Kündigung der Menschenrechtskonvention: Das wären die Folgen von Markus Mohler

Weil ihnen ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht passt, wollen Teile der SVP die Europäische Menschenrechtskonvention kündigen. Das würde die Mitgliedschaft der Schweiz im Europarat sowie zahlreiche von ihr unterzeichnete Europarats-Konventionen gefährden.

Schon mehrfach, nun aber im Nachgang zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg über die Beschwerde der Klimaseniorinnen vernehmbar lauter, ist die Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) von Parlamentsmitgliedern der SVP erwogen worden. Das plakative Stichwort dazu lautet «keine fremden Richter!».
Offenbar gibt man sich zunächst keinerlei Rechenschaft darüber, welche Konsequenzen dies hätte. Eine Kündigung der EMRK ist gemäss Art. 58 der EMRK möglich. Sie hätte aber wohl den Ausschluss aus dem Europarat oder doch die Suspendierung der Mitgliederrechte zur Folge (Art. 3 der Statuten des Europarates). Solche Erwägungen sind besonders pikant im Moment, in dem sich die Schweiz mit Alt-Bundesrat Alain Berset um den Posten des Generalsekretärs des Europarates bemüht hat. Berset wurde schliesslich trotzdem gewählt.

Was an der Europarats-Mitgliedschaft hängt

Eine Reihe von Konventionen des Europarates zur Erleichterung der internationalen Zusammenarbeit in verschiedenen Rechtsgebeten sind direkt an die Europarats-Mitgliedschaft gebunden, so z.B. das Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus (SR 0.353.3, Art. 11 Ziff. 1), das Europäische Übereinkommen über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (SR 0.312.5, Art. 14) oder das Europäische Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen über das Sorgerecht für Kinder und die Wiederherstellung des Sorgerechts (SR 0.211.230.01, Art. 21) u.a.m.
Weitere Konventionen des Europarates stehen zwar auch Nicht-Mitgliedern des Europarates zur Unterzeichnung offen, jedoch ist die Annahme seitens des Europarates an Bedingungen gebunden. Dabei sind zwei verschiedene Arten zu unterscheiden. Eine mitunter politisch sehr hohe Hürde ist jene, dass die Genehmigung des Beitritts zu einer Konvention eines Nicht-Mitgliedstaates von der Einstimmigkeit aller Europaratsmitglieder, die das jeweilige Abkommen ratifiziert haben, abhängt, so z.B. das Europäische Auslieferungsübereinkommen (SR 0.353.1, Art. 30 Ziff. 1), das Europäische Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen (SR 0.351.1, Art. 28 Ziff. 1), das Übereinkommen des Europarats über einen ganzheitlichen Ansatz für Sicherheit, Schutz und Dienstleistungen bei Fußballspielen und anderen Sportveranstaltungen SR 0.415.31, Art. 18 Abs. 1), das Übereinkommen über Geldwäsche sowie Ermittlung, Beschlagnahme und Einziehung von Erträgen aus Straftaten (SR 0.311.53, Art. 37 Ziff. 1). Anderen Übereinkommen können Nicht-Mitgliedstaaten des Europarates beitreten, sofern sie an deren Ausarbeitung beteiligt waren.

Die Reputation der Schweiz nähme Schaden

Besonders ins Gewicht fällt neben diesen schwerwiegenden vertragsrechtlichen Nachteilen, dass die Reputation der Schweiz als Rechtsstaat und als Hort des Grundrechtschutzes massiv leidet und bei jeder sich bietenden Gelegenheit in Zweifel gezogen werden kann.
Nicht zu übersehen ist, dass die Argumentation mit den fremden Richtern insofern vorgeschoben ist, als die SVP sich dadurch ausgezeichnet hat, Bundesrichter, die nicht entlang einer Parteidoktrin zu entscheiden wagen, mit der Nichtwiederwahl zu drohen (Fall Bundesrichter Donallaz). Das war ein Angriff auf die Unabhängigkeit der Gerichte, auf die Gewaltenteilung. Deutlich wurde diese Unredlichkeit mit dem Bundesgerichtsurteil 145 IV 114 (6B_1314/2016/6B_1318/2016) vom 10. Oktober 2018. Das Bundesgericht hatte zu entscheiden, ob auf den Cayman Islands das schweizerische Bankengesetz anwendbar und gerichtlich von hier aus durchsetzbar sei. Mit mit 3:2 Stimmen hat es entschieden, dass das schweizerische Bankengesetz auf den Cayman Islands, zumal für eine Nichtbank, nicht gelte und somit auch keine Verletzung des Bankkundengeheimnisses vorliege. Die beiden abweichenden Richterstimmen stammten von der Richterin und dem Richter, die der SVP angehören. Sie also traten dafür ein, das auf den Cayman Islands schweizerisches, also fremdes Recht und ebenso fremde, schweizerische Richter massgebend und zuständig sein sollten.

