Europakolloquium, 21.9.: Präsentation D. Martin

Dominique Martin, Leiter Public Affairs des Verbandes Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen ( VSE) begründete am 21.September 23 an einer von ASE gemeinsam mit dem Europa Institut Basel organisierten Anlass eingehend die Notwendigkeit eines Energieabkommens mit der EU aus Sicht der betroffenen Branche. Seine hier wiedergegebenen Folien sprechen für sich fassen die gemachen Überlegungen und Argumente konzis zusammen. Ohne Abkommen läuft die Schweiz nach 2024 ernsthaft Gefahr der Versorgungsinstabilität und möglichen Blackouts.

Vortrag von Dr. Martin

Ja nicht zu viel Europa! von Martin Gollmer

Es scheint, als hätten mit der Ernennung von Jean-Daniel Ruch zum Staatssekretär für Sicherheitspolitik diejenigen Kräfte in Bundesbern gewonnen, die zur EU und zur Nato auf Distanz bleiben und an der traditionellen Neutralität festhalten wollen.

Das war eine dicke Überraschung: Am Freitag, 15. September 2023, wählte der Bundesrat nicht die Favoritin Pälvi Pulli, die Chefin Sicherheitspolitik im Verteidigungsdepartement, an die Spitze des neu geschaffenen Staatssekretariats für Sicherheitspolitik (Sepos), sondern den weitgehend unbekannten Karrierediplomaten Jean-Daniel Ruch.

Die umtriebige, ursprünglich aus Finnland stammende Pulli gilt in Bundesbern als Internationalistin. Sie steht für die Formel «Sicherheit und Kooperation». Sie will so viel sicherheits- und verteidigungspolitische Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten, der EU und der Nato wie möglich. Die Neutralität der Schweiz soll dabei nur so weit wie unbedingt nötig berücksichtigt werden. Das dürfte einer Mehrheit im Bundesrat und rechts-nationalen Politikkreisen nicht behagt haben.

Ruch gemässigter als Pulli

Ruch ist dagegen nicht so forsch wie Pulli, er ist stromlinienförmiger. Der aus Moutier stammende altgediente Botschafter mit Posten von Belgrad über Tel Aviv bis Ankara lancierte seine Karriere Ende der 1980er-Jahre im damaligen Militärdepartement in der Zentralstelle für Gesamtverteidigung. Die Stelle habe viel Gemeinsames gehabt mit dem Staatssekretariat für Sicherheitspolitik, sagte der 60-jährige Ruch bei der Präsentation durch Verteidigungsministerin Viola Amherd. Will heissen, dass sich das Sepos nicht nur schwergewichtig mit internationaler Kooperation befassen wird, sondern auch mit Ereignissen wie Stromausfällen in der Schweiz oder Cyberattacken aus dem Ausland.

Obwohl die Neutralität heute von manchen angezweifelt wird, misst Ruch ihr grossen Wert bei. Er bezeichnet sie bei seiner Präsentation als «Soft Power der Schweiz». Er habe während seiner diplomatischen Karriere mehrmals Dinge tun können,  die nur dank der Neutralität möglich geworden seien. So etwa im Nahen Osten, wo er einst als Sonderbeauftragter der damaligen Aussenministerin Micheline Calmy-Rey unterwegs war. Mit dieser Haltung dürfte Ruch bei einer Mehrheit der Landesregierung auf Anklang gestossen sein. Auch im nationalkonservativen politischen Lager dürfte man damit zufrieden sein.

Wie dem auch sei: Man soll den Stab nicht zu früh über Ruch brechen; er soll erst einmal im Amt beweisen können, wie er denkt und handelt. Dennoch wird man den Eindruck nicht los, dass mit der Ernennung Ruchs diejenigen Kräfte in Bundesbern gewonnen haben, die zur EU und zur Nato auf möglichst grosser Distanz bleiben und an der hergebrachten Neutralität festhalten wollen.

Mehr Kooperation notwendig

Dabei bräuchte die Schweiz mehr Kooperation mit der EU und der Nato in sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen. Den meisten Schweizerinnen und Schweizern ist nämlich inzwischen klar, dass sich die Schweiz bei einem militärischen Angriff aus dem Ausland nur kurze Zeit selbst verteidigen kann. Namhafte Politiker wie etwa FDP-Präsident Thierry Burkart haben denn auch für eine engere Kooperation insbesondere mit der Nato plädiert. Deren Abwehrdispositiv gegen einen feindlichen Angriff auf dem Boden oder in der Luft auf ihr Gebiet in Europa schützt jetzt schon auch die Schweiz mit. Es wäre deshalb an der Zeit, wenn auch die Schweiz ihren Beitrag an diese Verteidigungsbemühungen leisten würde.

