von Thomas Cottier

 

Die NZZ vom 6.3.2021 fordert prominent in ihrem bemerkenswerten Leitartikel den Übungsabbruch für das Rahmenabkommen mit der EU. Eric Gujer beschreibt die Politikverdrossenheit in der Sache gekonnt und wird Manchen aus dem Herzen sprechen, zumal er auf die Grundzüge und die in der Politik oft verkannten Vorzüge des Abkommens nicht eingeht. Bemerkenswert ist indessen, dass er die Anliegen des Rahmenabkommens anerkennt: „Auch ohne InstA benötigen Studenten wie Forscher den Zugang zu europäischen Hörsälen und Laboren. Unternehmen müssen sich darauf verlassen können, dass ihre Produkte in der EU als gleichwertig anerkannt werden. Die Europäische Union bleibt das Schicksal der Schweiz, in geopolitischer wie wirtschaftlicher Hinsicht“. Gerade darum geht es beim Rahmenabkommen, um nicht mehr und nicht weniger.

Nach den Verhandlungen ist vor den Verhandlungen, lautet die Devise von Eric Gujer. Was diese Sicht verkennt: Ein Übungsabbruch aus innenpolitischen Gründen ist aussenpolitisch ein Affront. Die EU ist der Schweiz in wesentlichen Punkten entgegengekommen. Das Abkommen ist weit besser als sein Ruf in der Schweiz. Die Absage an das Rahmenabkommen im jetzigen Zeitpunkt und ohne ordentliche Debatte im Parlament und im Volk wird den letzten Goodwill der Schweiz in Brüssel und den 27 Hauptstädten verspielen. Seit dem Verhandlungsmandat des Bundesrates im Jahre 2013 zu einem Schweizer Anliegen sind bald 8 Jahre hinhaltender Diplomatie verstrichen. Die Geduld ist am Ende. Ein Abbruch würde bedeuten, dass die Beziehungen zur Schweiz vorerst aufs Eis gelegt werden.

Wer die Übung jetzt aus innenpolitischen Gründen abbricht, muss bedenken, dass die EU gegenüber der Schweiz keine wesentlichen offensiven Interessen hat. Die wirtschaftlichen Beziehungen sind gut. Für die EU soll das Rahmenabkommen in erster Linie das Verhältnis vereinfachen und stabilisieren. Es ist Voraussetzung für weitere Abkommen zum Binnenmarkt, die vor allem im Interesse der Schweiz sind. Aber das Wesentliche ist für die EU in trockenen Tüchern: Der freie Warenverkehr, der freie Personenverkehr, der Alpentransit und die Einbindung in Schengen. Sie ist auf ein Rahmenabkommen nicht angewiesen. Die am 18.2.21 veröffentlichte umfangreiche Handelsstrategie der Kommission für eine offene, nachhaltige und durchsetzungsfähige EU-Handelspolitik  [(COM(2021)66 final] erwähnt die Schweiz als immerhin  4. wichtigste Handelspartnerin nach den USA, China und Grossbritannien und die wichtigste Partnerin unter Präferenzabkommen nur ganz am Rande. „The EU looks forward to the modernization of its trade relationship with Switzerland as well as with Turkey, provided the right conditions are met“(S. 17). Diese Bedingungen sind uns seit 10 Jahren bekannt. Die EU wird sich hier nach den Erfahrungen mit Grossbritannien nicht auseinander dividieren lassen. Sie wird mit andern Worten keine Eile haben, sondern die Schweiz links liegen lassen können. An einem Stillhalte- und Interimsabkommen wird sie kein Interesse haben. Dafür fehlen in Brüssel und den europäischen Hauptstädten schlicht die Notwendigkeit, das Verständnis und der Goodwill.

Auch wer einen neuen Ansatz sucht und ein Freihandelsabkommen nach dem Vorbild des Abkommens mit Kanada oder mit Singapur sucht, muss den erforderlichen Zeitbedarf im Auge behalten. Die Verhandlungen mit Kanada wurden 2007 beschlossen. 2013 bestand Einigung im Grundsätzlichen. 2017 wurde das Abkommen provisorisch in Kraft gesetzt. Der EuGH äusserte sich dazu 2019. Noch heute ist es nicht ratifiziert. Das Abkommen mit Singapur wurde ebenfalls 2007 initiiert und trat erst mit Verzögerungen am 8. November 2019 in Kraft.

Auch mit guten Willen wird somit mindestens eine weitere Dekade vergehen, bis Studierende und Forscher Zugangsrechte zu Hörsälen haben und Unternehmungen einen Anspruch auf Anerkennung ihrer Produkte in der EU. Inzwischen schwimmen der Schweiz die Felle davon: eine führende Rolle in der Forschungszusammenarbeit, die gegenseitige Anerkennung und die damit verbundene Verlagerung von Forschung und Produktion ins Ausland, die Vernetzung und Finanzierung der Pumpspeicherwerke im europäischen Verbund als Beitrag an den Klimaschutz; der Zugang zum digitalen  europäischen Markt und vieles mehr. Die Schweiz wird dies mit einseitigen Anpassungen an das EU Recht nicht wettmachen können. Eine weitere Generation wird Europa verpassen.

Was es heute braucht, ist der Mut, das Rahmenabkommen zu unterschreiben auch wenn nicht alle Fragen gelöst sind. Diese können künftig auf dem Wege der Streitbeilegung und in weiteren Verhandlungen angegangen werden. Die Schweiz wird in der Umsetzung das letzte Wort behalten und kann sich notfalls dem EU Recht entziehen und verhältnismässige Gegenmassnahmen in Kauf nehmen.  Ihre Souveränität bleibt gewahrt. Die Öffentlichkeit, Bundesrat, Parlament und Volk müssen jetzt ihre Hausaufgaben machen und in Europa am Goodwill der Schweiz als eines ihrer wichtigsten Güter arbeiten.  Ein Übungsabbruch bewirkt das Gegenteil und ist nicht im Interesse des Landes.