Keine Tricksereien mit der EMRK!

Die EMRK darf nicht für politische Tricksereien missbraucht werden. Ihre Bedeutung ist für die Prinzipien der Rechtstaatlichkeit und der Demokratie, der Freiheit von fundamentaler Bedeutung, der Kern dessen, was als Wertegemeinschaft gegenüber autoritären militärischen und politischen Angriffen geltend gemacht wird. In Erinnerung zu rufen, ist auch das Votum der SVP-Fraktionssprecherin anlässlich der Debatte über die Genehmigung der EMRK am 2. Oktober 1974: «Die Fraktion ist der Auffassung, dass die Menschenrechtskonvention, die aus der Konfrontation der westlichen Demokratien mit dem kommunistischen System entstanden ist, ein wirksameres Mittel darstellt, um dem Gedanken an ein geeintes Europa zu dienen. Als unser Land dem Europarat beitrat, bekundeten wir damit unsere Verbundenheit mit den Werten, die das gemeinsame Erbe der Völker Europas sind» (AB 1974 N 1476 f.).
Ein Urteil des EGMR, das auch mit juristischen Argumenten kritisiert wurde, ist kein Grund deswegen die EMRK abzulehnen. Es käme niemandem in den Sinn, nach einem missliebigen Urteil eines schweizerischen Gerichts, die Gesetzesgrundlagen, auf die sich das Gericht stützte, abzulehnen, selbst wenn deren gerichtliche Interpretation nicht zu überzeugen vermochte.

Coming_soon

Der bilaterale Weg hat seine Grenzen von Martin Gollmer

Vor 25 Jahren, am 21. Juni 1999, unterzeichneten die Schweiz und die EU ein erstes Paket bilateraler Verträge, die sogenannten Bilateralen I. 2004 folgte ein zweites Paket, die Bilateralen II. Gegenwärtig verhandeln Bern und Brüssel über ein weiteres Paket, die Bilateralen III. Mit ihm soll der zwischenzeitlich holperig gewordene bilaterale Weg stabilisiert und weiterentwickelt werden. Aus Anlass des Jubiläums fragen wir: Ist der Bilateralismus mit der EU der Königsweg für die Schweiz oder eine Sackgasse?

Die Schweiz ist mit der EU aufs Engste verbunden: geografisch, wertemässig, kulturell, wirtschaftlich und menschlich. Trotzdem ist die Schweiz nicht Mitglied der EU. Sie regelt ihre Beziehung zu dieser stattdessen mit bilateralen Verträgen. Aktuell sind es über 120. Die wichtigsten sind das Freihandelsabkommen von 1972, das Versicherungsabkommen von 1989, das bilaterale Vertragspaket I von 1999 und das bilaterale Vertragspaket II von 2004.

Die Bilateralen I sichern der Schweiz mittels des Personenfreizügigkeitsabkommens und des Abkommens über die technischen Handelshemmnisse einen hindernisfreien teilweisen Zugang zum EU-Binnenmarkt, dem Herzstück der Europäischen Union. Die Bilateralen II erlauben der Schweiz über das Dublin-Assoziationsabkommen die Teilnahme an der EU-Asyl- und Migrationspolitik. Und über das Schengen-Assoziierungsabkommen ermöglichen sie den Schweizerinnen und Schweizern das Reisen ohne Grenzkontrollen in weiten Teilen Europas.

Die Schweiz profitiert

Diese für einen Nicht-Mitgliedstaat einzigartige, nicht selbstverständliche partielle Integration in die EU und ihren Binnenmarkt nützt der Schweiz enorm. Gemäss einer Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2019 steht sie nämlich unter den EU- und EFTA-Mitgliedstaaten mit 2914 Euro pro Einwohner an Einkommensgewinnen an der Spitze, gefolgt von Luxemburg (2834 Euro) und Irland (1894 Euro). In Deutschland betragen die Einkommensgewinne pro Kopf 1046 Euro, in Österreich 1583 Euro. Diese Ergebnisse zeigen gemäss Studie, «dass kleine, offene Volkswirtschaften mit starker Handelsorientierung und hoher Wettbewerbsfähigkeit vom EU-Binnenmarkt besonders profitieren». Diese Volkswirtschaften liegen zudem meistens nahe dem geografischen Zentrum Europas.

