiert haben, dass die kleinen Endverbraucher wie Haushalte und KMU unter einer bestimmten Verbrauchsschwelle in der regulierten Grundversorgung mit regulierten Preisen verbleiben oder in diese zurückkehren können (sogenanntes Wahlmodell). Zudem will der Bundesrat die wichtigsten bestehenden staatlichen Beihilfen beibehalten können, namentlich im Bereich der Produktion von erneuerbarem Strom. In diesem Zusammenhang hat die EU erkannt, dass die Besonderheiten der Stromerzeugungsstruktur berücksichtigt sein sollten, z. B. die Rolle von Wasser- und Reservekraftwerken in der Schweiz.

  • Lebensmittelsicherheit: Dieses Abkommen wird eine Ausweitung des Geltungsbereichs des Abkommens über den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen aus den Bilateralen I auf die gesamte Lebensmittelkette bringen. Die Ausweitung zielt darauf ab, den Verbraucherschutz zu stärken und den Marktzugang durch einen umfassenden Abbau nichttarifärer Handelshemmnisse zu verbessern. Eine Harmonisierung der Agrarpolitiken der Schweiz und der EU und damit eine Revision des Agrarschutzes im Freihandelsabkommens von 1972 sollen gemäss gemeinsamem Verständnis ausgeschlossen bleiben. Mittels Ausnahmen wird eine Senkung der in der Schweiz geltenden Standards verhindert, insbesondere beim Tierschutz und bei den neuen Technologien in der Lebensmittelproduktion.
  • Gesundheit: Das neue bilaterale Kooperationsabkommen sieht die Beteiligung der Schweiz an den relevanten Mechanismen und Netzwerken der EU im Bereich sicherheitsbezogener Gesundheitsfragen vor, wie sie sich im Rahmen von Covid-19 als wichtig erwiesen haben. Mitmachen will der Bundesrat dabei etwa am Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten.
  • Bildungs- und Forschungsprogramme: Der Bundesrat und die EU-Kommission sind mit einer systematischen Teilnahme der Schweiz an den EU-Programmen für die Zukunft , namentlich in den Bereichen Forschung und Innovation, allgemeine und berufliche Bildung, Jugend, Sport und Kultur, einverstanden. Im Vordergrund stehen die EU-Programme Horizon Europe 2021-2027 (Forschung) und Erasmus+ 2021-2027 (Bildung, Studierendenaustausch).
  • Rechtsübernahme: Mit der dynamischen Übernahme von EU-Recht in den bestehenden und zukünftigen Binnenmarktabkommen in schweizerisches Recht ist der Bundesrat einverstanden. Er will aber an der Aushandlung und Weiterentwicklung des die Schweiz betreffenden EU-Rechts teilnehmen können (sogenanntes decision-shaping). Entscheidet sich die Schweiz (d.h. der Bundesrat, das Parlament oder das Volk) einmal gegen die Übernahme von Recht der EU, kann diese Ausgleichsmassnahmen ergreifen. Dabei möchte der Bundesrat erreichen, dass solche Massnahmen erst in Kraft treten, wenn ein Schiedsgericht über deren Verhältnismässigkeit entschieden hat.
  • Streitbeilegung: Gemäss gemeinsamem Verständnis suchen die Schweiz und die EU im Streitfall zunächst eine politische Lösung in einem Gemischten Ausschuss. Dieser ist aus Beamten der beiden Vertragsparteien zusammengesetzt. Lässt sich so keine Einigung erzielen, kann jede Vertragspartei den Streit einem Schiedsgericht unterbreiten. Dieses ist paritätisch zusammengesetzt; es besteht in der Regel aus drei Personen, die unabhängig, frei von Interessenkonflikten und fachlich bestens ausgewiesen sind. Stellt sich dem Schiedsgericht eine offene und noch ungelöste Frage der Anwendung oder Auslegung von EU-Recht, muss es den Europäischen Gerichtshof (EuGH) beiziehen. Dieser nimmt eine verbindliche Beurteilung des in Frage stehenden Sachverhalts vor. Auf seiner Basis entscheidet das Schiedsgericht abschliessend.

 In ihrem Verhandlungsmandat hat die Schweiz ein zusätzliches Element eingebracht. Sie verlangt, dass die Verhältnismässigkeit von Ausgleichsmassnahmen der EU vor deren Inkrafttreten im Rahmen des Streitbeilegungsverfahrens durch das Schiedsgericht beurteilt wird. Dieser Punkt ist weder in der Gemeinsamen Verständigung noch in den Verhandlungsrichtlinien der EU zu finden.

