Discours de Maros Sefcovic Vice-Président de la Commission Européenne EU-Switzerland Relations Université de Fribourg 15 mars 2023

Philippe Nell rend compte de la conférence du 15.3.23 du vice-président de la Commission, Maroš Šefčovič, à l’Université de Fribourg. Un événement mémorable qui restera dans les annales des relations Suisse-UE.

Wie der EuGH schon heute in die Schweiz hineinwirkt von Martin Gollmer

Im Rahmen des Versuchs der Schweiz und der EU, ihre bilateralen Beziehungen auf ein neues institutionelles Fundament zu stellen, ist der Europäische Gerichtshof (EuGH) für viele Schweizerinnen und Schweizer zu einem roten Tuch geworden. Dabei spielt das höchste Gericht der EU im schweizerischen Rechtsalltag schon seit längerem – und von den meisten unbemerkt – eine bedeutende Rolle. Das zeigt Europarechtsprofessor Matthias Oesch in seinem aktuellen Buch «Der EuGH und die Schweiz» auf.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) habe sich in den über 70 Jahren seines Bestehens «zu einem mächtigen Gericht in Europa und zu einer unverzichtbaren Stütze der europäischen Integration entwickelt. Sein Beitrag zur Operationalisierung des in den EU-Verträgen angelegten Integrationsprogramms und zur Etablierung der EU als Rechtsunion ist überragend. Seine Urteile prägen das Leben in Europa nachhaltig. Das gilt auch für die Menschen in der Schweiz – und zwar (…) in deutlich grösserem Ausmass als dies hinlänglich bekannt ist. Die Urteile des EuGH sind im Schweizer Rechtsalltag allgegenwärtig. Kenntnisse des Fallrechts aus Luxemburg gehören zum unverzichtbaren Rüstzeug der Juristinnen und Juristen nicht nur in Brüssel, Lissabon, Stockholm und Zagreb, sondern auch in Bern, Lausanne, St. Gallen und Zürich.» Das schreibt der an der Universität Zürich lehrende Europarechtler Matthias Oesch in der Einleitung zu seinem neuesten Buch mit dem Titel «Der EuGH und die Schweiz».

Oesch hat sich deshalb mit seinem Buch vorgenommen, den EuGH und seinen Einfluss in der EU und in der Schweiz den Schweizerinnen und Schweizern vorzustellen. Das tut er – auch für juristische Laien verständlich – in vier Kapiteln. Im ersten Kapitel wirft er einen Blick auf die institutionellen Eigenheiten des Gerichtshofs der EU sowie die wichtigsten Klagen und Verfahren. Er lässt dabei die zentrale Rolle des EuGH bei der Entwicklung des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts anhand wegweisender Urteile Revue passieren. Und er überprüft den Vorwurf, der EuGH betreibe mitunter juristischen Aktivismus, auf seine Stichhaltigkeit. Schliesslich würdigt er das grossenteils fruchtbare, zeitweise aber auch spannungsgeladene Zusammenspiel zwischen EuGH und den mitgliedstaatlichen Gerichten.

Nicht systematisch gegen die Schweiz

Im zweiten Kapitel geht Oesch auf die prominente Rolle des EuGH bei der Durchsetzung völkerrechtlich verbriefter Rechte von Menschen und Unternehmen aus Drittstaaten in der EU ein. Das zeige sich anschaulich bei der Gewährung von Rechtsschutz nach Massgabe der bilateralen Abkommen mit der Schweiz, wo der EuGH bei Klagen gegen die Mitgliedstaaten das letzte Wort hat. Oesch rekapituliert die Praxis des EuGH zur Auslegung dieser Abkommen. Der EuGH entscheide dabei «ohne Rücksicht auf die Herkunft der Parteien», hält Oesch fest. Er gehe sachlich und unparteiisch vor, ohne Rücksicht auf Partikularinteressen. «Er urteilt nicht systematisch zum Nachteil der Schweiz bzw. beschwerdeführender Personen und Unternehmen.»

Schliesslich verweist Oesch in diesem Kapitel auf die Möglichkeit der Schweiz, im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren, in denen es um die Auslegung von EU-Recht geht, das etwa aufgrund des Schengen-/Dublin-Assoziierungsabkommens auch für die Schweiz einschlägig ist, Stellungnahmen beim EuGH einzureichen und so zu dessen Entscheidfindung beizutragen.

