Blocher – ein polternder Populist von Daniel Woker

In seiner Albisgüetli-Abschiedsrede vom Freitag, 19. Januar 2024, hat Altbundesrat Christoph Blocher einmal mehr seine üblichen Aussagen zu EU und Migration wiederholt, die voll von Verdrehungen und Unwahrheiten sind.

In einem langen Interview in den Tamedia-Zeitungen vom Wochenende vom 13./14. Januar 2024 spielte der Milliardär Christoph Blocher den Beschützer der Heimat mit Herz für die Armen: «Ich wäre …. sogar für eine 14. AHV-Rente». Seine darauf folgenden Aussagen zu EU und Migration, die er im Albisgüetli schlagwortartig wiederholte, zeigen aber, was er war und bleibt: ein polternder Populist – auch in seiner letzten Rede.

Unnötig? Kolonialvertrag? Einfach?

Eine Einigung mit der EU, wie sie mit den kommenden Verhandlungen über die zukünftige Gestaltung des Verhältnisses der Schweiz zur EU (Bilaterale III) allenfalls zu Stande kommt, sei ein «unnötiger Kolonialvertrag, Sachprobleme mit der EU könnten mit einem einfachen Abkommen geregelt werden». Das sind gleich drei Unwahrheiten hintereinander. Der Vertrag ist bitter nötig, um der Schweiz den Zugang zum europäischen Binnenmarkt zu erhalten. Das befürwortet gemäss Umfragen eine Mehrheit von Schweizerinnen und Schweizer.

Die Schweiz als Kolonie der EU, also von Deutschland, Frankreich, Italien und anderen europäischen Staaten, die uns politisch und wirtschaftlich am nächsten stehen? Diese zweite Unwahrheit ist einfach lächerlich. Blocher will wohl ein Alpenmonaco, in dem Reiche aus aller Welt sowie gewisse Banken und Finanzunternehmen profitieren, die grosse Mehrheit der Bevölkerung aber leiden würde. Wirtschaftlich beispielsweise unter erhöhten Importpreisen und der Abschnürung unserer bi- und trinationalen Grenzregionen von ihrem europäischen Hinterland, politisch unter einer weiteren Entfremdung des europäischen Kernlandes Schweiz von Europa.

Die dritte Unwahrheit vom «einfachen Vertrag» ist von bodenloser Frechheit. Es war nämlich Blocher, der 1992 mit einer millionenschwerer Schmutzkampagne gegen den Beitritt der Schweiz zum EWR (Europäischer Wirtschaftsraum) die Volksabstimmung zum Kippen ins knappe Nein brachte. Das wäre eine einfache Lösung für den Zugang zum EU-Binnenmarkt gewesen. Seither sind zwar Notlösungen gefunden worden, was nun aber zu Ende ist. Für einen Vertrag braucht es zwei Seiten; die EU hat seit Jahren das Ende von Notlösungen signalisiert.

Unreflektiertes vom Biertisch

Blochers im Interview weiter enthaltene Beschimpfung der «classe politique, welche die lästigen Volksabstimmungen und das Kantonsmehr (Ständemehr) beseitigen» will, ist sein übliches Echo vom unreflektierten Biertisch. Dass die beiden SVP-Bundesräte Guy Parmelin und Albert Rösti ohne Beschluss der Gesamtregierung in ihren internationalen Kontakten am Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos die These vom doppelten Mehr, also einer Mehrheit von Volk und Kantonen, bei der kommenden Volksbefragung über die Bilateralen III vertreten haben, wiegt schwerer. Das geht in Richtung Befehlsempfang aus Herrliberg für Minister, die unabhängig von ihrer Partei gemäss dem Wohl des Landes entscheiden sollten. Die Bilateralen I und II sind beide dem einfachen Referendum unterstellt worden, da darin keine Veränderung der Bundesverfassung – Grundvoraussetzung des obligatorischen Referendums mit doppeltem Mehr – vorgesehen war, was auch auf die Bilateralen III zutreffen wird.