  • Personenfreizügigkeit/Zuwanderung: Der Bundesrat ist einverstanden mit der Angleichung des schweizerischen Rechts an das in diesem Bereich geltende Recht der EU. Er verfolgt dabei aber das Ziel, die Zuwanderung von einer Erwerbstätigkeit in der Schweiz abhängig zu machen, um die Folgen für das schweizerische Sozialsystem zu begrenzen und Missbräuche zu bekämpfen. Die EU ist bereit, der Schweiz diesbezüglich mehrere Ausnahmen zu gewähren.
  • Personenfreizügigkeit/Lohnschutz: Der Bundesrat ist bereit, das in diesem Bereich geltende EU-Recht in schweizerisches Recht zu übernehmen. Er will aber den Lohnschutz in der Schweiz auf dem bestehenden Niveau erhalten können, um schweizerische Unternehmen nicht einem unbeschränkten Wettbewerb durch aus der EU entsandte Arbeitskräfte auszusetzen. Die EU ist bereit, der Schweiz hier eine Nicht-Regressionsklausel zuzugestehen. Diese soll verhindern, dass die Schweiz neue EU-Regeln übernehmen oder EuGH-Gerichtsurteile befolgen muss, die das aktuelle Niveau des Lohnschutzes senken könnten.

Für in die Schweiz entsandte EU-Arbeitskräfte soll der Grundsatz «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» gelten. Bei der Spesenregelung für entsandte EU-Personen weicht das EU-Recht von diesem Grundsatz ab. Entsandte Arbeiter sollen nämlich Spesen nach den Ansätzen ihres Heimatlandes erhalten. Das will der Bundesrat nicht. Er ist bestrebt eine Lösung mit der EU-Kommission zu erreichen, die das Preisniveau in der Schweiz berücksichtigt.

Die EU ist sodann bereit, der Schweiz Ausnahmen zu gewähren bei der Voranmeldefrist für Arbeiten mit entsandtem Personal und bei den Kautionen, die für solche Arbeiten hinterlegt werden müssen.

  • Landverkehr: Der Bundesrat ist einverstanden, dass der internationale Personenverkehr auf der Schiene geöffnet wird. Dabei soll sich aber die Qualität des öffentlichen Verkehrs in der Schweiz nicht verschlechtern. Der Bundesrat will, dass die Tarifintegration und der Taktfahrplan garantiert bleiben. Die Zuständigkeit für die Vergabe von Trassen in der Schweiz will er beibehalten. Das Kooperationsmodell im internationalen schienengestützten Personenverkehr will der Bundesrat aufrechterhalten können. Die EU ist damit einverstanden.
  • Kohäsionszahlungen: Der Bundesrat gibt grünes Licht dafür, dass ein rechtsverbindlicher Mechanismus für einen regelmässigen Kohäsionsbeitrag der Schweiz geschaffen wird, um die sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten innerhalb der EU zu verringern. Die Höhe und die Frequenz dieses Beitrags muss in den Verhandlungen noch festgelegt werden. Schon jetzt bezahlte die Schweiz einen Kohäsionsbeitrag an die EU. Dieser betrug zuletzt 1,3 Milliarden Franken, verteilt auf zehn Jahre – also 130 Millionen Franken pro Jahr. Es ist davon auszugehen, dass der neue Kohäsionsbeitrag deutlich höher ausfallen wird.

Hebelt die dynamische Übernahme von EU-Recht durch die Schweiz die direkte Demokratie und den Föderalismus aus?

Nein. Die verfassungsmässigen Rechte des Volks und die Zuständigkeiten der Kantone bleiben entgegen den Behauptungen von SVP und anderen nationalkonservativen Kreisen auch nach Inkrafttreten der Bilateralen III gewahrt. Denn dynamische Rechtsübernahme bedeutet nicht automatische Rechtsübernahme. Gemeint ist, dass EU-Recht fortlaufend ins schweizerische Recht übergeführt wird, statt nur periodisch, wie dies bei den statischen Abkommen Bilaterale I und II vorgesehen ist. Dabei können die in der Verfassung vorgesehenen Organe Bundesrat, Parlament und Volk weiterhin entscheiden, ob sie EU-Recht übernehmen wollen oder nicht. Referenden gegen Parlamentsentscheide sind weiterhin möglich; das Volk kann also das letzte Wort haben, wenn es will. Auch Volksinitiativen sind weiterhin möglich.

