Daniel Woker: „Welche Neutralität?“
Neutralität war immer ein Mittel, nicht ein Ziel der schweizerischen Aussenpolitik. In der von Autokraten und Autokratie bedrohten Welt des 21. Jahrhunderts spielt sie keine Rolle mehr, wie das jüngste Beispiel des Ukrainekrieges zeigt.
Wirtschaftsneutralität?
Die volle Übernahme der EU-Sanktionen gegen Putins Russland war ein notwendiger und richtiger Entscheid schweizerischer Aussenpolitik. Notwendig, weil alles andere zur Isolation der Schweiz im Kreise zivilisierter Staaten geführt hätte. Richtig, weil alles andere Unterstützung von Putins Kriegsmaschinerie bedeutet hätte.
Denn die Schweiz ist kein Leichtgewicht im Wirtschaftsverkehr mit Russland; wie andere wichtige westliche Wirtschaftsmächte – die USA, das UK, zahlreiche EU-Staaten – befinden wir uns im wirtschaftlichen Kriegsstatus mit Russland, der uns durch die zügellose Aggression Putins aufgezwungen worden ist. (Und damit laut klassischer Neutralitätsdefinition diese ohnehin wegfällt). 80% der russischen Mineralenergieexporte werden via Schweiz gehandelt. Der Finanzmarkt Schweiz ist, einem Bericht der schweizerischen Botschaft in Moskau zufolge, bei weitem der beliebteste internationale Hafen für die Verwaltung der Gelder reicher Russinnen und Russen.
Die Beteuerungen des schweizerischen Finanzministers anlässlich der Verkündigung des schweizerischen Sanktionsentscheides, der gegenseitige Wirtschaftsverkehr sei ‘eher geringfügig’ war im besten Falle eine fahrlässige Verniedlichung des wahren Sachverhalts. Sollte es nämlich zum westlichen Grundsatzentscheid kommen, auch alle russischen Mineralexporte zu unterbinden, wäre der Rohstoffhandelsplatz Schweiz an erster Stelle gefordert. Dies ist bislang primär mit Rücksicht auf wirtschaftliche Schwergewichte in der EU nicht geschehen, könnte aber mit dem Andauern der Kriegsgräuel in der Ukraine durchaus und schnell Tatsache werden. Rund ein Drittel der russischen Staatsausgaben werden via Steuern gedeckt, der Rest durch eben diese Rohstoffexporte. Putin würde das Geld für seinen Aggressionskrieg ausgehen.
Sicherheitspolitische Neutralität?
FDP Präsident Thierry Burkart fordert eine engere Anlehnung an die NATO, da die Schweiz, wie der Ukrainekrieg zeigt, sich allein nicht gegen nackte Aggression verteidigen kann. Er schliesst zwar eine NATO-Mitgliedschaft für die ‘neutrale Schweiz’ aus, aber engere Zusammenarbeit geschieht via gemeinsame Übungen, Rüstungsbeschaffung und Vernetzung von Kommandostrukturen. Wenn die Forderung nach Anlehnung wirklich ernst gemeint ist, wird sie über die bisherige, lose Zusammenarbeit im Rahmen der sog. Partnership for Peace – der sich die Schweiz unter der staatsmännischen Führung des damaligen Verteidigungsministers Dölf Ogi zu Beginn der 90er Jahre angeschlossen hat – hinausgehen müssen in Richtung assoziierter NATO-Mitgliedschaft. Das ist ein durchaus ernsthaft zu prüfender, immerhin aber entscheidender Schritt weg vom Dogma des neutralen und bewaffneten Igels, das offiziell weiterhin gilt.
Weniger radikal ist eine resolute Annäherung an die EU, welche zwar sicherheitspolitisch nicht mit der NATO verglichen werden kann, aber auch in diesem Bereich vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges vor entscheidenden Schritten steht. Die Schaffung einer diesmal real existierenden ‘Raschen Eingreiftruppe’ aus verschiedenen europäischen Streitkräften zusammengesetzt, aber unter einem einheitlichen EU-Kommando stehend ist bereits beschlossen. Falls die Schweiz sich wirklich sicherheitspolitisch internationaler ausrichten will, wäre eine Mitbeteiligung im Rahmen dieser Eingreiftruppe ein erster Schritt, der in Brüssel wohl auch von einem EU-Nichtmitgliedsland begrüsst würde. Zumal von einem Land wie der Schweiz, das über durchaus ernst zu nehmende Streitkräfte verfügt und wo laut einer ersten Umfrage eine Mehrheit eine militärische Zusammenarbeit mit der EU wünscht.
In der Innenpolitik ist dazu das resolute Abrücken von Regierung, Politik und Medien vom Mythos Neutralität nötig. Absurd sind im gegenwärtigen Kontext einer autokratischen Aggression gegen Europa durch Putin etwa Diskussionen, ob via Deutschland gelieferte Munition an die vom Untergang bedrohte Ukraine kompatibel sei mit ‘Neutralität’. Oder ob Kanada verboten werden soll, mit Kriegsmaterial für die Ukraine die Schweiz zu überfliegen. Oder Medienspekulation, ob ein Parlamentarierbesuch in der Ukraine ‘neutral’ sei. Waffenlieferungen an die Ukraine, ebenso wie ein solcher Besuch sind angesichts der russischen Aggression selbstverständlich und entsprechen gesundem Menschenverstand ebenso wie der Notwendigkeit einer vernünftigen Aussenpolitik.