Die EU brauche «Geld, Geld, Geld», behauptet Blocher weiter. Er meint damit den Kohäsionsbeitrag, der mit den Bilateralen III auf eine solide Basis gestellt werden soll. Die Schweiz leistet diesen Beitrag seit Jahren, um zum Ausgleich zwischen West und Ost im EU-Binnenmarkt beizutragen. Dies auch in unserem eigenen Interesse, ist doch gerade die exportabhängige Schweiz auf prosperierende  Märkte angewiesen. Es handelt sich um Mittel, die für das Wohl Gesamteuropas eingesetzt werden. An dessen Stärkung muss sich in diesen Zeiten von europäischen (Ukraine) und globalen geopolitischen Verwerfungen auch das Nichtmitglied Schweiz, das nichts für das reguläre EU-Budget leistet, beteiligen.

Geld braucht die EU tatsächlich für die Bewältigung der grossen Zukunftsprobleme: Klimawandel, Regulierung von Technologie, sicherheitspolitische Probleme mit einem Make-America-Great-Again-Präsidenten Trump in den USA, illegale Immigration. Alles Probleme, die auch die Schweiz betreffen, und die wir in enger Zusammenarbeit mit unseren europäischen Partnern besser und kostengünstiger regeln als allein.

Angriff auf die Personenfreizügigkeit

«Arbeitskräfte finden wir auch ohne Personenfreizügigkeit», meint Blocher weiter. Das ist zumindest eine grobe Verdrehung. Gerade die Personenfreizügigkeit im EU-Binnenmarkt, der sich die Schweiz mit dem bilateralen Freizügigkeitsabkommen von 1999 (FZA) angeschlossen hat, garantiert, dass die gesuchten, qualifizierten Fachkräfte, die wir dringend benötigen, ohne administrative Probleme gefunden werden können. Denn diese kommen primär aus der EU. Die SVP-Initiative gegen das FZA (Begrenzungsinitiative) haben Volk und Stände 2020 mit über 60 Prozent Nein-Stimmen verworfen.

In diesem wichtigen Bereich der nun abgeschlossenen Vorverhandlungen zwischen der Schweiz und der EU für die Bilateralen III konnten bereits die Umrisse von fairen Kompromissen zwischen allgemeinen EU-Regelungen und spezifisch schweizerischen Bedürfnissen gefunden werden. So insbesondere beim Lohnschutz, der Sozialhilfe und dem Landesverweis bei Strafverfahren.

Wo Beat Jans gefordert sein wird von Martin Gollmer

Der neu gewählte Bundestrat Beat Jans ist seit Anfang 2024 Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartements. Er ist dort gleich mehrfach gefordert – auch europapolitisch. Stichworte dazu sind etwa Zuwanderung, Asylpolitik und Personenfreizügigkeit. Im schwierigen EU-Dossier könnte er für neuen Schwung in der Landesregierung sorgen.

Seit dem 1. Januar 2024 ist der neu gewählte Bundesrat Beat Jans (SP) im Amt. Er ist für das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) zuständig. Dieses übernimmt er von seiner Parteikollegin Elisabeth Baume-Schneider, die nach nur einem Jahr ins Eidgenössische Departement des Inneren geflüchtet ist. Jans erbt von ihr einige auch europapolitisch bedeutsame Probleme, die dringend einer Lösung bedürfen. Hier eine Auswahl:

  • Hohe Zuwanderung. Die Zuwanderung in die Schweiz dürfte 2023 einen rekordverdächtigen Wert erreicht haben. Bis Ende November liessen sich rund 96’000 Personen hierzulande nieder – fast so viele wie im Spitzenjahr 2008. Die Auswanderung bei der ausländischen Bevölkerung betrug dabei 34’500 Personen. Das ergibt eine Nettozunahme der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung von 61’500 Personen oder von 3.9 Prozent. Nicht dazu zählen Asylsuchende, Personen mit Schutzstatus S und vorläufige Aufgenommene. Die Zuwanderung erfolgt fast ausschliesslich in den Arbeitsmarkt. Trotzdem beklagt die Wirtschaft einen Fachkräftemangel. Derweil kritisiert die nationalkonservative SVP, die mit Abstand wählerstärkste Partei der im Land, die hohe Zuwanderung und schürt die Angst vor einer 10-Millionen-Schweiz. Mit diesem Thema hat sie die Wahlen 2023 ins eidgenössische Parlament gewonnen.