Entscheidet sich das Volk in einer Referendumsabstimmung allerdings gegen die Übernahme eines EU-Rechtsakts oder nimmt das Volk eine Initiative an, die gegen EU-Recht verstösst, kann die Europäische Union gegenüber der Schweiz Ausgleichsmassnahmen ergreifen. Die EU will so verhindern, dass sich die Schweiz bei jeder erstbesten Gelegenheit eine Extrawurst ausbedingt. Damit verbunden ist zugegebenermassen ein gewisser Zwang, sich bei Referendumsabstimmungen und Volksinitiativen EU-konform zu verhalten. Das ist aber nichts Neues; das ist schon bei Volksabstimmungen über Gesetze und Initiativen mit EU-Bezug im Rahmen der Bilateralen I und II der Fall. Erinnert sei etwa an die Masseneinwanderungsinitiative (2014) sowie den Abstimmungen über die Anpassung des Schweizer Waffengesetzes an die EU-Waffenrichtlinie (2019) und über den Schweizer Beitrag an die EU-Grenzschutzagentur Frontex (2022).

Auch der schweizerische Föderalismus wird durch die Bilateralen III nicht ausgehebelt. Die Kantone haben gemäss Artikel 55 der Bundesverfassung ein Mitwirkungsrecht an der Aussenpolitik des Bundes, also auch an dessen Europapolitik. Gemäss diesem Artikel informiert der Bund die Kantone rechtzeitig und umfassend über aussenpolitische Belange und holt ihre Stellungnahmen ein. Betrifft die Aussenpolitik Zuständigkeiten der Kantone, muss der Bund die Kantone in geeigneter Weise an den entsprechenden Verhandlungen beteiligen. Diese Verfassungsvorschriften gelten schon bei der Aushandlung der Bilateralen III und sie gelten auch nach deren Inkrafttreten weiter.  Im vorliegenden Paket der Bilateralen III betrifft lediglich die geplante Bundesaufsicht über kantonale Subventionen das Verhältnis von Bund und Kantonen. In den übrigen Dossiers ist die bestehende Aufgabenverteilung zwischen Bund und Kantonen nicht tangiert.

Im Streitfall zwischen der Schweiz und der EU soll auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine Rolle spielen. Muss die Schweiz jetzt fremde Richter akzeptieren?

Die Schweiz und die EU haben sich in den Sondierungsgesprächen auf ein zweistufiges Streitschlichtungsverfahren geeinigt (für Details siehe oben). Solche Schiedsverfahren sind im Wirtschaftsvölkerrecht gang und gäbe. Speziell ist einzig, dass dabei auch der EuGH eine Rolle spielen soll. Dieser muss beigezogen werden, wenn sich dem Schiedsgericht eine offene und noch ungelöste Frage der Anwendung oder Auslegung von EU-Recht stellt. Der EuGH beansprucht nämlich für sich das letzte Wort darüber, wie EU-Recht in der Europäischen Union ausgelegt wird. Dazu gehört auch EU-Recht, das mittels eines Vertrags auf einen Drittstaat – im vorliegenden Fall also auf die Schweiz – ausgedehnt und damit «vervölkerrechtlicht» wird. Ob eine Richtlinie oder Verordnung unmittelbar oder als Teil eines Vertrages ausgelegt wird, spielt keine Rolle. Es muss eine Auslegung gefunden werden, die für alle Mitgliedstaaten der EU, des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) und für die Schweiz gleichsam Geltung hat.

Es wird eingewendet, dass im EuGH keine schweizerischen Richterinnen und Richter sitzen. So gesehen sind die Richterinnen und Richter aus Luxemburg tatsächlich fremde Richter. Allerdings nimmt auch in einem Verfahren eines Mitgliedstaates vor dem EuGH nicht zwingend ein Richter oder eine Richterin mit dessen Nationalität teil. Die EuGH-Richterinnen und -Richter können zudem nur soweit über Recht in Schweiz urteilen, als dieses EU-Recht darstellt. Die besonderen Vertragsbestimmungen der Bilateralen III sowie schweizerisches Recht fallen in diesem Verfahren vor dem EuGH nicht darunter. Sie werden abschliessend vom paritätischen Schiedsgericht beurteilt. Im Übrigen verändern die Bilateralen III die Zuständigkeiten schweizerischer Gerichte und des Bundesgerichts bei der Auslegung von Europa- und Völkerrecht nicht.