Allein, die Neutralität der Schweiz verhindert wohl einen substanziellen Beitrag an diese Bemühungen. Die Neutralität erweist sich damit im heutigen Europa, dessen Sicherheitsarchitektur seit der russischen  Aggression gegen die Ukraine in Trümmern liegt, immer weniger als wirkungsvoller Schutz vor einem militärischen Angriff auf die Schweiz. Vielmehr verhindert die Neutralität eine weitgehende Kooperation mit der EU und der Nato zum umfassenden Schutz der Schweiz im Kriegsfall. Der neue Staatssekretär für Sicherheitspolitik Ruch wird sich auch an solchen Überlegungen messen lassen müssen.

It is up to Switzerland to shape the future of Europe! by Bouke Nagel

Bouke Nagel, Holländer und seit längerem wohnhaft in St Gallen, betont die gemeinsame Verantwortung der europäischen Staaten im Integrationsprozess. Dazu gehört auch die Schweiz. Ihre Stellung in Europa, eingebettet in die multilaterale Ordnung der Nachkriegszeit, teilt in diesem Sinne die Geschichte der Dekolonisierung und des Zerfalls der europäischen Imperien.  Diese sind nach Auffassung des Autors die eigentlichen historischen Gründe der europäischen Einigung. Bouke Nagel nimmt die Schweiz in die Verantwortung, sich an diesem Prozess zu beteiligen. Nicht nur aus eigenen Interessen, sondern um ihre Mitverantwortung für die Zukunft des europäischen Kontinents und die rechtsstaatlichen Demokratien in der Welt wahrzunehmen.

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Für die EU ist die Schweiz heute nur ein gewöhnlicher Drittstaat von Martin Gollmer

Das Nicht-Mitglied Schweiz gilt für die EU nicht (mehr) als strategischer Partner und Verbündeter wie das aus dem Staatenbündnis ausgetretene Grossbritannien. Das zeigt sich im Fall der fortgesetzten schweizerischen Nicht-Beteiligung am Forschungsprogramm Horizon Europe exemplarisch.

Das ist eine bittere Pille: Grossbritannien, seit Anfang 2020 nicht mehr Teil der EU, darf wieder mitmachen, die Schweiz, auch Nicht-Mitglied der EU, muss vorerst weiterhin zuschauen. Die Rede ist vom EU-Forschungsprogramm Horizon Europe – mit einem Budget von 95 Milliarden Euro für die Jahre 2021 – 2027 das grösste Forschungsprogramm der Welt. Auf eine Rückkehr des Königreichs in das Programm haben sich die britische Regierung und die auf Seiten der EU verhandlungsführende Kommission Anfang September 2023 geeinigt. Die Einigung beweise, dass Grossbritannien und die EU strategische Partner und Verbündete seien, sagte Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen danach.

Die Beteiligung Grossbritanniens an Horizon Europe war eigentlich schon 2020 beschlossen worden. Damals vereinbarten London und Brüssel im Brexit-Handelsabkommen explizit den Zugang des Inselstaats zum Forschungsprogramm. Doch dann verstrickten sich die beiden Exekutiven in einen diplomatischen Kleinkrieg. Unter den Premierministern Boris Johnson und Liz Truss verfolgte Grossbritannien einen Konfrontationskurs gegenüber der EU und drohte, das im Brexit-Vertrag enthaltene Nordirland-Protokoll zu kündigen. Als Reaktion darauf verweigerte Brüssel London die vertraglich bereits zugesicherte Beteiligung an Horizon Europe.