Jans wird entscheiden müssen, welches Problem er höher gewichtet: Fachkräftemangel oder Überbevölkerung. Dabei fällt ins Gewicht, dass die Schweiz aufgrund des bilateralen Personenfreizügigkeitsabkommens mit der EU die Zuwanderung nur beschränkt selbst steuern kann. Was Jans hier tut und wie er sich entscheidet, ist durchaus von Belang: Die SVP sammelt Unterschriften für die «Nachhaltigkeitsinitiative», mit der sie die Zuwanderung begrenzen will. 2024 steht zudem eine Bilanz zu den Massnahmen an, die die Schweiz seit der Annahme der «Masseneinwanderungsinitiative» im Jahr 2014 ergriffen hat. Ziel deren Umsetzung war es, das Arbeitskräftepotenzial im Inland besser auszuschöpfen.

  • Unterbringung von Asylsuchenden, Dauer der Asylverfahren und Rückführung von abgelehnten Asylbewerbern. Rund 28’000 Personen haben bis Ende November 2023 ein Asylgesuch in der Schweiz gestellt. Rund 30’000 dürften es bis Ende 2023 werden. Das ist zwar weniger als im Rekordjahr 2015, als fast 40’000 Asylsuchende ins Land kamen, aber mehr als in den vergangenen Jahren. Dazu kommen noch die Flüchtlinge aus der Ukraine, die den Schutzstatus S erhalten haben. Die Unterbringung dieser Asylsuchenden und Flüchtlinge und deren Verteilung auf die Kantone ist ein Dauerthema, das Jans auch 2024 beschäftigen wird.

Kommt dazu dass die Asylverfahren immer noch zu lange dauern. Ziel der letzten Asylreform war es, diese Verfahren zu beschleunigen – etwa durch deren Konzentration auf sechs Zentren. Noch immer betreibt der Bund aber Dutzende solcher Standorte. Ein Problem ist auch, dass das System eigentlich nur auf 24’000 Personen pro Jahr ausgelegt. Kommen mehr Asylsuchende und Flüchtlinge wie dieses Jahr, zeigt sich das System überfordert und häufen sich die Pendenzen.

Ungelöst ist nach wie vor auch die Rückführung abgelehnter Asylbewerber in ihre Herkunftsstaaten. Viele von ihnen verweigern deren Rücknahme. Zahlreiche abgelehnte Asylbewerber bleiben deshalb in der Schweiz – ein unbefriedigender Zustand. Im Nationalrat ist deshalb jüngst ein asyl- und völkerrechtlich fragwürdiger Vorstoss zur Abstimmung gekommen, abgewiesene Asylsuchende in irgend ein sicheres Drittland zu schicken. Trotz Zustimmung der SVP und FDP scheiterte der Vorstoss nur knapp.

  • Positionierung in der europäischen Asylpolitik. Aufgrund des bilateralen Dublin-Assoziierungsabkommens ist die Schweiz an der Asyl- und Migrationspolitik der EU beteiligt. Ende 2023 haben sich die EU-Mitgliedstaaten nach langen Jahren des Streits auf eine Reform dieser Politik geeinigt. So sollen vor allem in den Grenzstaaten im Süden grosse Auffanglager errichtet werden. Dort sollen für Flüchtlinge mit geringer Chance auf Asyl schnelle Verfahren durchgeführt werden.

Zudem beschlossen die Mitgliedstaaten einen Verteilungsmechanismus für Flüchtlinge, der auf Solidarität beruht. Entweder übernimmt ein EU-Land Flüchtlinge aus den Grenzstaaten oder – wenn es dies nicht will – bezahlt es finanzielle Beiträge an die Betreuung von Flüchtlingen an die anderen EU-Länder. Einfach nichts tun, soll nicht mehr möglich sein. Für die Schweiz – und somit für Jans – stellt sich nun die Frage, soll sie Flüchtlinge aus den Grenzstaaten aufnehmen oder finanzielle Beiträge leisten.

  • Bilaterale III und Personenfreizügigkeit. Jans ist als Vorsteher des EJPD auch für die Umsetzung des bilateralen Personenfreizügigkeitsabkommens mit der EU zuständig. Deshalb gehört er – zusammen mit Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) sowie Wirtschafts-, Forschungs- und Bildungsminister Guy Parmelin (SVP) – auch dem Europaausschuss des Bundesrats an. Dieser ist angesichts anstehender Verhandlungen mit der EU über ein neues bilaterales Vertragspaket namens Bilaterale III besonders gefordert. Jans hat in Interviews vor seiner Wahl in den Bundesrat betont, dass er für geregelte Beziehungen mit der EU und somit auch für den raschen Abschluss eines neuen Vertragspakets eintritt. Das dürfte neuen europapolitischen Schwung in den Bundesrat bringen.

