Die Schweiz droht den Kompass zu verlieren von Markus Mohler
Derzeit werden für drei Volksinitiativen, welche mit bestehenden Regelungen zwischen der Schweiz und der EU zu tun haben, Unterschriften gesammelt: Für die Nachhaltigkeitsinitiative (keine 10-Millionen-Schweiz), für die Grenzschutzinitiative (Asylmissbrauch stoppen), beide lanciert von der SVP, sowie für die Kompass-Initiative, die sich gegen eine Institutionalisierung der Binnenmarktverträge mit der EU wendet; zudem strebt sie das obligatorische Referendum bei wichtigen völkerrechtlichen Verträgen an. Was wären die Folgen bei einer Annahme dieser Initiativen?
Die Grenzschutzinitiative peilt auf eine Verfassungsänderung, durch welche systematische Grenzkontrollen wieder eingeführt werden sollen. Was dies allein in den Räumen Basel, Bodensee, Genf und Tessin bedeutete, kann man täglich dort beobachten. Mit der Nachhaltigkeitsinitiative soll die Wohnbevölkerung vor dem Jahr 2050 auf unter zehn Millionen Einwohnerinnen und Einwohner mit verschiedenen rechtlichen Massnahmen begrenzt werden.
Beide Initiative berühren damit den freien Personenverkehr. Dieser ist jedoch ein Fundament der EU. Dieses Fundament gilt gleichermassen für die Staaten, welche mit ihr auf unterschiedliche Weise assoziiert sind, wie die Schweiz. Die EU findet «ihren Ausdruck im freien Überschreiten der Binnengrenzen durch alle Angehörigen der Mitgliedstaaten» (Präambel 1 des Schengen-Übereinkommens von 1985). Dem hat die Schweiz mit den Schengen- und Dublin-Assoziierungsabkommen von 26. Oktober 2004 (SAA und DAA) zugestimmt. Von den damals zur Diskussion stehenden insgesamt acht Abkommen unter der Bezeichnung «Bilaterale II» wurde nur gegen «Schengen» und «Dublin» das Referendum ergriffen. Dieses wurde am 5. Juni 2005 mit 54 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt, diese Assoziierungsverträge also explizit angenommen.
Ohne die Aufrechterhaltung des freien Personenverkehrs ist die Assoziation zu «Schengen» und «Dublin» unmöglich. Für den Fall, dass die Schweiz den freien Personenverkehr als Inhalt des EU-Rechts nicht (mehr) akzeptierte, werden die Assoziierungsabkommen automatisch beendet (Art. 4 SAA, Art. 6 DAA).
Was «Schengen» und «Dublin» beinhalten
Beim Schengen-Abkommen geht es zunächst um die polizeiliche und strafrechtliche Zusammenarbeit, einschliesslich Grenzkontrollen. «Dublin» ist eine inzwischen mehrfach revidierte Asylrechtsregelung. Auch wenn die beiden eng miteinander verknüpft sind, darf man diese nicht einfach vermischen. Anders als «Schengen» ist das Asylrecht von verschiedenen Grundrechtsansprüchen unmittelbar geprägt. Dazu gehört etwa das sogenannte Non-Refoulement-Prinzip, nach welchem niemand in ein Land, in dem einer Person Verfolgung, Folter oder Tod drohen (Art. 25 Abs. 2 und 3 der Bundesverfassung, BV), ausgeschafft werden darf. Mit dem Asylrecht verbunden ist auch das Recht auf Familie (Art. 14 BV).
Bei «Schengen» geht es mittlerweile um weit mehr als die polizeiliche und strafrechtliche Zusammenarbeit. Ausgelöst durch den Kampf gegen den Terrorismus wurden zunächst gemeinsame Visums-Regelungen eingeführt (Schengen-Visum, das für alle Schengen-Staaten gilt). Um dieses wirksam durchzusetzen, folgten später das EU- bzw. Schengen-weite System der Ein- und Ausreisekontrolle (Entry-/Exit-System, EES) und dann das Europäische Reiseinformations- und Genehmigungssystem (European Travel Information and Authorisation System, ETIAS). Dieses ETIAS gilt für Personen aus nicht dem Visumszwang unterworfenen Staaten (neu bspw. das Vereinigte Königreich). Auch diesem ist die Schweiz beigetreten.
Ein Kernstück von «Schengen» ist das Schengen-Informationssystem (SIS). Es ist zum einen ein europaweites Fahndungsregister. Gespiesen wird es von allen EU- und Schengen-assoziierten Staaten. Die schweizerischen Behörden rufen das SIS täglich über 100’000mal ab, dies ergibt rund 500’000 automatisierte technische Zugriffe auf die verschiedenen Datenbanken! Im laufenden Jahr führte dies alle zehn Minuten zu einem Treffer. Mit der technischen Interoperabilität der Systeme können die Behörden mit einer einzigen Abfrage über das bereits Bestehende hinaus auch das Ein- und Ausreise- und dann auch das Reiseinformations- und Genehmigungssystem konsultieren. Jegliche Fahndungen oder unerlaubte Aufenthalte werden mit einem Klick sofort evident. Ein Ersatz für das interoperable SIS auf rein nationaler Ebene ist selbstverständlich unmöglich. Das SIS ist auch nicht mit dem Interpol-Fahndungsregister gleichzusetzen, schon allein deshalb, weil sie mit Bezug auf Terrorismusfahndungen nicht übereinstimmen.