Im dritten Kapitel zeigt Oesch auf, wie schweizerische Verwaltungsbehörden und Gerichte im Rechtsalltag die meisten bilateralen Abkommen routinemässig im Licht der Präjudizien des EuGH auslegen. Ähnliches gelte auch bei der Auslegung des schweizerischen Rechts, das dem EU-Recht autonom nachgebildet wurde, sowie im Rahmen der Rechtsvergleichung. «Viele der Leiturteile des EuGH, die wir beim Tour d’Horizon im ersten Kapitel streifen, treffen wir bei der Analyse der Praxis der schweizerischen Gerichte wieder an; ein beachtlicher Befund, der wenig bekannt ist!», schreibt Oesch. Die schweizerischen Gerichte würden so unaufgeregt und pragmatisch dazu beitragen, das EU-Recht auch in der Schweiz Fuss fasst – «auf leisen Sohlen, aber mit grossem Abdruck.»

Einbezug des EuGH nützt der Schweiz

Im vierten Kapitel geht es um die aktuelle Debatte, dem EuGH bei der Streitbeilegung zwischen der Schweiz und der EU im Rahmen der bilateralen Abkommen eine prominente Rolle zuzuweisen. Die Schweiz könne dabei «einem Modell, bei dem der EuGH für die Auslegung des EU-Rechts zuständig ist, mit guten Gründen zustimmen», meint Oesch. Denn der EuGH agiere in dieser Konstellation «nicht als verpöntes Gericht der Gegenpartei, sondern als Gericht des EU-Binnenmarkts, an dem die Schweiz sektoriell aus freien Stücken und zu ihrem eigenen Vorteil teilnimmt», präzisiert Oesch. Das EU-Recht, das auf die Schweiz ausgedehnt werde, bleibe wesensmässig EU-Recht, das letztinstanzlich von EuGH nach Massgabe der von ihm entwickelten Auslegungstopoi interpretiert werde. «Dabei deutet nichts darauf hin, dass der EuGH tendenziell ‘gegen die Schweiz’ entscheiden würde», schreibt Oesch. Das wird auch durch den Umstand bestärkt, dass die Entscheide des EuGH für alle EU-Mitgliedstaaten und die EWR-Länder Geltung haben, und die Regierungen sich durch Stellungnahmen an der Entscheidfindung beteiligen. Das Verfahren richtet sich nicht gegen die Schweiz, sondern dient im Einzelnen der Eruierung und Bestimmung des EU Rechts.

Oesch vertritt die Meinung, dass eine solche Vergerichtlichung im Interesse der Schweiz liege. «Die Streitbeilegung zwischen der Schweiz und der EU bei der Auslegung und Anwendung der bilateralen Abkommen, mit denen die Schweiz am Binnenmarkt teilnimmt, wird entpolitisiert und einer gerichtlichen Instanz überantwortet. Das spielt der Schweiz als politisch und wirtschaftlich weniger mächtige Vertragspartei in die Hände. Sie wird vor ungerechtfertigten einseitigen Massnahmen der EU geschützt. Sie kann den vereinbarten Marktzugang gerichtlich einfordern und ist nicht mehr allein auf den Goodwill der EU angewiesen.» Voraussetzung dafür sei aber, so schreibt Oesch weiter, dass die Schweiz dieses Verfahren bei Bedarf tatsächlich nutze und ihre traditionelle Zurückhaltung gegenüber der Streitbeilegung durch Gerichte aufgebe.

Oesch hat ein wichtiges Buch zur laufenden Debatte über die Bilateralen III – das neue bilaterale Vertragspaket, über das Bern und Brüssel gegenwärtig verhandeln – geschrieben. Er tut dies sachlich, kenntnisreich und überzeugend argumentierend, in einem flüssigen Schreibstil und in einem gut verdaubaren Umfang – das Buch zählt knapp 200 Seiten. So gelingt es ihm, das vielen unbekannte Wirken des EUGH in Europa und in der Schweiz den Schweizerinnen und Schweizern anschaulich näherzubringen. Das hilft hoffentlich, die hierzulande weitverbreiteten Vorurteile gegenüber dem EuGH – den von der SVP und anderen EU-kritischen Kreisen viel zitierten «fremden Richtern» aus Luxemburg – abzubauen und zu überwinden.

