Buchrezension „Martin Gollmer, Plädoyer für die EU: Warum es sie braucht und die Schweiz ihr beitreten sollte, NZZ Libro, Basel 2022, 199 S.“ (Thomas Cottier)

Ein Fahnenschwinger mit blauer Europafahne vor dem Schwarzmönch und dem Lauterbrunner Breithorn. Aufgenommen vielleicht im Jahre 2050 – einige Jahre nach dem späten Beitritt der Schweiz zur Europäischen Union. So wie das Schweizerkreuz im späten 19. Jahrhundert die alte Bernerfahne beim Schwingen ablöste, schwingen sich nun im 21. Jahrhundert die gelben Europasterne in den Himmel vor den Berner Alpen, die in der Geschichte manchen politischen Wechsel unverändert überstanden haben. Ein Symbol des Wandels, und multipler Identitäten zugleich, die sich nebeneinander vertragen. «Unsere Heimat ist die Schweiz, aber die Heimat der Schweiz ist Europa». Der Satz Peter von Matt’s steht dem Buch zum Geleit.

Das Titelbild ist so Programm im Plädoyer von 2022: Es legt sachlich, aber engagiert die Gründe für einen Beitritt zur EU vor. Dies in einer Zeit, in der diese Option selbst in der Sackgasse des bilateralen Wegs keine Mehrheiten findet, und nur Wenige sich mutig dafür auszusprechen wagen. Der Autor greift hier nüchtern auf Umfragen aus dem Jahre 2017 zurück, in denen sich lediglich – aber immerhin – 38 Prozent der Befragten als EU freundlich zeigen – mehr als im Mitgliedland Österreich (18/19). Jüngere Umfragen bestätigen, dass 38 Prozent der Auffassung sind, dass die Schweiz von einem Beitritt profitieren würde; die meisten Mitte-Links im politischen Spektrum (Tina Freyburg, Chancenbarometer 2022). Höher ist die Zahl, die eine schrittweise Annäherung und damit das Rahmenabkommen vom 23. November 2018 vor dem einseitigen Abbruch der Verhandlungen vom 26. Mai 2021 durch den Bundesrat begrüsst hatten. Die Umfragen lagen regelmässig bei über 60 Prozent. Weitere Umfragewerte (109) bestätigen diesen Befund.  Gleichwohl teilt der Autor die Auffassung, dass eine Abstimmung über das Rahmenabkommen ohne eine breite Koalition nicht hätte gewonnen werden können (101). Wie auch immer, die Notwendigkeit guter Beziehungen ist jedenfalls im Volk stärker verankert als in der Parteipolitik, und so wird das vorliegende Buch in der Gesellschaft auf offene Ohren stossen. Das dürfte sich mit dem Ukraine-Krieg weiter verstärken.