Besonders gefragt dürfte Jans’ Einschätzung aber in Sachen Personenfreizügigkeit gefragt sein. Dort fordert die EU die Übernahme ihrer Unionsbürgerrichtlinie in schweizerisches Recht. Befürchtet wird hierzulande, dass dies zu einer Zuwanderung ins schweizerische Sozialsystem führen könnte. Die Schweiz will deshalb in den Verhandlungen mit der EU Ausnahmen bei den Aufenthaltsrechten von EU-Bürgern erreichen. Umstritten ist in diesen Verhandlungen auch der Lohnschutz für schweizerische Arbeitskräfte. Sollen etwa bei den Spesen für in die Schweiz entsandte ausländische Arbeitnehmer nur die oftmals niedrigeren Ansätze in deren Herkunftsländern gelten, wie das in der EU üblich ist? Nein, sagen die hiesigen Gewerkschaften, die Lohndumping befürchten. Jans hat nach seiner Wahl angekündigt, alles zu tun, um in dieser Frage wie insgesamt im Lohnschutz zu einer Lösung zu kommen – auch unter Einbezug der schweizerischen Arbeitgeber.

  • Europakompatible Gesetzgebung. In den Aufgabenbereich des EJPD fällt auch die Prüfung der Europakompatibilität vorgeschlagener Erlasse auf allen Gebieten des Bundesrechts. Das gilt nicht nur für die Umsetzung von Verträgen, sondern auch der Frage, inwieweit autonome Erlasse vom EU-Recht abweichen können und sollen und inwieweit sich eine europakompatible Lösung zur Vermeidung von Handelshemmnissen und politischen Schwierigkeiten aufdrängt. Die Frage wird sich vor allem im Bereich der Konzernverantwortung stellen, bei der der Bundesrat eine international abgestützte Regelung versprochen hat, die über das geltende schweizerische Recht hinausgeht.

Jans steht also in einem nur scheinbar unbedeutenden Departement wie dem EJPD gleich vor mehreren gewichtigen Herausforderungen. Wie er sie angeht, dürfte in den kommenden Jahren auch das seit längerem schwierige Verhältnis der Schweizerinnen und Schweizer zur EU wesentlich bestimmen.

La Suisse et l’UE: des opportunités! par Maurice Wagner

Un accord Suisse-UE aurait beaucoup d’avantages – notamment pour l’industrie, la recherche et l’éducation dans notre pays. Et pourquoi ne pas travailler à la reconnaissance mutuelle entre l’UE et la Suisse des homologations de médicaments?   

Les chances d’un accord Suisse-UE sont bonnes, titrait Le Temps le 21 décembre 2023. Un accord avec l’UE est nécessaire, quoi qu’en pensent l’UDC et l’USS. Swissmem, l’organisation faîtière suisse de l’industrie technologique, est la dernière organisation ayant réclamé un accord entre la Suisse et l’UE. Elle vient effet de lancer un appel à l’aide en raison du franc suisse fort et elle  exige une amélioration des conditions-cadres. Heureusement que la Suisse a appris à vivre avec un franc fort, car influencer les cours de change entre le franc suisse et le dollar ainsi que l’euro est à la fois difficile et problématique.

En revanche, il est dans le pouvoir de la Suisse de négocier professionnellement et de signer un accord avec l’UE afin d’améliorer les conditions-cadres et de corriger les conséquences délétères du claquage de porte de mai 2021 à Bruxelles. Un accord entre la Suisse et l’UE devrait couvrir notamment la santé, la sécurité alimentaire  et l’énergie. Il permettrait par ailleurs à la Suisse non seulement de réintégrer les programmes Horizon (recherche) et Erasmus (étudiants), mais aussi de remettre sur les rails l’accord de reconnaissance mutuelle concernant le MedTech et de reconduire l’accord correspondant concernant l’industrie technologique, qui ne tient plus qu’à un fil.