Der seit Herbst 2022 amtierende Premierminister Rishi Sunak änderte den Kurs und begann wieder konstruktiv mit der EU-Kommission zu reden. Das Resultat war das sogenannte Windsor-Abkommen von Ende Februar dieses Jahres. Es legte die politische Grundlage für die britische Rückkehr ins Horizon-Forschungsprogramm und eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Grossbritannien und der EU auf breiter Front. Im Windsor-Abkommen verpflichtete sich London endlich auf die Anwendung des speziellen Handelsregimes für Nordirland. Schon vorher hatte London akzeptiert, dass in der britischen Provinz der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine Rolle spielt. Die mit diesem Ausgang verbundene Beteiligung der britischen Universitäten und Industrie an Horizon Europe war im Hintergrund von Gewicht und ein wichtiger Hebel der EU.

Unzimperliche EU

Auch im Fall der Schweiz verwendet die EU Horizon Europe unzimperlich als Druckmittel. Als Reaktion auf den einseitigen Abbruch der Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen zu den bilateralen Verträgen durch den Bundesrat im Mai 2021 schloss sie die Schweiz kurzerhand von Leitungsfunktionen im Forschungsprogramm aus. Die Schweiz hatte sich eine vollständige Beteiligung an solchen Programmen Ende der 1990er-Jahre im Rahmen der bilateralen Verträge I gesichert. Die EU will nämlich durchsetzen, dass die Schweiz zu der von ihr gewünschten Fortsetzung und Ausweitung des bilateralen Wegs gewisse institutionelle Regeln akzeptiert. Darunter befinden sich etwa eine dynamische Übernahme von EU-Recht und ein Mitwirken des EuGH bei der Schlichtung von etwaigen Streitfällen – Dinge, die in der Schweiz innenpolitisch umstritten sind.

Als wegweisend für das Schicksal der schweizerischen Beteiligung an Horizon Europe gilt eine gemeinsame Erklärung von Bern und Brüssel. Die EU-Kommission möchte nämlich die seit über einem Jahr laufenden Sondierungsgespräche mit der Schweiz schon seit Längerem mit einem solchen Dokument abschliessen. Darin sollen die Eckwerte für den Neustart der Verhandlungen über die alten Konfliktpunkte wie etwa Rechtsübernahme und Streitschlichtung sowie über neue bilaterale Abkommen etwa in den Bereichen Strom, Lebensmittelsicherheit und Gesundheit festgehalten werden. Der Entwurf für ein solches Memorandum of Understanding soll seit Ende des vergangenen Jahrs vorliegen. Doch Bern verzögert dessen Unterzeichnung mit dem Argument, es gebe noch nicht zu allen Lösungsansätzen für die Probleme zwischen der Schweiz und der EU ein gemeinsames Verständnis, weshalb es noch weitere Sondierungsrunden mit Brüssel brauche. Will die Schweiz wenigstens noch an der zweiten Hälfte der laufenden Programmperiode von Horizon Europe mitmachen können, muss sich Bern also beeilen.

Rückzug rächt sich

Der Fall von Horizon Europe zeigt, dass die EU die Schweiz nur noch als gewöhnlichen Drittstaat behandelt. Dies trotz Lage mitten in der Staatengemeinschaft, trotz den weltweit führenden eidgenössischen Hochschulen in Zürich und Lausanne, trotz den bilateralen Abkommen I und II aus der Jahrtausendwende und trotz eines Freihandelsabkommens aus dem Jahr 1972 (!). Als strategischer Partner und Verbündeter, wie EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen Grossbritannien bezeichnet hat, gilt sie nicht (mehr). Es rächt sich in diesem Zusammenhang, dass die Schweiz ihr 1992 bei der EU eingereichtes Beitrittsgesuch 2016 unter dem Druck nationalkonservativer Kreise wieder zurückgezogen hat. Gäbe es dieses Gesuch noch, würde die Schweiz als – wenn auch als ein ewiger – Beitrittskandidat gelten und könnte auf eine Vorzugsbehandlung der EU hoffen.

Seit dem Rückzug dieses Gesuchs gehen die bilateralen Verträge mit der EU auch nicht mehr als Übergangslösung bis zu einem Beitritt durch, sondern sind zu einem scheinbar definitiven Arrangement der Schweiz mit dem Staatenbündnis geworden. Kein Wunder deshalb, dass die EU seither harte institutionelle Bedingungen an die Fortsetzung und den Ausbau des bilateralen Wegs knüpft und dem schweizerischen Rosinenpicken je länger je kritischer gegenübersteht. Die Zeche bezahlen unter anderem die Hochschulen und die innovative Industrie sowie die kommende Generation von Forscherinnen und Forschern in der Schweiz.