Aufgrund dieser rein wirtschaftlichen Sichtweise entpuppt sich der Bilateralismus mit der EU tatsächlich als Königsweg für die Schweiz: Sie kann von der EU profitieren, ohne ihr beitreten zu müssen. Doch der Bilateralismus stagniert seit Jahren; seit 2004 wurden keine wichtigen neue Abkommen mehr mit der EU abgeschlossen. Als dann die Schweiz 2021 jahrelange, zähe Verhandlungen mit der EU über ein die bilateralen Verträge ergänzendes institutionelles Rahmenabkommen einseitig abbrach, schien der bilaterale Weg sogar abrupt an seinem Ende angekommen zu sein. Als Reaktion weigerte sich die EU nämlich, neue Abkommen mit der Schweiz abzuschliessen. Und die bestehenden Verträge drohten langsam zu erodieren, weil die EU sie nicht mehr erneuern wollte.

In der Not erfand der Bundesrat einen neuen Verhandlungsansatz: Die für die Schweiz schwierigen institutionellen Fragen sollten zusammen mit neuen bilateralen Abkommen in den Bereichen Strom, Lebensmittelsicherheit und Gesundheit in einem neuen weiteren Paket geregelt werden – den Bilateralen III. Ebenfalls angestrebt wird im Rahmen dieses Pakets eine Wiederaufnahme in die Bildungs- und Forschungsprogramme der EU, aus denen die Schweiz nach dem Verhandlungsabbruch ausgeschlossen worden war. Das alles sollte einen besseren Interessenausgleich zwischen der Schweiz und der EU zulassen. Darüber verhandeln jetzt Bern und Brüssel nach vorangehenden, länglichen Sondierungsgesprächen seit vergangenem März. Ziel des Bundesrats ist es, den bilateralen Weg zu stabilisieren und weiterzuentwickeln.

Unmut macht sich breit

Wie auch immer diese Verhandlungen ausgehen und unabhängig davon, ob das Verhandlungsergebnis dereinst vor dem Parlament und dem Volk Gnade findet, das Paket könnte das letzte sein, auf das die EU einzutreten bereit ist. Denn vor allem in mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten macht sich zunehmend Unverständnis, ja Unmut über den schweizerischen Sonderweg breit. Warum soll das reiche Nichtmitglied Schweiz Zugang zum EU-Binnenmarkt erhalten und obendrein erst noch Ausnahmen aushandeln können, wird gefragt. Denn diese wirtschaftlich noch nicht so weit wie die Schweiz entwickelten Mitgliedstaaten mussten sich bei ihrem EU-Beitritt im Jahr 2004 den Zugang zum Binnenmarkt weitestgehend ohne Ausnahmen erkaufen.

Irgendwann dürften diese Mitgliedstaaten deshalb genug haben von schweizerischen Rosinenpicken. Der bilaterale Weg dürfte darum nicht unendlich ausbaubar sein. Er könnte mittel- bis langfristig zu einer Sackgasse werden.

Kommt noch ein weiterer Nachteil des bilateralen Wegs dazu: Er liefert keine Antworten auf die aussen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen, die die Schweiz spätestens seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine im Verhältnis zur EU umtreiben. In der Klimapolitik drängt sich ebenfalls eine Zusammenarbeit der Schweiz mit der EU auf. Aber auch hier greift der bilaterale Ansatz zu kurz. Dieser hat im Wesentlichen eine wirtschaftliche Ausrichtung. Das ist zu wenig angesichts der Problemvielfalt, der sich die Schweiz im europäischen Kontext gegenübersieht.

Der Bilateralismus mit der EU hat also seine Grenzen. Es wäre deshalb an der Zeit, dass sich die Schweiz weitergehende Alternativen zu überlegen beginnt – etwa einen zweiten Anlauf zu einem Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) oder gar einen EU-Beitritt. Oder dann sollten die bilateralen Verträge mit der EU wenigstens – und wenn möglich – mit einem sicherheits- und verteidigungspolitischen Volet und einem Klimaabkommen ergänzt werden.

Neutralität: Christoph Blocher erntet Widerspruch von Martin Gollmer

Sieben besorgte Staatsbürger lancieren ein Manifest für eine Neutralität im 21. Jahrhundert. Sie fordern Bundesrat und Parlament angesichts einer geänderten sicherheitspolitischen Lage insbesondere in Europa auf, die Neutralität der Schweiz zu überdenken und in Zukunft flexibler zu handhaben. Sie formulieren damit einen Gegenentwurf zur Neutralitätsinitiative der SVP und Christoph Blochers, die eine rigide Form der Neutralität in der Verfassung verankern will.

