Neutralität: Christoph Blocher erntet Widerspruch von Martin Gollmer
Sieben besorgte Staatsbürger lancieren ein Manifest für eine Neutralität im 21. Jahrhundert. Sie fordern Bundesrat und Parlament angesichts einer geänderten sicherheitspolitischen Lage insbesondere in Europa auf, die Neutralität der Schweiz zu überdenken und in Zukunft flexibler zu handhaben. Sie formulieren damit einen Gegenentwurf zur Neutralitätsinitiative der SVP und Christoph Blochers, die eine rigide Form der Neutralität in der Verfassung verankern will.
«Der Ukraine-Krieg bestätigt und führt klar vor Augen, dass die einzelnen Bausteine der schweizerischen Neutralitätspolitik nicht mehr zueinander passen.» So steht es in einem vierseitigen Manifest, das eine siebenköpfige Gruppe bestehend aus Staats- und Völkerrechtlern sowie aus Diplomaten unter Führung des emeritierten Berner Professors Thomas Cottier am 29. Mai 2024 in Bern vorstellte. Die Schweiz habe in diesem Konflikt einerseits die Sanktionen der EU gegen Aggressor Russland übernommen, anderseits aber am Verbot der Kriegsmaterialausfuhr an die Kriegspartien festgehalten. Die Schweiz könne den Schutz der internationalen Rechtsordnung nicht hochalten und verteidigen, insbesondere den Schutz von Demokratie, Rechtsstaat und das Gewaltverbot, wenn sie den Aggressor Russland gleich behandelt wie das Opfer Ukraine und gestützt darauf die Wiederausfuhr von längst verkauftem Kriegsmaterial an die Ukraine verbietet.
Der Grund für die heute widersprüchliche Politik im Ukraine-Konflikt liege im restriktiven Kriegsmaterialgesetz, das in Teilen auf die umstrittenen und überholten Haager Konventionen von 1907 abgestützt werde, heisst es in dem Manifest weiter. Das Gleichbehandlungsgebot der Haager Konventionen komme bei einem Angriffskrieg aufgrund der Uno-Charta von 1945 nicht mehr zur Anwendung. Diese stipuliert weltweit ein generelles Angriffs- und Gewaltverbot. Die Schweiz sei als Uno-Mitglied deshalb nicht mehr berechtigt, Aggressor und Opfer gleich zu behandeln.
Überdenken, nicht abschaffen
Die Autoren des Manifests fordern darum Bundesrat und Parlament auf, die Neutralität der Schweiz zu überdenken. Diese habe ihre ursprüngliche Bedeutung aufgrund des völkerrechtlichen Gewaltverbots und des Rechts auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung verloren. Unter Neutralität werde heute von den meisten Staaten die autonom beschlossene Nichtteilnahme an einem bewaffneten zwischen- oder innerstaatlichen Konflikt und die Bündnisfreiheit verstanden.
Die Autoren des Manifests wollen die Neutralität aber nicht abschaffen. Diese habe nach wie vor eine grosse Bedeutung für die schweizerische Identität. Sie sei historisch gewachsen und tief verankert in der Bevölkerung. Das gelte es zu berücksichtigen. Die Autoren des Manifests fordern deshalb nur, die Neutralität in Zukunft anders – vor allem flexibler – zu handhaben als bisher. Dazu haben sie zehn Eckpfeiler der schweizerischen Neutralität formuliert. Die wichtigsten sind:
• «Die Neutralität ist ein aussenpolitisches Instrument.» Sie soll nicht in der Verfassung als Staatsziel verankert und verrechtlicht werden, wie das die Neutralitätsinitiative der SVP unter Führung von Christoph Blocher fordert. Wichtig seien mehr Handlungsfreiheit und weniger Fesseln.
• «Die Neutralität dient der Sicherheitspolitik und nicht umgekehrt.» Die militärische Neutralität soll daher nur so lange gelten, als sie der Sicherheit der Schweiz dient und nicht Staatsziele und Werte der internationalen Beziehungen gefährdet. Das müsse von Fall zu Fall geprüft und entschieden werden.
• Die Schweiz soll das Selbstverteidigungsrecht angegriffener Staaten anerkennen. Die Schweiz solle dabei alles unterlassen, was den Aggressor begünstige.
• «Die Schweiz stellt in Friedenszeiten und in einem Konfliktfall alle ihr zumutbaren Mittel für Gute Dienste, humanitäre sowie vor allem finanzielle Hilfen zur Verfügung.»
• Die Schweiz brauche eine schlagkräftige Armee. Diese soll einer glaubwürdigen Sicherheits- und Verteidigungspolitik dienen, unabhängig davon, ob die Schweiz neutral sei oder nicht. In Friedenszeiten müsse die Armee die Zusammenarbeit mit Nato und EU trainieren, um sich im Fall eines Angriffs gemeinsam mit den demokratischen Rechtsstaaten verteidigen zu können.
• Die Schweiz müsse das Embargogesetz anpassen. Der Bundesrat soll eigene Sanktionen ergreifen können. Weiter soll das Kriegsmaterialgesetz revidiert werden, um den Export von Waffen und Munition mit den aussen- und sicherheitspolitischen Interessend der Schweiz zu verbinden.
Die Medien stellten das Manifest mehrheitlich als einen Gegenentwurf zur Neutralitätsinitiative der SVP und Christoph Blochers vor. «Ein 10-Punkte-Plan gegen Christoph Blocher» titelte etwa der «Tages-Anzeiger». «Un manifeste pour contrer l’initiative sur la neutralité de Christoph Blocher» hiess die Schlagzeile bei «Le Temps». Auch Radio SRF stellte das Manifest in einen Zusammenhang mit der Neutralitätsinitiative. Diese will eine «immerwährende und bewaffnete Neutralität» in der Verfassung verankern. Sie wurde am 11. April dieses Jahres beim Bund eingereicht und inzwischen auch für gültig erklärt. «Natürlich geht es uns auch darum, ein Gegenmodell zu Blochers Initiative aufzustellen», sagte Manifest-Initiant Cottier an der Medienkonferenz in Bern.
Den Nerv der Zeit getroffen
Bereits wenige Tage nach der Vorstellung des Manifests hatten es schon mehrere Hundert Personen unterschrieben. Zu den 87 Erstunterzeichnern gehören die Ex-Bundesräte Joseph Deiss (Mitte), Samuel Schmid (SVP, später BDP) und Kaspar Villiger (FDP) sowie mehrere aktive und ehemalige Parlamentarier jeglicher parteipolitischer Couleur und etliche ehemalige Diplomaten. Das Manifest hat also, so scheint es, ein weitverbreitetes Unbehagen mit der aktuellen Handhabung der Neutralität angesprochen.
Das Manifest «Eine Neutralität für das 21. Jahrhundert» kann hier gelesen und unterzeichnet werden.
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