Europa hat die Wahlen in der Schweiz verloren – oder doch nicht ganz? Von Thomas Cottier
Die EU-feindliche SVP legt im Nationalrat deutlich Sitze zu, die EU-freundliche GLP büsst mehrere Mandate ein. Das zeigt: Europa hat die Wahlen 2023 ins eidgenössische Parlament verloren. Umso wichtiger ist deshalb jetzt, dass alle politischen Kräfte diesseits der SVP eine Allianz der europäischen Vernunft schliessen.
Die Bemühungen um ein geregeltes Verhältnis zur Europäischen Union (EU) gehören klar zu den Verlierern der National- und Ständeratswahlen vom 22. Oktober 2023. Die Schweizerische Volkspartei (SVP/UDC), die weitere Integrationsschritte kategorisch ablehnt, hat ihren Wähleranteil im Nationalrat auf 27.9 Prozent erhöht und ist fortan mit 61 Sitzen im Nationalrat vertreten; die Ergebnisse im Ständerat sind noch offen. Die Partei konnte sich auf Kosten nicht stimmberechtigter Personen mit dem Thema und dem Feindbild Migration durchsetzen. Sie sieht sich in ihrer EU-feindlichen Haltung und ihrer Betonung nationaler Souveränität bestätigt. Die Grünliberale Partei (GLP/VLS), die sich als einzige für den Rahmenvertrag mit der EU eingesetzt hat, fällt auf 7.6 Prozent Prozent zurück und verliert 6 von 16 Sitzen im Nationalrat. Die Grünen (les Vert-e-s), die sich für eine starke Klimapolitik einsetzen, büssen 8.4 Prozent Wähleranteil ein und kommen noch auf 9.8 Prozent im Nationalrat. Sie fallen von 28 auf 23 Sitze zurück.
Alle Parteien, auch der Freisinn (FDP/PLR) mit 14.3 Prozent und 28 Sitzen, die Sozialdemokraten (SP/PS) mit 18.3 Prozent und 41 Sitzen sowie die Mitte (le Centre) neu mit 14.1 Prozent und 29 Sitzen im Nationalrat, haben das Thema Europa und die Beziehungen zur EU im Wahlkampf tunlichst vermieden. Die Frage ist müssig, ob das den Ausgang angesichts dringenderer Probleme namentlich bei der GLP und den Grünen verändert hätte. Interessanter ist die Frage, wie sich die verdrängten europapolitischen Herausforderungen in der kommenden Legislatur auswirken werden.
Es braucht internationale Zusammenarbeit
Die SVP wird vorerst selbstbewusst auf eine restriktivere Einwanderungspolitik drängen. Sie wird erneut die Umsetzung der 2014 knapp gewonnenen Masseneinwanderungsinitiative und damit von Artikel 121a der Bundesverfassung zur Arbeitsmigration einfordern. Sie wird Kontrollen an der Grenze und abschreckende Massnahmen gegen asylsuchende Wirtschaftsflüchtlinge verlangen. Im Einklang mit ihrer nationalkonservativen Ausrichtung und Ideologie wird sie autonome Massnahmen der Schweiz vorschlagen. Sie wird dabei bald feststellen müssen, dass all die Fragen der Migration nicht im Alleingang gelöst werden können. Dieser führt in die Sackgasse.
Die Abschiebung und Rückweisung von Flüchtenden in die Nachbarstaaten wird zu harschen Reaktionen und Vergeltungsmassnahmen führen, zumal Rückführungsverträge schwierig umzusetzen sind. Es bedarf der Solidarität und geregelter Verfahren mit der EU, es sei denn die SVP schlage die Errichtung von Internierungslagern vor. Weltweit wird die Klimamigration zunehmen und auch an den Schweizer Grenzen nicht haltmachen. Lösungen können auch hier nur mit der EU und in internationaler Zusammenarbeit gefunden werden.