Wird der EuGH, weil er das Gericht der Gegenpartei ist, im Streitfall zwischen der Schweiz und der EU parteiisch urteilen? Auf diese Frage hin sagte der an der Universität Zürich lehrende Europarechtler Matthias Oesch in einem Interview mit der Zeitschrift «Nebelspalter»: «Der EuGH hat langjährige Erfahrung darin, Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit Drittstaaten auszulegen. Dabei entscheidet er grundsätzlich ohne Rücksicht auf die Herkunft der Parteien. Dies zeigt sich auch bei der Auslegung der bilateralen Abkommen mit der Schweiz. Der EuGH hat bewiesen, dass er in der Lage ist, auch hier sachlich, unparteiisch und methodisch angeleitet vorzugehen.» Wesentlich ist sodann, dass das Urteil des EuGH nicht nur für die Schweiz, sondern für alle Mitgliedstaaten der EU und des EWR massgebend ist. Die Auslegung richtet sich nicht an die Schweiz allein.

Gibt die Schweiz mit den Bilateralen III ihre Souveränität preis?

Nein, die Schweiz bleibt auch mit den Bilateralen III eigenständig und unabhängig. Sie wird keine Kolonie der EU, wie das die SVP und ihr nahestehende nationalkonservative Kreise behaupten, und sie geht auch nicht in der EU auf. Sie gewinnt gegenüber den Bilateralen I und II sogar an Souveränität, selbst wenn sie auch mit den Bilateralen III nicht mitentscheiden kann beim Erlass von EU-Recht, das sie übernehmen muss. Dieser Mangel soll aber teilweise aufgewogen werden durch ein Mitspracherecht bei der Vorbereitung von zu übernehmendem EU-Recht. Die Schweiz soll also dabei sein beim sogenannten decision shaping; beim decision taking wird sie dagegen nach wie vor nicht am Tisch sitzen.

Dieses Mitspracherecht hat die Schweiz bereits im Rahmen der Bilateralen II bei den Dublin- und Schengen-Abkommen erhalten. Es hat sich dabei als durchaus nützlich erwiesen. So hat die Schweiz bei der Revision der EU-Waffenrichtlinie eine Ausnahme dahingehend erwirken können, dass Schweizer Wehrmänner ihr Sturmgewehr auch nach dem Ausscheiden aus dem Militärdienst bei sich zu Hause behalten dürfen. Diese Ausnahme hat 2019 mitgeholfen, die nachfolgende Anpassung des schweizerischen Waffengesetzes erfolgreich durch die Volksabstimmung zu bringen.

Sodann hat die Schweiz die Möglichkeit des Opt-out bei der Übernahme von EU-Recht. Das haben weder die Mitgliedstaaten der EU noch des EWR. Die Schweiz kann souverän entscheiden, dass eine bestimmte EU-Regelung nicht übernommen wird. Sie muss aber entsprechend verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen in Kauf nehmen.

Was ist das Besondere an den Verhandlungen über die Bilateralen III?

Neu an diesen Verhandlungen ist, dass sie sozusagen mit offenen Karten und transparent geführt werden. Sowohl der Bundesrat wie die EU-Kommission haben nämlich ihre jeweiligen Verhandlungsmandate im Internet veröffentlicht (Das Mandat des Bundesrats findet sich hier; dasjenige der EU-Kommission hier). Damit kann die Bevölkerung der beiden Parteien im Detail sehen, was diese in den Verhandlungen erreichen wollen. Dieser Schritt wurde gemacht, um Vertrauen in die Verhandlungen zu schaffen und Falschinformationen vor allem von Gegnern der Verhandlungen einen Riegel zu schieben. Umgekehrt führt die Transparenz auch dazu, dass innenpolitisch von Politik, Wirtschaft und Parlament neue Forderungen auf den Tisch gelegt wurden. Diese hat der Bundesrat in seinem Verhandlungsmandat so weit wie möglich berücksichtigt. Die Transparenz erleichtert es den Gegnern der Verhandlungen überdies, Einwände und Kritik zu formulieren, die in den Medien jeweils breit aufgenommen werden. Das lässt entgegen den Ergebnissen vom Umfragen den Eindruck aufkommen, den Bilateralen III blase in der breiten Öffentlichkeit ein steifer Wind entgegen.