Les dommages réels ou potentiels subis par l’industrie MedTech et l’industrie technologique pèsent plus lourd que la question des remboursements des notes de frais de quelques travailleurs détachés, même si l’industrie est insuffisamment vocale sur cette question. Les coûts réglementaires additionnels dans le secteur MedTech doivent être financés et ont un impact sur le niveau des prix et donc des primes d’assurance-maladie. Ceux qui bloquent les négociations Suisse-UE contribuent ainsi à augmenter les primes d’assurance… Le président de l’USS, toujours le premier à critiquer le niveau des primes de l’assurance-maladie, comprendra assurément…

Passant du secteur MedTech au secteur pharma, j’ai lu avec intérêt que Swissmedic venait   d’homologuer un médicament préventif contre la bronchiolite. Ce médicament est déjà utilisé en France depuis trois mois. Cela pose la question des multiples procédures d’enregistrement. Est-il nécessaire que la Suisse (Swissmedic) réinvente la roue pour chaque nouveau médicament ? Et vice versa, dans le cas, certes peu probable, où la Suisse homologuerait un médicament avant les pays de l’UE ? Ne serait-il pas intelligent de travailler à la reconnaissance mutuelle entre l’UE et la Suisse des homologations de médicaments? Cette reconnaissance mutuelle a fait ses preuves dans le domaine MedTech, et permettrait de diminuer les coûts de la santé, puisqu’on éviterait ainsi de multiplier sans raison les coûts des enregistrements! La Conseillère fédérale Elisabeth Baume-Schneider sera-t-elle plus sensible à cette problématique que ses prédécesseurs?

Schweizerische Europapolitik: Hektische Stagnation von Daniel Woker

Im neuesten Bericht zu den Diplomatischen Dokumenten der Schweiz (Dodis), nach einer Sperrfrist von 30 Jahren freigegeben am 1. Januar 2024, wird das Jahr 1993 beleuchtet. Hauptthema war damals und bleibt heute das Verhältnis der Schweiz zur EU. Auch andere aussenpolitische Realitäten sind seither unverändert geblieben.

Seit der knappen, aber negativen Volksabstimmung über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) von 1992 ist das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU zerrüttet. Die danach abgeschlossenen bilateralen Abkommen I und II sind ein Heftpflaster, das der Schweiz einen Notzugang zum europäischen Binnenmarkt erlaubt. Die nie genesene Wunde muss nun neu durch die Bilateralen III verarztet werden. Es ist ein Lichtblick, dass die Weiterführung des Zugangs zum Binnenmarkt sowohl von Seiten der EU als auch der Schweiz positiv beurteilt wird. Gemäss einer kürzlich veröffentlichen Umfrage will eine klare Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer ein geordnetes Verhältnis mit der EU. Offen bleibt die Wunde, da in zahlreichen anderen gesamteuropäischen Belangen – Klimaschutz, Regelung von Zukunftstechnologien, Sicherheitspolitik insbesondere mit einem möglichen neuerlichen Präsidenten Donald Trump in Washington – die Schweiz nicht an Entscheidungsfindung und Beschlussfassung der EU beteiligt ist. Ihr bleibt nolens volens nur der Nachvollzug.

1993: Europäischer Optimismus trotz allem

 Trotz dem deprimierenden Nein zum EWR Ende 1992 – am berühmte Dimanche Noir des damaligen Bundesrates Jean-Pascal Delamuraz – blieb die Landesregierung auch im unmittelbaren Nachgang dazu optimistisch, dass die folgende Epoche mit einem bilateralen Zugang zur damaligen EG (Europäische Gemeinschaft) ein kurzzeitiges Provisorium bleiben würde. Dies vor einem definitiven Entscheid, ob voller Beitritt zur EG oder doch ein zweiter Anlauf zum EWR. 1993 signalisierte der Bundesrat im aussenpolitischen Bericht, dass ein Beitritt «noch in diesem Jahrhundert» wahrscheinlich sei.

Das wurde damals auch an bilateralen Treffen mit den Chefs der wichtigsten Partnerländer so dargelegt. Das förderte deren Entgegenkommen, der Schweiz die Extrawurst eines vorläufigen bilateralen Zugangs zum europäischen Binnenmarkt zu erlauben. So wird der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl im Dodis-Bericht mit dem Zitat erwähnt «Schweizer Trotz hilft auf  die Dauer nichts». Und auch der frühere französische Staatspräsident François Mitterrand liess sich überzeugen, dass die Schweiz in ihrem eigenen Interesse bald der EG beitreten würde, wie sich das für die übrigen europäischen Neutralen Österreich, Schweden und Finnland damals abzeichnete.