Die Kündigung der Freizügigkeit und Einführung eines Punktesystems sowie von Kontingenten wird den Bedarf an Fachkräften nur mit grossen bürokratischem Aufwand seitens der Unternehmen sicherstellen können. Und gut qualifizierte Kräfte wollen ihre Familie mitnehmen, so dass das Ziel einer effektiven Beschränkung gegenüber dem heute in Europa freien Markt in der Praxis angesichts hier rückläufiger Geburtenraten kaum erreicht werden kann. Die ablehnende Haltung gegenüber ausserfamiliärer Kinderbetreuung wird das Problem des Fachkräftemangels weiter verschärfen. Die Erosion der bilateralen Verträge setzt die Industrie zusätzlich unter Druck, und mit dem einstweiligen Ausschluss der Schweiz aus der Forschungszusammenarbeit mit der EU verliert unser Land ihre besten Nachwuchskräfte in der Wissenschaft.
Autarkie ist keine tragfähige Lösung
Das gleiche gilt für die Sicherheitspolitik. Die nationale Sicherheit kann nicht im Alleingang mit der Aufrüstung der Schweizer Armee erzielt werden. Es genügt nicht, allein an der Grenze zu stehen und auf die nationale Souveränität und integrale Neutralität zu pochen. Die Rüstung kann autonom nicht finanziert werden und ist auf zuverlässige Kooperation mit den EU- und den Nato-Staaten angewiesen. Die heutigen Bedrohungen verlangen eine enge internationale Zusammenarbeit.
Das gleiche gilt für die Versorgung. Die Versorgung mit Energie kann nicht im Alleingang bewältigt werden, es sei denn die Wähler nehmen massiv höhere Kosten für notabene vermehrt fossil produzierten Strom in Kauf. Das Stromabkommen bleibt unabhängig der Wählergunst notwendig. Kommt es nicht, werden dies die Leute mit dem Portemonnaie, allenfalls auch mit Blackouts bezahlen. Sicherheit ist anders. Eine abgeschottete Landwirtschaft ist ebenfalls mit hohen Kosten verbunden und vermag im Fall eines klimabedingten Ernteausfalles das Land nicht annährend zu versorgen. Autarkie ist auch hier keine tragfähige Antwort.
SVP wird Verantwortung übernehmen müssen
Die SVP wird in all diesen Fragen Verantwortung übernehmen müssen. Sie wird ihre Wahlversprechen nur umsetzen können, wenn sie der Zusammenarbeit mit der EU zustimmt – in Fragen der Migration, der Klimapolitik und der Sicherheitspolitik, hier auch mit der Nato. Sie wird ihre Vorstellungen der nationalen Souveränität und Neutralität überdenken müssen. All die aufgestauten und verdrängten Probleme werden sich sonst weiter verschärfen. Bleiben sie ungelöst, hinterlassen sie enttäuschte und frustrierte WechselwählerInnen. Die heute verdrängte Europafrage wird dann unter Druck mit Bestimmtheit die Wahlen 2027 dominieren. Es liegt daher im Interesse gerade der SVP, tragfähige Lösungen schon vorher einzufahren. Auch die nächsten Wahlen werden über das Portemonnaie entschieden.
Aufgabe und Chance all der anderen Parteien mit ihrer grossen Mehrheit ist es, den Druck der verdrängten Probleme zu nutzen und nun eine Allianz der europäischen Vernunft zu schliessen. Sie gewinnen alle, wenn sie sich zusammenraufen und am gleichen Strick ziehen. Die Europafrage ist in dieser Legislatur Schlüssel nicht nur für die Erreichung der Klimaziele, sondern auch für die sozialen Anliegen der SP und der Grünen. Die Lebensmittelkosten, die Gesundheitskosten lassen sich ohne Abkommen mit der EU und mehr Wettbewerb nicht senken. Die FDP und GLP können hier ihren Beitrag leisten zur Stärkung des Schweizer Standortes. Die Gewerkschaften müssen einsehen, dass die nur Dank der SVP mögliche sture Haltung zum Lohnschutz zu viel Kollateralschaden verursacht. Sie trägt zur Erosion des Werkplatzes Schweiz bei und gefährdet zahlreiche Stellen im Land. Sie verspielt Chancen zu Gunsten einer prosperierenden Wirtschaft, die in innovativen Branchen neue Jobs schafft. Und der Mitte kommt das Vorrecht zu, in der nächsten Legislatur als Zünglein an der Waage zu entscheiden und sich für die oder eine andere Lösung einzusetzen. Alle aber müssen aus sachlichen Gründen in die richtige Richtung nach Europa gehen. Polen hat es uns mit seinen Wahlen vom 15. Oktober 2023 vorgemacht.
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