Für den Bundesrat ist die Veröffentlichung eines Verhandlungsmandats und weiterer Verhandlungsunterlagen neu. Sie geschieht erstmals in der Geschichte der schweizerischen Diplomatie. Bisher waren Verhandlungsdokumente immer geheim und nur den parlamentarischen Kommissionen zugänglich. Die EU-Kommission hat Verhandlungsunterlagen dagegen schon mehrfach publik gemacht – so etwa bei den Brexit-Verhandlungen mit Grossbritannien.

Wie lange werden die Verhandlungen mit der EU dauern?

EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen sagte beim Verhandlungsstart, aufgrund der vorangegangenen Sondierungsgespräche gebe es nun ein gemeinsames Verständnis der Verhandlungen und eine Vertrauensgrundlage, um schnell weitere Fortschritte zu erzielen. Ziel der EU sei es, die Verhandlungen noch in diesem Jahr abzuschliessen. Bundespräsidentin Amherd war zurückhaltender, was den Zeitrahmen der Verhandlungen betrifft. «Wenn das noch bis Ende 2024 klappen würde, wäre das natürlich fantastisch», sagte sie. Das hätte den Vorteil, dass noch mit der aktuell amtierenden Kommission abgeschlossen werden könnte. Für die Schweiz gehe aber «Qualität vor Tempo».

Wie geht es in der Schweiz weiter, wenn die Verhandlungen mit der EU einmal abgeschlossen sind?

Gesetzt der Fall, die Verhandlungen über die Bilateralen III können wie von der EU angestrebt bis Ende 2024 abgeschlossen werden, folgt ein langwieriger innenpolitischer Prozess in der Schweiz. Der Bundesrat muss zunächst das Verhandlungsergebnis gutheissen. Das könnte ebenfalls noch Ende 2024 geschehen. Danach wird er ein Paket schnüren mit den geänderten und neuen Verträgen mit der EU sowie inländischen Gesetzesreformen. Das alles wird der Bundesrat zuerst in die Vernehmlassung schicken und danach – falls das Echo nicht gerade vernichtend ist – an das Parlament überweisen. Wenn das schnell geht, könnte das Parlament das Paket noch im Jahr 2025 debattieren und verabschieden. Eine Volksabstimmung könnte dann 2026 stattfinden. Das ist sozusagen der Idealfall.

Es könnte alles aber auch mehr Zeit beanspruchen. Dann kommt das Jahr 2027 dazwischen, in dem das schweizerische Parlament neu gewählt wird. FDP, Mitte und SP könnten dabei versucht sein, das parteiintern wie im Volk umstrittene bilaterale Paket von den Wahlen fernzuhalten. Tun sie das, würde es erst 2028 zur Parlamentsdebatte kommen. Und die Volksabstimmung könnte dann erst 2029 durchgeführt werden. Es kann also im schlimmeren Fall noch eine ganze Weile dauern, bis die Bilateralen III in Kraft treten.

Wie wird dereinst über die Bilateralen III abgestimmt?

Im Prinzip genügt ein fakultatives Referendum – also eine Abstimmung, bei der einzig das Mehr des Volks entscheidet. Ein obligatorisches Referendum – also eine Abstimmung, bei der ein doppeltes Mehr von Volk und Ständen (Kantonen) erforderlich ist – wäre gemäss Artikel 140 der Bundesverfassung nur notwendig, wenn die Bilateralen III mit einer Verfassungsänderung verbunden wären oder zu einem Beitritt zu einer supranationalen Organisation – also etwa zur EU – führen würden. Beides ist aber mit den Bilateralen III nicht der Fall.

Trotzdem fordern vor allem die SVP sowie weitere nationalkonservative und rechtsliberale Kreise von Bundesrat und Parlament die Unterstellung der Bilateralen III unter das obligatorische Referendum. Sie argumentieren mit der grossen politischen und wirtschaftlichen Tragweite dieses Vertragspakets für unser Land und dem Schutz der Kantone in der föderalistisch organisierten Schweiz. Dabei vergessen sie, dass die Bilateralen I und II wie auch die WTO-Verträge und deren verbindliche Streitbeilegung ebenfalls nur dem fakultativen Referendum unterstellt waren, obwohl auch diese Vertragswerke eine grosse Tragweite für die Schweiz hatten. Erinnert sei etwa an das Abkommen über die Personenfreizügigkeit mit der EU im Rahmen der Bilateralen I oder an die Abkommen über Dublin (Asylkooperation mit der EU) und Schengen (Reisen ohne Grenzkontrollen in Europa) bei den Bilateralen II. Zudem geht es den Befürwortern eines obligatorischen Referendums nur vordergründig um den Schutz der Kantone und des Föderalismus. Sie wollen vor allem die Hürden für die von ihnen ungeliebten oder gar unerwünschten Bilateralen III in einer Abstimmung möglichst hoch machen.