«Der Ukraine-Krieg bestätigt und führt klar vor Augen, dass die einzelnen Bausteine der schweizerischen Neutralitätspolitik nicht mehr zueinander passen.» So steht es in einem vierseitigen Manifest, das eine siebenköpfige Gruppe bestehend aus Staats- und Völkerrechtlern sowie aus Diplomaten unter Führung des emeritierten Berner Professors Thomas Cottier am 29. Mai 2024 in Bern vorstellte. Die Schweiz habe in diesem Konflikt einerseits die Sanktionen der EU gegen Aggressor Russland übernommen, anderseits aber am Verbot der Kriegsmaterialausfuhr an die Kriegspartien festgehalten. Die Schweiz könne den Schutz der internationalen Rechtsordnung nicht hochalten und verteidigen, insbesondere den Schutz von Demokratie, Rechtsstaat und das Gewaltverbot, wenn sie den Aggressor Russland gleich behandelt wie das Opfer Ukraine und gestützt darauf die Wiederausfuhr von längst verkauftem Kriegsmaterial an die Ukraine verbietet.
Der Grund für die heute widersprüchliche Politik im Ukraine-Konflikt liege im restriktiven Kriegsmaterialgesetz, das in Teilen auf die umstrittenen und überholten Haager Konventionen von 1907 abgestützt werde, heisst es in dem Manifest weiter. Das Gleichbehandlungsgebot der Haager Konventionen komme bei einem Angriffskrieg aufgrund der Uno-Charta von 1945 nicht mehr zur Anwendung. Diese stipuliert weltweit ein generelles Angriffs- und Gewaltverbot. Die Schweiz sei als Uno-Mitglied deshalb nicht mehr berechtigt, Aggressor und Opfer gleich zu behandeln.

Überdenken, nicht abschaffen

Die Autoren des Manifests fordern darum Bundesrat und Parlament auf, die Neutralität der Schweiz zu überdenken. Diese habe ihre ursprüngliche Bedeutung aufgrund des völkerrechtlichen Gewaltverbots und des Rechts auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung verloren. Unter Neutralität werde heute von den meisten Staaten die autonom beschlossene Nichtteilnahme an einem bewaffneten zwischen- oder innerstaatlichen Konflikt und die Bündnisfreiheit verstanden.
Die Autoren des Manifests wollen die Neutralität aber nicht abschaffen. Diese habe nach wie vor eine grosse Bedeutung für die schweizerische Identität. Sie sei historisch gewachsen und tief verankert in der Bevölkerung. Das gelte es zu berücksichtigen. Die Autoren des Manifests fordern deshalb nur, die Neutralität in Zukunft anders – vor allem flexibler – zu handhaben als bisher. Dazu haben sie zehn Eckpfeiler der schweizerischen Neutralität formuliert. Die wichtigsten sind:

• «Die Neutralität ist ein aussenpolitisches Instrument.» Sie soll nicht in der Verfassung als Staatsziel verankert und verrechtlicht werden, wie das die Neutralitätsinitiative der SVP unter Führung von Christoph Blocher fordert. Wichtig seien mehr Handlungsfreiheit und weniger Fesseln.
• «Die Neutralität dient der Sicherheitspolitik und nicht umgekehrt.» Die militärische Neutralität soll daher nur so lange gelten, als sie der Sicherheit der Schweiz dient und nicht Staatsziele und Werte der internationalen Beziehungen gefährdet. Das müsse von Fall zu Fall geprüft und entschieden werden.
• Die Schweiz soll das Selbstverteidigungsrecht angegriffener Staaten anerkennen. Die Schweiz solle dabei alles unterlassen, was den Aggressor begünstige.
• «Die Schweiz stellt in Friedenszeiten und in einem Konfliktfall alle ihr zumutbaren Mittel für Gute Dienste, humanitäre sowie vor allem finanzielle Hilfen zur Verfügung.»
• Die Schweiz brauche eine schlagkräftige Armee. Diese soll einer glaubwürdigen Sicherheits- und Verteidigungspolitik dienen, unabhängig davon, ob die Schweiz neutral sei oder nicht. In Friedenszeiten müsse die Armee die Zusammenarbeit mit Nato und EU trainieren, um sich im Fall eines Angriffs gemeinsam mit den demokratischen Rechtsstaaten verteidigen zu können.
• Die Schweiz müsse das Embargogesetz anpassen. Der Bundesrat soll eigene Sanktionen ergreifen können. Weiter soll das Kriegsmaterialgesetz revidiert werden, um den Export von Waffen und Munition mit den aussen- und sicherheitspolitischen Interessend der Schweiz zu verbinden.