Das Buch vermittelt im ersten Teil eine Momentaufnahme zum Stand und zur Entwicklung der Europäischen Union mit all ihren Nachteilen. Diese gehen teilweise aber mehr auf Defizite in den Mitgliedstaaten selbst zurück, auf die nicht näher eingegangen wird. So wird der Austritt Grossbritanniens aus der Union als Schwäche der EU dargestellt (23) und weniger als Verfassungskrise der Insel, die auf dem Kontinent zu einer Stärkung der Integration geführt hat. Der Austritt bringt die Vorteile einer Mitgliedschaft offen zu Tage. Der Autor geht davon aus, dass Grossbritannien ausserhalb der EU gut bestehen kann (was man bezweifeln mag). Er stellt aber überzeugend dar, dass dies für die Schweiz auf Grund ihrer Lage und Integration keine Option sein kann (28). Erneut als Schwäche der EU – und nicht der Mitgliedstaaten – werden die Defizite in der Umsetzung der Rechtstaatlichkeit in Polen und Ungarn beschrieben. Eine stärker historische Betrachtung würde ergeben, dass dieselben Probleme anfänglich auch im Westen bestanden. Noch heute hat das deutsche Bundesverfassungsgericht Vorbehalte gegen den Vorrang des EU-Rechts. Die rechtliche Integration ist ein geschichtlicher Prozess, vor allem in den Mitgliedstaaten. Er muss auf die Zeitachse gelegt werden, was in der Momentaufnahme zu kurz kommt. Das gilt auch für die Migrationspolitik (32) und die Staatsverschuldung der Mitgliedstaaten (36). In der Aussenpolitik erweist sich das Erfordernis der Einstimmigkeit als Nachteil (41). Anzufügen wäre, dass deren Kernstück – die Gemeinsame Handelspolitik – seit Beginn dem Mehrheitsprinzip unterliegt und heute erfolgreich wie in einem Bundesstaat funktioniert. Sie hätte im Buch mehr Raum verdient, da sie m.E. der Schweiz bei einem Beitritt wichtige Vorteile verschaffen würde, welche das schweizerische Netz bilateraler Verträge neben der WTO nicht zu leisten vermag. Die fehlende europäische Öffentlichkeit und Identität werden zu Recht festgestellt (48). Doch stellt sich auch hier die Frage, wie stark sie auf eine national ausgerichtete Politik- und Medienlandschaft zurückzuführen sind. Der Wetterbericht beschränkt sich immer noch auf die Landesgrenzen. Das Demokratiedefizit der Union selbst kommt in einer gut gelungenen Darstellung zum Ausdruck, vor allem durch das noch fehlende Initiativrecht des Europäischen Parlaments (52) und die fehlende Trennung von Exekutiv- und Legislativfunktionen der Kommission. Ein Vergleich mit der Schweiz würde indessen zeigen, dass auch der Bundesrat und die Verwaltung eine sehr starke legislative Funktion ausüben (Gesetzesvorschläge, Verordnungsrecht) und dies hier wie in andern Mitgliedstaaten nicht als eine Schwäche wahrgenommen wird. Das gleiche gilt auch für den Vorwurf, dass zu viele Fragen ausserhalb der Union gelöst werden (55), obgleich die schweizerischen Kantone das Gleiche mit ihren Konkordaten schon lange tun. Viele der angesprochenen Defizite gehen so eher auf die Mitgliedstaaten zurück.

Im Zentrum des ersten Teils stehen weiter die bisherigen Errungenschaften des europäischen Integrationsprozesses. Die Lektüre ruft ins Bewusstsein, wie selbstverständlich wir diese nehmen (57). Das gilt für die erfolgreiche Integration ehemaliger Diktaturen, den Beitrag an den europäischen Frieden, die Unterstützung strukturschwacher Gebiete und vor allem für die Errungenschaften des Schengen-Raums und des Binnenmarkts mit seinen vier Freiheiten, von denen ja gerade die Schweiz als Trittbrettfahrerin und De-facto-Mitglied enorm  profitiert hat (Bertelsmann Stiftung 2019). Das Buch vermittelt Leserinnen und Lesern hier ein wertvolles Kompendium mit Zahlen und Hinweisen. Das gleiche gilt auch für die Bedeutung der Währungsunion (83). Hervorzuheben ist, dass die EU in der Pandemie erstmals zur Vergemeinschaftung und Mutualisierung von Schulden und damit zu für alle Mitgliedstaaten einheitliche Zinskosten schritt, was zu Recht als Hamiltonian moment Europas genannt werden darf: Die USA als Bundestaat kam zustande, nach dem die Union die Schulden der besiegten Kolonien übernommen hatte. Der Autor verzichtet in der Folge darauf, einen Blick in die Zukunft zu wagen, die im Prozess der Geschichte auf Stufe der Union zu einer stärkeren und demokratischeren Bundesstaatlichkeit führen dürfte bis zum Zeitpunkt eines künftigen schweizerischen Beitritts. Sie wird so auch die Sicherheitspolitik umfassen, die im Werk nicht näher zur Sprache kommt.

Der zweite Teil des Werks setzt sich mit der Schweiz in Europa auseinander und plädiert für den Beitritt mit überzeugenden Argumenten. Er betont die gemeinsamen Werte der Schweiz und der Union (93). Der Autor rekapituliert konzise den bilateralen Weg seit dem Freihandelsabkommen von 1972 und analysiert die heutige Unsicherheit des bilateralen Wegs (103). Er zeigt auf, wie stark die Schweiz schon heute EU-Recht ohne jede Mitbestimmung und selbst weitgehend ohne Mitsprache übernimmt und dass ein Beitritt aus dieser Sicht einen klaren Souveränitätsgewinn mit sich bringt (106). Interessant sind hier vor allem auch die Hinweise auf Umfragewerte von 2022: 83 Prozent der Befragten stehen einer verstärkten wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der EU positiv gegenüber (109/110), die ein zusätzliches Wirtschaftswachstum mit sich bringen würde (111/112).