Auf konservativen Nationalismus eingeschwenkt

Wie man nun weiss, trat dies leider nicht ein. Vielmehr folgten 30 Jahre hektischer Stagnation in der schweizerischen Europapolitik. Diese kaprizierte sich primär darauf, möglichst viele bilaterale Vorteile zu erreichen, ohne bleibende Verpflichtungen übernehmen zu müssen. Auch wenn 2024 mit den Bilateralen III eine weitere provisorische Lösung gefunden werden sollte, ist emotionslos festzustellen, dass die Schweiz in den vergangenen 30 Jahren im Verhältnis zur EU auf einen Kurs des konservativem Nationalismus eingeschwenkt ist.

Der von Blochers SVP 1992 mit ihrer Schmutzpropaganda gegen Europa – «Brüssel als moderner Habsburger Drache, der die wehrhafte Schweiz verschlingen will» eingeleitete Prozess hatte ungeahnten Erfolg über weite Teile der politischen Schweiz hinweg. Er führte zu einem generellen Rechtsruck auch links von der Schweizerischen Volkspartei. Hatte die FDP Anfang der 90er-Jahre den EG-Beitritt noch in ihrem Parteiprogramm, so meinte der Präsident der Jungen (!) FDP in einer öffentlichen Diskussion kürzlich im Brustton der Überzeugung eines Zürcher Bahnhofstrasse-Liberalen «Beitritt der Schweiz zur EU: nie».

Kein europäisches Bewusstsein vorhanden

 Dies ist umso kurzsichtiger, als spätestens seit dem kürzlichen Entscheid der EU mit Kiew Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, die Ukraine ein unverzichtbarer Teil von Europa geworden ist. Die schweizerische Ukrainepolitik ist also damit ebenfalls Teil unserer Europapolitik. Auch hier ist heutzutage nichts von einem europäischen Bewusstsein der Schweiz auszumachen. Es herrscht primär Verweigerung: keine Waffenlieferungen wegen dem Neutralitätsdogma, keine Finanzhilfe wegen der Schuldenbremse und der konservativen Nationalbank und auch keine schweizerische Friedensvermittlung, die offensichtlich nicht gefragt ist. Der Lichtblick besteht hier in der Absicht des Auswärtigen Departements, über zehn Jahre sechs Milliarden Franken Wiederaufbauhilfe zu leisten. Aber auch diese Geste ist mit Schatten behaftet, sollte diese Summe zulasten der Unterstützung des globalen Südens gehen.

Europäisches Bewusstsein wäre hier einmal angezeigt, weil auch uns wohl geneigte internationale Beobachter der schweizerischen Ukrainepolitik mit Unverständnis und Kritik begegnen. So etwa der ehemalige deutsche Bundespräsident Joachim Gauck, das verkörperte Gewissen Deutschlands, in einem Jahreswechsel-Gespräch in den Tamedia-Zeitungen. Er sieht mehr Solidarität mit der von Wladimir Putins Aggression schwer geprüften Ukraine als Jahrhundertaufgabe Europas an.

Sicherheitspolitik: Mehr Nato und EU notwendig

Aber auch im ureigenen Interesse unseres Landes sind grössere europäische Anstrengungen der Schweiz dringend nötig. So beispielsweise in der Sicherheitspolitik. Wie von Verteidigungsministerin Viola Amherd eben betont – und vom neu ernannten Staatssekretär im VBS, Brigadier Markus Mäder nachdrücklich unterstrichen –, wird die massive Erhöhung des schweizerischen Wehrbudgets, um sinnvoll zu sein, auch engere und mehr Zusammenarbeit mit der Nato und der sicherheitspolitischen EU mit sich bringen. Um in beiden Organisationen ernst genommen zu werden, muss die Jungfrau Helvetia von der unbefleckten (Neutralitäts-)Empfängnis abrücken und schönen Worten Taten zu Gunsten der Ukraine folgen lassen, dem gegenwärtig dringendsten Brennpunkt von Nato und EU.