Schliesslich ist auch die derzeit gültige Befreiung von Schweizerinnen und Schweizern von der US-amerikanischen Visumspflicht (USA-Visa-Waiver-Programm) mit dem SIS verknüpft: Dieser Visumspflichtverzicht hängt damit zusammen, dass die Schweiz mit dem sogenannten EU-/Schengen-Prüm-Abkommen, speziell auf die Terrorismusbekämpfung ausgerichtet, assoziiert ist. Fiele dieses weg, würde auch die Visumspflichtpflicht durch die USA wieder eingeführt.
Was, wenn die Personenfreizügigkeit wegfiele?
Was bedeutete also die Aufgabe der Personenfreizügigkeit durch die Schweiz? Alle diese für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit unverzichtbaren Informationen entfielen gänzlich. Die Schweiz würde nicht zur zu einem Rückzugsort international gesuchter Delinquenten, sondern auch zu einer logistischen Basis für kriminelle einschliesslich terroristische Organisationen. Zudem müsste die Schweiz auch mit allen Staaten, die von den EU-Visumsregelungen betroffen sind, wieder eigene Visums-Staatsverträge abschliessen. Wenn diese schweizerischen Visumsregelungen mit jenen der EU nicht vollständig kongruent wären, zwänge dies unsere Nachbarstaaten ebenso, systematische Grenzkontrollen einzuführen, um die Umgehung ihrer Visums- und Einreisegenehmigungsregelungen via Schweiz zu verhindern. Was dies bedeutete, kann man sich leicht ausmalen.
Nicht zu vergessen ist dabei, dass der Wegfall aller Informationen der erwähnten Register wie auch die systematische Grenzkontrolle und die verstärkte Überwachung der grünen und blauen Grenze eine enorme Personalvermehrung beim Bund und in den Kantonen verursachte. Ausser den damit massiv steigenden Kosten für die öffentliche Verwaltung ist auch sehr zu bezweifeln, dass das dafür nötige Personal überhaupt zu finden wäre. Das geltende Schengen-System erlaubt den einzelnen Mitglied- und assoziierten Staaten schon jetzt, in aussergewöhnlichen Lagen vorübergehend Grenzkontrollen einzuführen (Art. 25 f. und 28 ff. des Schengen-Grenzkodex [SR 0.362.380.067]). Derzeit machen zehn EU-Länder davon Gebrauch.
Massive Ausweitung obligatorischer Referenden
Mit der Kompass-Initiative wollen die Initianten alle wichtigen völkerrechtlichen Verträge dem obligatorischen Referendum unterstellen. Nun sind alle Weiterentwicklungen des sogenannten Schengen-Besitzstandes zwischen der Schweiz und der EU je ein völkerrechtlicher Vertrag jedoch unterschiedlicher Tragweite. Seit Februar 2008 bis Ende September 2024 waren es 449 Weiterentwicklungen. Sie werden derzeit in drei Kategorien eingeteilt: Rechtsgrundlagen für neue oder geänderte technische Vorgänge (Datenbanken, Abfragesysteme), verwaltungsrechtliche und materiell-rechtliche Bestimmungen. Von den 449 Weiterentwicklungen gehörten 49 zur dritten Kategorie und wurden als wichtige Rechtsänderungen dem Parlament zur Genehmigung oder Ablehnung vorgelegt. Nach dem Sinn dieses Initiativbegehrens hätten also mindestens diese 49 dem obligatorischen Referendum unterstellt sein sollen. Da die Übernahme von Weiterentwicklungen an eine Frist von maximal zwei Jahren gebunden ist, könnten für solche Referendumsabstimmungen nicht immer die im Voraus festgelegten Termine taugen, es könnte zusätzliche brauchen. Demgegenüber wurde das Referendum nur drei Mal ergriffen (betreffend biometrische Pässe, Verschärfung der Waffenrechtsetzung und Beteiligung an Frontex); alle Referenden wurden abgelehnt.
Zudem eignen sich die wenigsten dieser sehr komplizierten und komplexen Änderungen der Schengen-Rechtsetzung für eine Diskussion im Rahmen einer Abstimmungskampagne.
Fazit: Die Beendigung der Schengen- und Dublin-Assoziierung bedeutete nicht nur einen enormen Verlust punkto innerer Sicherheit hierzulande und in ganz Europa sowie eine massive Personalaufstockung, die Schweiz würde im Raum der Freiheit der Sicherheit und des Rechts, was die EU seit dem Amsterdamer-Vertrag anstrebt, eine Insel der Unsicherheit. Und diese Insel der Unsicherheit produzierte im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in sehr unsolidarischer Weise viele vermeidbare erhebliche Sicherheitsrisiken. Angesichts der globalen Situation eine unverantwortbare Politik.
Markus H. F. Mohler ist Jurist mit Promotion in Strafrecht. Er war Kommandant der Kantonspolizei Basel-Stadt sowie Dozent für öffentliches, speziell Sicherheits- und Polizeirecht an den Universitäten von Basel und St. Gallen
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