Für die EU ist die Schweiz heute nur ein gewöhnlicher Drittstaat von Martin Gollmer

Das Nicht-Mitglied Schweiz gilt für die EU nicht (mehr) als strategischer Partner und Verbündeter wie das aus dem Staatenbündnis ausgetretene Grossbritannien. Das zeigt sich im Fall der fortgesetzten schweizerischen Nicht-Beteiligung am Forschungsprogramm Horizon Europe exemplarisch.

Das ist eine bittere Pille: Grossbritannien, seit Anfang 2020 nicht mehr Teil der EU, darf wieder mitmachen, die Schweiz, auch Nicht-Mitglied der EU, muss vorerst weiterhin zuschauen. Die Rede ist vom EU-Forschungsprogramm Horizon Europe – mit einem Budget von 95 Milliarden Euro für die Jahre 2021 – 2027 das grösste Forschungsprogramm der Welt. Auf eine Rückkehr des Königreichs in das Programm haben sich die britische Regierung und die auf Seiten der EU verhandlungsführende Kommission Anfang September 2023 geeinigt. Die Einigung beweise, dass Grossbritannien und die EU strategische Partner und Verbündete seien, sagte Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen danach.

Die Beteiligung Grossbritanniens an Horizon Europe war eigentlich schon 2020 beschlossen worden. Damals vereinbarten London und Brüssel im Brexit-Handelsabkommen explizit den Zugang des Inselstaats zum Forschungsprogramm. Doch dann verstrickten sich die beiden Exekutiven in einen diplomatischen Kleinkrieg. Unter den Premierministern Boris Johnson und Liz Truss verfolgte Grossbritannien einen Konfrontationskurs gegenüber der EU und drohte, das im Brexit-Vertrag enthaltene Nordirland-Protokoll zu kündigen. Als Reaktion darauf verweigerte Brüssel London die vertraglich bereits zugesicherte Beteiligung an Horizon Europe.

Der seit Herbst 2022 amtierende Premierminister Rishi Sunak änderte den Kurs und begann wieder konstruktiv mit der EU-Kommission zu reden. Das Resultat war das sogenannte Windsor-Abkommen von Ende Februar dieses Jahres. Es legte die politische Grundlage für die britische Rückkehr ins Horizon-Forschungsprogramm und eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Grossbritannien und der EU auf breiter Front. Im Windsor-Abkommen verpflichtete sich London endlich auf die Anwendung des speziellen Handelsregimes für Nordirland. Schon vorher hatte London akzeptiert, dass in der britischen Provinz der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine Rolle spielt. Die mit diesem Ausgang verbundene Beteiligung der britischen Universitäten und Industrie an Horizon Europe war im Hintergrund von Gewicht und ein wichtiger Hebel der EU.

Unzimperliche EU

Auch im Fall der Schweiz verwendet die EU Horizon Europe unzimperlich als Druckmittel. Als Reaktion auf den einseitigen Abbruch der Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen zu den bilateralen Verträgen durch den Bundesrat im Mai 2021 schloss sie die Schweiz kurzerhand von Leitungsfunktionen im Forschungsprogramm aus. Die Schweiz hatte sich eine vollständige Beteiligung an solchen Programmen Ende der 1990er-Jahre im Rahmen der bilateralen Verträge I gesichert. Die EU will nämlich durchsetzen, dass die Schweiz zu der von ihr gewünschten Fortsetzung und Ausweitung des bilateralen Wegs gewisse institutionelle Regeln akzeptiert. Darunter befinden sich etwa eine dynamische Übernahme von EU-Recht und ein Mitwirken des EuGH bei der Schlichtung von etwaigen Streitfällen – Dinge, die in der Schweiz innenpolitisch umstritten sind.

Als wegweisend für das Schicksal der schweizerischen Beteiligung an Horizon Europe gilt eine gemeinsame Erklärung von Bern und Brüssel. Die EU-Kommission möchte nämlich die seit über einem Jahr laufenden Sondierungsgespräche mit der Schweiz schon seit Längerem mit einem solchen Dokument abschliessen. Darin sollen die Eckwerte für den Neustart der Verhandlungen über die alten Konfliktpunkte wie etwa Rechtsübernahme und Streitschlichtung sowie über neue bilaterale Abkommen etwa in den Bereichen Strom, Lebensmittelsicherheit und Gesundheit festgehalten werden. Der Entwurf für ein solches Memorandum of Understanding soll seit Ende des vergangenen Jahrs vorliegen. Doch Bern verzögert dessen Unterzeichnung mit dem Argument, es gebe noch nicht zu allen Lösungsansätzen für die Probleme zwischen der Schweiz und der EU ein gemeinsames Verständnis, weshalb es noch weitere Sondierungsrunden mit Brüssel brauche. Will die Schweiz wenigstens noch an der zweiten Hälfte der laufenden Programmperiode von Horizon Europe mitmachen können, muss sich Bern also beeilen.

Rückzug rächt sich

Der Fall von Horizon Europe zeigt, dass die EU die Schweiz nur noch als gewöhnlichen Drittstaat behandelt. Dies trotz Lage mitten in der Staatengemeinschaft, trotz den weltweit führenden eidgenössischen Hochschulen in Zürich und Lausanne, trotz den bilateralen Abkommen I und II aus der Jahrtausendwende und trotz eines Freihandelsabkommens aus dem Jahr 1972 (!). Als strategischer Partner und Verbündeter, wie EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen Grossbritannien bezeichnet hat, gilt sie nicht (mehr). Es rächt sich in diesem Zusammenhang, dass die Schweiz ihr 1992 bei der EU eingereichtes Beitrittsgesuch 2016 unter dem Druck nationalkonservativer Kreise wieder zurückgezogen hat. Gäbe es dieses Gesuch noch, würde die Schweiz als – wenn auch als ein ewiger – Beitrittskandidat gelten und könnte auf eine Vorzugsbehandlung der EU hoffen.

Seit dem Rückzug dieses Gesuchs gehen die bilateralen Verträge mit der EU auch nicht mehr als Übergangslösung bis zu einem Beitritt durch, sondern sind zu einem scheinbar definitiven Arrangement der Schweiz mit dem Staatenbündnis geworden. Kein Wunder deshalb, dass die EU seither harte institutionelle Bedingungen an die Fortsetzung und den Ausbau des bilateralen Wegs knüpft und dem schweizerischen Rosinenpicken je länger je kritischer gegenübersteht. Die Zeche bezahlen unter anderem die Hochschulen und die innovative Industrie sowie die kommende Generation von Forscherinnen und Forschern in der Schweiz.

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