Auch hier kontrastiert die ergebnisorientierte, offene Politik von Anfang der 1990er-Jahre mit der gegenwärtigen Neutralitätsängstlichkeit. Wie im Dodis- Bericht nachzulesen ist, erlaubte der Bundesrat damals im Rahmen der primär serbischen Aggression in Bosnien-Herzegowina ein erstes Mal militärische Überflüge der Nato über die Schweiz – «neutrality be damned».

Gute Dienste trotz Neutralität nicht gefragt

Neutralitäts-Fetischisten verweisen gerne auf die angeblich nur wegen der Neutralität möglichen Guten Dienste der Schweiz, im Sinne einer geschichtlichen, unverrückbaren Realität. Die Dodis-Dokumente von 1993 gehen auch auf die damalige Nahostpolitik des Bundesrates ein, mit Berichten über Kontakte mit Israel ebenso wie mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO); dies aber immer im Rahmen der damals dominanten Verträge von Oslo. Die wichtigsten im Spannungsfeld Nahost je geführten Verhandlungen fanden unter der Ägide der USA in der Hauptstadt des Nato-Mitglieds Norwegen statt und nicht im internationalen Begegnungsort Genf in der neutralen Schweiz.

Dies entspricht einem im Dodis-Bericht erwähnten Résumé des damals als schweizerischer Botschafter in Washington abtretenden Edouard Brunner, der ausdrücklich festhielt, dass die USA seit Ende des Kalten Krieges ihr Interesse an der schweizerischen Neutralität verloren hätten.

Heute steht mit Blick auf den Nahen Osten mit der Aktualität des Krieges zwischen der palästinensischen Terrororganisation Hamas und Israel das Mittun der Schweiz im Uno-Sicherheitsrat im Mittelpunkt. Die Schweiz hat sich in New York im Rahmen ihrer Möglichkeiten bislang gut geschlagen. Positiv ist insbesondere, dass sich so die  aussenpolitische Diskussion in der Schweiz – und damit ein entsprechendes Bewusstsein hierzulande – verstärkt hat. Das Bewusstsein nämlich, was ein mittelgrosser europäischer Staat angesichts zunehmender Schwerpunktverlagerung von Europa weg auf der globalen Bühne ausrichten kann und – vor allem – was nicht. Insbesondere, wenn ihm das spezifisch schweizerische Handicap anhaftet, nicht an den zwei Strukturen EU und Nato teilzuhaben, die global für ein starkes Europa stehen.

Im Nahen Osten wird weiterhin eine schweizerische Vermittlung von den Konfliktparteien offenbar nicht nachgefragt. Das lässt deren konstantes Anbieten eigenartig erscheinen. Genf und das Weltwirtschaftsforum in Davos sind internationale Treffpunkte, welche mit spezifisch schweizerischer Leistung nur mehr wenig zu tun haben.

Wenn Innenpolitik die Aussenpolitik dominiert

Schliesslich werfen auch institutionelle Probleme Schatten auf die schweizerische Aussenpolitik. Entgegen einem oft gehörten Bonmot ist nicht alle Aussenpolitik auch Innenpolitik, sondern gerade umgekehrt: Dominiert die Innenpolitik die Aussenpolitik, wird letztere zur Mühsal und Peinlichkeit. Beispielhaft steht dafür etwa die kleinliche innerschweizerische Diskussion über die Spesenentschädigung für entsandte ausländische Arbeitnehmer zu einem Zeitpunkt, wo in Brüssel um Unterstützung für die Ukraine und damit um die Antwort auf die Schicksalsfrage nach der Zukunft der Demokratie in Europa gerungen wird.

Dem dabei aktiv als europäische Abrissbirne tätigen und dem russischen Autokraten und Kriegsherrn Wladimir Putin zudienenden ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban haben rechtskonservative Kreise, angeführt von Blochers SVP, kürzlich in Zürich zugejubelt. Ausgerechnet die zwei Vertreter dieser Partei im Bundesrat – Guy Parmelin und Albert Rösti – sind mit zentralen Dossiers in den bilateralen Verhandlungen Berns mit Brüssel betraut. Werden Sie über den Schatten ihrer Parteidoktrin, die grundsätzlich zu allem, was mit der EU zu tun hat, nein sagt, springen wollen, springen können?