Es sind zwei sorgsam gepflegte Lebenslügen, die die Schweiz daran hindern, ihre Stellung in der Welt richtig zu sehen und ihr aussenpolitisches Handeln danach auszurichten: Die Lebenslüge immerwährende Neutralität und die Lebenslüge Kleinstaat.
Die Lebenslüge Neutralität ist zum eigentlichen Identitätsfaktor geworden. Die Gleichsetzung von neutral und schweizerisch erschwert daher eine sachliche Debatte und behindert die Umsetzung einer Aussenpolitik, wie sie die Bundesverfassung vorgibt. Da findet man in Artikel 54 die Ziele und Zwecke der schweizerischen Aussenpolitik: die Linderung von Not und Armut in der Welt, die Achtung der Menschenrechte, die Förderung der Demokratie und des friedlichen Zusammenlebens der Völker, die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen. Die schweizerische Aussenpolitik soll also solidarisch sein. Unmissverständlich. Die Neutralität kommt in diesem Zielkatalog nicht vor. Trotzdem ist sie in der politischen Praxis und im kollektiven Bewusstsein zu einem den Verfassungszielen übergeordneten Wert geworden. Diese Verabsolutierung eines simplen Mittels zur obersten aussenpolitischen Maxime findet aber weder in den historischen Erfahrungen der Schweiz noch in den aktuellen Herausforderungen ihre Begründung und Rechtfertigung.