Matthias Oesch: Der EuGH und die Schweiz, unter Mitarbeit von Alexandru Badea. EIZ Publishing, Zürich 2023. 49.90 Fr. (Softcover)/69.90 Fr. (Hardcover).  

Bersets Bankrotterklärung (Daniel Woker)

Alain Berset drängt im Ukrainekrieg auf eine Verhandlungslösung mit Russland, und zwar «je früher, desto besser». Einem Entgegenkommen gegenüber europäischen Ländern bei deren Bemühen, die Ukraine mit Waffen und Munition zu versorgen, erteilt er eine Absage.

In der «NZZ am Sonntag» findet Bundespräsident Berset am heutigen 12. März wohltönende Worte zu Neutralität, humanitärer Mission der Schweiz und dem Standort Genf. De facto bedeutet dies jedoch eine Bankrotterklärung der gegenwärtigen Politik der Schweiz gegenüber dem Aggressionskrieg, den Putins Russland gegen die Ukraine und das demokratische Europa losgetreten hat.

Neutralität und Kriegsmaterialausfuhr

Der vermeintlich harte Kern der Neutralität und das Gesetz zur Kriegsmaterialausfuhr: zwei Hauptgründe, welche für die schweizerischen Nationalisten – zu denen sich nun Berset zu gesellenscheint – gegen eine robustere Unterstützung der Ukraine sprechen, halten einer Überprüfung nicht stand.

Neutralität ist eines von mehreren Mitteln, eine vernünftige Aussenpolitik zu führen. So sieht es die Bundesverfassung vor. Wo Neutralität nicht zweckdienlich ist, soll sie auch nicht angewandt werden. In einem nackten Aggressionskrieg, so sehen es die heute geltenden, im Rahmen der UNO festgelegten Regeln des Völkerrechts vor, hat der Angegriffene jedes Recht, sich zu verteidigen und dafür auf die Hilfe jener zu bauen, welche seine Werte teilen. Sich hier auf die Haager Landkriegsordnung, einen alten völkerrechtlichen Vertrag zu berufen, welcher unter den völlig anderen Umständen des 19. Jahrhunderts entstand, ist sicherheitspolitisch absurd, völkerrechtlich falsch und in der Wirkung amoralisch. Im Ukrainekrieg gibt es also weder einen völkerrechtlichen Grund noch eine moralische Rechtfertigung, die Neutralität anzurufen.

Das Gesetz über die Ausfuhr von Kriegsmaterial und speziell seine Verschärfung kurz vor dem Angriff Putins auf die Ukraine hat den Zweck, Ausfuhren zu verhindern in Konfliktgebiete, in denen eine Unterscheidung zwischen Angreifer und Opfer nicht klar ist. Keineswegs aber soll durch dieses Gesetz eine Unterstützung von Gegenwehr gegen einen Angriff auf Grundwerte, die auch diejenigen der Schweiz sind, verhindert werden. Zudem weiss Berset, dass auch unter diesem Gesetz die Bewilligung zur Weitergabe von Kriegsmaterial, das Dritten gehört, ohne weiteres möglich ist; wenn nötig mit Notrecht.

Der Mut der Viola Amherd

Neutralität ist zwar selbst auferlegt – und kann damit auch jederzeit vom Neutralen einseitig aufgegeben werden –, ist aber zwingend vom Interesse von Drittparteien zugunsten dieser Neutralität abhängig. Dieses Interesse ist im Fall Ukraine, sieht man vom Kriegsverbrecherregime in Russland ab, in keiner Art und Weise gegeben. Dass unsere westlichen und europäischen Partner die schweizerische Neutralitätsanrufung verstehen würden, ist eine glatte Lüge. Das Gegenteil ist der Fall. Das einzige Mitglied unserer Landesregierung, welches den Mut hatte, dies öffentlich zu sagen, ist Verteidigungsministerin Viola Amherd. Sie hat denn auch die Weitergabe von eingemotteten Leopard-2-Panzern an Deutschland im Ringtausch mit der Ukraine als sicherheitspolitisch ohne weiteres möglich bezeichnet.