Die Medien stellten das Manifest mehrheitlich als einen Gegenentwurf zur Neutralitätsinitiative der SVP und Christoph Blochers vor. «Ein 10-Punkte-Plan gegen Christoph Blocher» titelte etwa der «Tages-Anzeiger». «Un manifeste pour contrer l’initiative sur la neutralité de Christoph Blocher» hiess die Schlagzeile bei «Le Temps». Auch Radio SRF stellte das Manifest in einen Zusammenhang mit der Neutralitätsinitiative. Diese will eine «immerwährende und bewaffnete Neutralität» in der Verfassung verankern. Sie wurde am 11. April dieses Jahres beim Bund eingereicht und inzwischen auch für gültig erklärt. «Natürlich geht es uns auch darum, ein Gegenmodell zu Blochers Initiative aufzustellen», sagte Manifest-Initiant Cottier an der Medienkonferenz in Bern.

Den Nerv der Zeit getroffen

Bereits wenige Tage nach der Vorstellung des Manifests hatten es schon mehrere Hundert Personen unterschrieben. Zu den 87 Erstunterzeichnern gehören die Ex-Bundesräte Joseph Deiss (Mitte), Samuel Schmid (SVP, später BDP) und Kaspar Villiger (FDP) sowie mehrere aktive und ehemalige Parlamentarier jeglicher parteipolitischer Couleur und etliche ehemalige Diplomaten. Das Manifest hat also, so scheint es, ein weitverbreitetes Unbehagen mit der aktuellen Handhabung der Neutralität angesprochen.
Das Manifest «Eine Neutralität für das 21. Jahrhundert» kann hier gelesen und unterzeichnet werden.

Sicherheitspolitische Herausforderungen der Schweiz in Europa von Thomas Cottier

Die sicherheits- und verteidigungspolitische Autonomie der Schweiz ist eine Illusion. Die Schweiz ist existentiell vom US-europäischen Schutzschild abhängig. Darauf kann sie sich nicht mehr länger uneingeschränkt verlassen. Sie muss sich deshalb mit eigenen Beiträgen an den europäischen Sicherheits- und Verteidigungsbemühungen beteiligen. Das erfordert eine enge Zusammenarbeit mit der NATO und der EU und – damit verbunden – ein Überdenken der Neutralität.

 

Die Auslegeordnung sicherheitspolitischer Fragen zeigt, dass Freihandel und Sicherheit kein Gegensatz sind, sondern sich gegenseitig bedingen. Freihandel und Integration tragen wesentlich zur Sicherheit bei. Die Schweiz nimmt dies indessen in abgeschotteten Bereichen nicht hinreichend war. Die Versorgung mit nachhaltiger Energie muss europäisch, nicht national gedacht werden. Das gleiche gilt für die protektionistische Landwirtschaftspolitik in Zeiten der Klimakrise. Sicherheit bedarf sodann der engen Zusammenarbeit in weiteren Politikfeldern, die sich direkt mit Sicherheitsfragen befassen, von polizeilichen bis zu militärischen Aufgaben. Dafür müssen Strukturen zur Verfügung stehen, die von den Kompetenzen her zweifelsfrei rasche Beschlüsse und deren Umsetzung erlauben. Diese können heute nicht mehr im Alleingang angegangen werden. Sicherheitspolitische Autarkie der Schweiz in Europa ist eine Selbsttäuschung. Sie spiegelt die Illusion einer Sicherheit vor, dies es so nicht mehr gibt und wohl nie gegeben hat.

Die Schweiz ist heute im Verzug. Das gilt in zahlreichen Bereichen, namentlich der Energieversorgung und der Gefahrenabwehr, insbesondere aber für die Armee. Die Schweiz kann in Zukunft nicht mehr damit rechnen, als Trittbrettfahrer vom amerikanischen und einem europäischen Schutzschild zu profitieren. Sie muss ihren eigenen Beitrag zur europäischen Sicherheit leisten, über die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und die Partnerschaft für den Frieden mit dem nordatlantischen Verteidigungsbündnis NATO hinaus. Das erfordert in Europa einen Verzicht auf die traditionelle Neutralität und ein Bekenntnis zur engen Zusammenarbeit mit der NATO, der EU und ihren Mitgliedstaaten.

 

Den vollständigen Aufsatz von Thomas Cottier hier lesen