Dass eine Neutralitätsdefinition aus dem 19. Jahrhundert und ein überholter internationaler Vertrag vom Beginn des 20. Jahrhunderts, die sog. Haager Landkriegsordnung, dagegen sprechen würden, ist im 21. Jahrhundert mit seinem seitdem völlig anderen Europa nicht mehr zutreffend. Die Schweiz kann jederzeit, und ohne irgendwelche internationale Geste ihre Aussenpolitik ihren wirklichen Interessen anpassen. Wie es die anderen, bis Mitte 20.Jahrhunderts ebenso Neutralen – Schweden, Finnland und Österreich – seit geraumer Zeit tun und dies unter Applaus der gesamten westlichen Staatenwelt. Die beiden Ersten werden mit ihrem bevorstehenden NATO-Beitritt gar den letzten und entscheidenden Schritt weg machen vom Neutralitätsstatus – keine Teilnahme in Militärbündnissen. Was für die Schweiz und Österreich, wegen ihrer im Vergleich zu Skandinavien völlig anderen Geographie (noch?) nicht nötig ist.
Gute Dienste?
Ebenso unnötig ist eine vermeintlich ‘neutrale’ Haltung, weil die Schweiz doch traditionell Gute Dienste im Sinne von Vermittlung leiste. Diese haben nichts mit Neutralität zu tun. Sie werden durch jenen Staat geleistet, der in einem gegebenen Moment sowohl von der Sache als auch den eigenen Mitteln her dazu in der Lage ist. Das war in den letzte Jahrzehnten oft das NATO-Mitglied Norwegen, im Falle des Ukrainekrieges allenfalls das NATO-Mitglied Türkei. Ankara verfügt, primär wegen seines Rüstungspotentials und seiner strategischen Lage am Ausgang des Schwarzen Meeres noch am ehesten über Hebel, welche auch einem irrationalen Putin nicht ganz gleichgültig sein können.
Die Übernahme von Schutzmachtmandaten und die Bedeutung von Genf als Begegnungsort ist eine Funktion von Geschichte und Standortförderung, hat aber höchsten in historischer Perspektive mit Guten Diensten zu tun.
Rückzugsgefecht
Die Folge des Ukrainekrieges wirken sich bereits deutlich auf die internen Diskussionen über schweizerische Sicherheits- und Europapolitik aus. Es wird offenbar, dass wir allein politisch und militärisch nicht in der Lage sind, schweizerische Interessen und Werte gegen nackte autokratische Aggression zu verteidigen. Diese Interessen gehen weit über unsere Landesgrenzen hinaus; sie sind auch mit 20 zusätzlichen Kampfflugzeugen und 200 Kampfpanzern der neuesten Generation nicht besser zu schützen. Hier wird eine resolute Annäherung an die EU und ihre nach dem Ukraineshock schnell sich weiter entwickelte Sicherheitsidentität unausweichlich sein.
Der aussenpolitische Altpolemiker in Herrliberg hat das bereits gewittert. Blocher sieht seine europhoben Felle zunehmend davonschwimmen, wie sein unsinniger Vorschlag zeigt, ein ‘neutrales Sanktionsverbot’ in der Verfassung festzuschreiben. Er entfernt sich damit weiter von der Volksmeinung, welche die Sanktionen gegen den Kriegsverbrecher Putin unterstützt. Die SVP folgt ihm einmal mehr blind ins Verderben, wenn etwa die Partei Bundespräsident Cassis ob seiner einfühlsamen rhetorischen Umrandung der Videobotschaft von Selinski am 19.März auf dem Bundesplatz wegen ‘Neutralitätsverletzung’ rügt.
Eiertanz
René Rhinow, ehemaliger FdP Ständerat und Rechtsprofessor, einer der wohl versiertesten Kenner von Theorie und Praxis der schweizerischen Neutralität hat eben ‘mit Befremden festgestellt, dass gegenwärtig ein Eiertanz um den Mythos der Neutralität stattfindet’, und dies nicht nur bei den notorischen Neinsagern aus der rechten SVP-Ecke. Rhinow fährt fort: ‘ Die schweizerische Aussenpolitik muss sich nach den in der Bundesverfassung verankerten Zielen richten’ . Diese sind: Wahrung der Unabhängigkeit der Schweiz und ihrer Wohlfahrt, Linderung von Not und Armut in der Welt, Achtung der Menschenrechte und Förderung der Demokratie, friedliches Zusammenleben der Völker und Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen. Rhinow folgert daraus: ‘Gefordert ist eine kluge und vorausschauende Aussen- und Sicherheitspolitik auf der Grundlage unserer Verfassungsziele, die sich nicht hinter einem diffusen und geschichtswidrigen Bild der Neutralität versteckt’.
An der GV der Gesellschaft ‘Die Schweiz in Europa’ vom 12.Juni wird René Rhinow einen Panel und eine Diskussion leiten, welche die längst überfällige Rückführung der Neutralität in ihre geschichtliche Vergangenheit und die Notwendigkeit einer Aussenpolitik ohne die zur Worthülse gewordenen ‘Neutralität’ zum Thema hat.