Dass nun die Schweizerische Offiziersgesellschaft das Gegenteil behauptet, ist ein Affront. Als Akt von Subordination gegen die höchste Chefin sollte sie eigentlich militärgerichtlich verfolgt werden. Zudem ist es auch höchst erstaunlich, wenn sich ausgerechnet aktive Offiziere so für die Schwächung der schweizerischen Rüstungsindustrie einsetzen. Ein Vertreter eines friedlichen europäischen Landes, welches bislang Rüstungsmaterial in der Schweiz gekauft hatte, meinte gegenüber dem Schreibenden, sie würden sich das in der Zukunft zweimal überlegen, wenn im Konfliktfall mit wegen Berufung auf die Schweizer Neutralität auch mit Ausfuhrverboten für Ersatzteile gerechnet werden müsse.

Humanitäre Mission und Genf

Vollends irrt Berset, wenn er zur Verteidigung der gegenwärtigen Ukrainepolitik sich auf die humanitäre Tradition der Schweiz, verbunden mit dem Engagement für den Uno-Standort Genf, beruft. Beides sind hehre Aufgaben, haben indes nichts mit dem gegenwärtigen Stand der Ukrainekrise zu tun. Und wenn schon humanitäre Mission, warum dann nicht eine massive Erhöhung der humanitären Hilfe an die Ukraine? Dazu gehörte heute eine direkte Budgetunterstützung an Kyiv, damit die Regierung Löhne, Lebensmittel und weitere Notwendigkeiten des täglichen Bedarfsbezahlen kann. Berset und vor allem Finanzministerin Keller-Sutter wissen genau, dass dies der Schweiz auch ohne Belastung des eigenen Budgets möglich wäre, wenn sie nur den politischen Mut dazu hätte.

Genf ist und bleibt der zweite Hauptsitz der UNO. Falls dort tatsächlich einmal Verhandlungen stattfinden sollten – im Moment ist nicht abzusehen, dass dies mit Putin in Russland {und nicht in Den Haag vor dem internationalen Strafgerichtshof je möglich sein wird – dann kommen alle Parteien in der Rhônestadt zusammen und nutzen die dort vorhandenen Strukturen, ganz unabhängig von Entscheiden der schweizerischen Politik.

Die Aussagen Bersets, einem sozialdemokratischen, eigentlich als offenen geltenden Magistraten, sind ein Schlag ins Gesicht für all jene, welche sich weiterhin den nationalistischen Strömungen entgegenstellen und für eine offene, europa-affine, wertegeleitete Aussenpolitik der Schweiz einsetzen. Man möchte Berset raten, anstatt im Neutralitätsschneckenhaus zu verharren, die nach wie vor bestehenden Wirtschaftsverbindungen zwischen Russland und der Schweiz näher anzusehen. Nicht zuletzt die Geschäfte, welche die internationalen Handelsgesellschaften mit Sitz in der Schweiz abwickeln.

Dieser Artikel wurde am 12. März zunächst im Journal21 veröffentlicht, der Autor hat La Suisse en Europe die Erlaubnis erteilt, den Artikel auch auf dieser Seite abzubilden.

Suisse-Europe : une lucarne d’opportunité ? (Paul Fivat)

Paul Fivat analysiert in seinem Aufsatz die aktuelle Lage der schweizerischen Europapolitik, unter Einbezug sicherheitspolitischer Fragen. Seine Überlegungen bestärken den Weg hin zu einem neuen Pakt bilateraler Verträge und rät von der Wiederaufnahme des EWR ab. Der Beitritt erscheint als ein zu weit gestecktes Ziel. Die Europa-Initiative soll zum Zuge kommen, wenn die Verhandlungen erneut scheitern sollten. Verstetigte Beiträge zum Kohäsionsfonds und die Bewilligung der Wiederausfuhr von schweizerischem Kriegsmaterial an die europäischen Partner begleiten was Paul Fivat als lucarne d’opportunité bis zu den Neuwahlen des Europäischen Parlaments und einer neuen Kommission im Frühjahr 2024 bezeichnet. 2023 ist für die Europapolitik der Schweiz ein entscheidendes Jahr.