Das Plädoyer für den EU Beitritt diskutiert in der Folge die Auswirkungen eines Beitritts auf die Schweiz. Es zeigt die Einflussmöglichkeiten der mittleren Handelsmacht auf, die durch Koalitionen und das Einstimmigkeitserfordernis bei Vertragsänderungen gegenüber heute als De-facto-Mitglied massiv gestärkt würde (118) und somit den Souveränitätsgewinn einer Mitgliedschaft bestätigt. Der jährliche Nettobeitrag würde mit 3,3 Milliarden Franken weniger als 1 Prozent des BIP ausmachen (121). Das Identitätsmerkmal der Neutralität kann formell aufrechterhalten werden, zeigt aber im Kontext des Ukraine-Kriegs, dass materiell Anpassungen damit verbunden sein werden (127). Das gleiche gilt auch für die direkte Demokratie (135). Hier ist das Plädoyer vielleicht zu optimistisch. Wer ist sicher, ob die EU der Schweiz – und damit den kleinen Kantonen – in den Beitrittsverhandlungen eine Sperrminorität für die Änderung der EU-Verträge im Rahmen des obligatorischen Staatsvertragsreferendums einräumen wird, solange das Einstimmigkeitsprinzip noch gilt? Initiativen im Widerspruch zum EU-Recht dürften kaum mehr lanciert werden und hätten mit Blick auf mögliche Folgen an der Urne auch kaum eine Chance. Vielmehr ist hier wichtig zu betonen, dass lediglich rund 50 Prozent der Gesetzgebung in der Schweiz vom EU-Recht betroffen sind und mögliche Einschränkungen durch den Souveränitätsgewinn bei der Ausarbeitung des EU-Rechts mit voller Mitsprache kompensiert werden. Das Gleiche gilt auch für die Einflüsse auf den Föderalismus, der formell nicht verändert, in der Praxis aber durchaus Anpassungen und Verschiebungen erfahren dürfte. Allein die massive Erhöhung der Mehrwertsteuer würde einen Umbau des föderalistischen Steuersystems nach sich ziehen (150). Das gleiche gilt auch für das Währungssystem (147). Die Übernahme des Euro, soweit keine Ausnahme ausgehandelt werden kann, würde auf starken Widerstand stossen. Sie hat aber auch Vorteile, nicht nur für die Senkung von Transaktionskosten (148), sondern vor allem auch für den Tourismus und die Berggebiete.

Wichtig ist die Einsicht des Autors, dass sich Verschiebungen und Anpassungen bereits heute aufdrängen, unabhängig vom Beitritt (143). Das gilt vor allem für die Anpassungen der politischen Institutionen, die heute und auch ohne Beitritt die Interessen der Schweiz in Europa nicht mehr optimal wahrzunehmen in der Lage sind. Allein der Stand der bilateralen Verhandlungen legt hier Zeugnis davon ab. Der Autor stimmt hier mit den neusten Untersuchungen von Matthias Oesch und David Campi (2022) überein. Auch hier zeigt sich, dass der Reformbedarf weniger auf der Ebene der EU, sondern bei Mitgliedstaaten und potentiellen Mitgliedern liegt, nicht nur im Südosten Europas, sondern gerade auch in der gefestigten Demokratie inmitten des Kontinents mit ihrer direkten Demokratie und einer auf Konsens ausgerichteten politischen Kultur. Eine Beitrittsperspektive bietet Chance und Impetus, sonst kaum mögliche Reformen endlich an die Hand zu nehmen. Währungspolitik, kantonale Steuerprivilegien und der geschützte Teil der Binnenwirtschaft mit der Hochpreisinsel, das Gewerbe und die Landwirtschaft (152) werden sich als grosses Hemmnis erweisen, da sie Änderungen am stärksten ausgesetzt sein werden. Dem vorliegenden Werk kommt das Verdienst zu, dass es diese Herausforderungen aufnimmt, um den «Stier bei den Hörnern zu packen und den Beitritt zu wagen» (166) und um die Debatte argumentativ vorzubereiten. Dazu leistet das Werk einen wichtigen Beitrag zum heutigen Stand des europäischen und schweizerischen Integrationsprozesses.

Thomas Cottier

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  1. […] Cottier hat das Buch kürzlich rezensiert. Sie können seine Gedanken zu Gollmers Plädoyer >hier […]

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