Wie wichtig sind die Bilateralen III für die Schweiz?

Die Schweiz ist nicht Mitglied der EU. Sie ist geografisch gesehen eine Insel inmitten der Europäischen Union. Trotzdem ist sie mit dieser aufs Engste verbunden. Dies zunächst einmal wertemässig: Die Schweiz und die EU setzen sich beide ein für Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Marktwirtschaft. Dann kulturell: Die Schweiz ist umgeben von EU-Mitgliedstaaten, mit denen sie die Sprache und die Religion teilt.

Die Schweiz ist aber auch wirtschaftlich stark mit der EU verflochten. Diese ist mit Abstand der grösste Handelspartner unseres Landes. Rund 50 Prozent der schweizerischen Warenexporte gehen in die EU, 70 Prozent der Warenimporte stammen von dort. Das gesamte Warenhandelsvolumen zwischen der Schweiz und der EU (Exporte zuzüglich Importe) beträgt fast 300 Milliarden Franken. Fast 40 Prozent der schweizerischen Dienstleistungsexporte haben die EU als Ziel, rund 45 Prozent der Dienstleistungsimporte haben dort ihren Ursprung. Das gesamte Dienstleistungshandelsvolumen zwischen der Schweiz und der EU (Exporte plus Importe) beläuft sich auf knapp 125 Milliarden Franken (alle Zahlen von 2022). Zwei Drittel des Bestands an ausländischen Direktinvestitionen in der Schweiz – rund 700 Milliarden Franken – kommen aus der EU. 40 Prozent des Bestands an schweizerischen Direktinvestitionen im Ausland – total 565 Milliarden Franken – befindet sich in der EU (Daten von 2021).

Schliesslich bestehen auch enge menschliche Verbindungen. In der Schweiz leben, arbeiten oder studieren über 1,4 Millionen EU-Bürgerinnen und –Bürger. Das entspricht etwa 16 Prozent der Wohnbevölkerung unseres Landes. Umgekehrt haben gut 450’000 Schweizerinnen und Schweizer ihren Wohnsitz in der EU. Zudem pendeln täglich rund 375’000 Grenzgängerinnen und –gänger aus den benachbarten EU-Staaten in die Schweiz. Das entspricht fast 7 Prozent der Erwerbstätigen des Landes (Angaben von 2022).

Diese vielfältige, sehr enge Verbundenheit äussert sich darin, dass die Schweiz bis heute über 120 bilaterale Abkommen mit der EU abgeschlossen hat. Die wichtigsten sind das Freihandelsabkommen (1972), das Versicherungsabkommen (1989) sowie die Vertragspakete Bilaterale I (1999) und Bilaterale II (2004). Und jetzt soll also noch ein weiteres wichtiges Vertragspaket dazukommen, die Bilateralen III.

Diese bilateralen Abkommen sind bis auf Weiteres die einzige vertragliche Verbindung der Schweiz zur EU, der wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Organisation Europas. Diese Abkommen bringen unserem Land Stabilität, Wachstum und Wohlstand. Es ist deshalb wichtig, dass die Schweiz diese Verbindung zur EU mit den Bilateralen III sichern und weiterentwickeln kann. Alternativen wie ein Schritt zurück zu einem – allenfalls modernisierten – Freihandelsabkommen mit der EU sind entweder politisch und wirtschaftlich uninteressant oder wie ein EU-Beitritt in absehbarer Zeit nicht realisierbar.

Wie lautet die vorläufige Haltung der Vereinigung Die Schweiz in Europa zu den Bilateralen III?

Die Vereinigung Die Schweiz in Europa unterstützt die Verhandlungen mit der EU über ein neues, drittes bilaterales Vertragspaket voll und ganz. Sie hat sich bereits für das 2021 verworfene institutionelle Rahmenabkommen sowie für einen offenen Verhandlungsprozess eingesetzt. Sie ist der Auffassung, dass die soliden, in zahlreichen Sondierungsgesprächen erarbeiteten Verhandlungsgrundlagen ein faires Bündnis zwischen der Schweiz und der EU erlauben. Eine definitive Einschätzung der Bilateralen III nimmt die Vereinigung Die Schweiz in Europa vor, sobald das endgültige Verhandlungsergebnis vorliegt.