Thomas Cottier: Die Zugeständnisse der Europäischen Union im Rahmenabkommen mit der Schweiz

Von Thomas Cottier*

Die Europäische Union kommt der Schweiz und ihren Besonderheiten im Rahmenabkommen vom 23. November 2018 in mancher Hinsicht entgegen. Das wird mit Blick auf die Rechtsstellung der Mitgliedstaaten deutlich. Die EU gewährt ihrer viertgrössten Handelspartnerin, die mehr als die meisten Mitgliedstaaten vom europäischen Binnenmarkt profitiert, eine Sonderbehandlung. Sie verzichtet darauf, die Schweiz vor die Wahl entweder-drinnen- oder-draussen zu stellen, oder auf einen Standard-Freihandelsvertrag mit Drittstaaten zu verpflichten. Sie hat das auf die direkte Demokratie zugeschnittene Baukastensystem der bilateralen Verträge anerkannt, obgleich die Schweiz deren Grundlage und Ziel eines künftigen EU Beitritts 2016 aufgegeben hat. Anders als die Mitgliedstaaten kann die Schweiz unter dem Rahmenabkommen weiterhin einzelne Verträge abschliessen, ohne an das Gesamtprojekt der Integration und selbst des Binnenmarktes gebunden zu sein.

Voller Zugang zum Binnenmarkt in Teilbereichen
Die Europäische Union gewährt der Schweiz mit dem Rahmenabkommen vom 23.11.2018 in fünf einzelnen Bereichen weiterhin den vollen Zugang zum Binnenmarkt: Die Personenfreizügigkeit für Schweizerbürger in den Mitgliedstaaten, im Bereich des Verkehrs zu Luft, auf Strasse und Schiene, im Handel mit landwirtschaftlichen Gütern, ohne aber Agrarfreihandel zu verlangen, und bei der gegenseitigen Beseitigung technischer Handelshemmnisse, was für KMUs in der Schweiz von zentraler Bedeutung ist. Sie verzichtet darauf, das Freihandelsabkommen von 1972 bereits heute einzuschliessen, obgleich dies die eigentliche Grundlage der Beziehungen bildet. Sie verzichtet darauf, den freien Dienstleistungsverkehr zu verlangen. Sie ist bereit, dass diese Fragen schrittweise angegangen werden. Im Vergleich zu den Mitgliedstaaten geniesst die Schweiz damit eine starke Rücksicht auf ihre tradierten und gewachsenen Wirtschaftsstrukturen und ihre politische Kultur.

Rücksicht auf Schweizer Anliegen
Die EU kommt der Schweiz in den einzelnen Bereichen entgegen. Sie anerkennt mit dem Rahmenabkommen die Existenz der Flankierenden Massnahmen im Bereich der Entsendung von ausländischen Arbeitnehmern und Dienstleistern (FLAM), die unter dem bestehenden Freizügigkeitsabkommen gerichtlich anfochten werden können und unsicher sind. Sie gewährt – anders als in den Mitgliedstaaten – der Schweiz die Möglichkeit der Voranmeldung solcher Arbeiten vier Tage vor der Einreise. Sie erlaubt – erneut über das EU Recht hinaus – die Möglichkeit, gegen säumige Unternehmer eine Kaution zu verlangen. Das geht zwar hinter die gegenwärtige Anmeldefrist von acht Tagen und eine allgemeine Kautionspflicht zurück, wird aber durch den Zugang zur Amts- und Rechtshilfe im Rahmen des europäischen Binnenmarkt Informationssystems IMI kompensiert. Die vertragliche Anerkennung der FLAM an sich ist aber das wichtigste Zugeständnis, das man hierzulande nicht zu schätzen weiss.
Die Union hat nicht darauf bestanden, dass die sog. Unionsbürgerrichtlinie explizit aufgenommen wird. Sie war bereit, diese Frage ausgesteuerter Personen einstweilen offen zu lassen und allenfalls einer Lösung im Rahmen Streitbeilegung anzugehen. Sie war bereit, mit den Neuverhandlungen zuzuwarten und damit auch mit dem Einbezug neuer Themen, insbesondere des Freihandels in der Landwirtschaft und die Abschaffung der Agrarzölle, die Liberalisierung der Dienstleistungen und neue Regeln über das Wettbewerbsrecht und von Investitionen. Diese Fragen können in der Folge schrittweise mit dem Modell der bilateralen Verträge angegangen werden. Bereits mit der Paraphierung des Rahmenabkommens ist die EU bereit, weitere Vertragsverhandlungen zu führen (Stichwort Forschung und Medizinaltechnik). Die Debatte im Parlament und eine Volksabstimmung muss nicht abgewartet werden.

Mitsprache
Die EU hat der Schweiz als Nichtmitgliedstaat Mitsprache in der Entwicklung des betreffenden EU-Rechts eingeräumt. Es ist klar, dass Mitbestimmung den Mitgliedstaaten vorbehalten bleiben muss. Aber auch mit Mitsprache können die Interessen der Schweiz wirksamer als heute wahrgenommen werden. Die Power of the Pen kommt auch so zum Tragen. Die Schweiz kann die im Schengener Abkommen gemachten Erfahren auf weitere Bereiche ausdehnen, neue Erfahrungen in der Zusammenarbeit sammeln und die Isolation auf operativer Ebene überwinden. Regelmässige Kontakte sind nicht nur mit der Bundesverwaltung und den Kantonsvertretungen vorgesehen, sondern auch zwischen der Bundesversammlung und dem Europäischen Parlament. Das Bundesgericht wird neu einen regelmässigen Austausch mit dem Europäischen Gerichtshof führen können.

Vorbehalt der Volksrechte
Die Übernahme von Anpassungen des EU Rechts im Rahmen der fünf Abkommen – und vorläufig nur hier – ist dynamisch, aber nicht automatisch. Die EU anerkennt die demokratischen Entscheidungsprozesse in der Schweiz und respektiert insbesondere die Pflicht, Gesetze und allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse in Umsetzung von Richtlinien dem Referendum zu unterstellen, wie das heute schon für Schengen zugesichert ist.

Kein Zwang zur Rechtsübernahme
Vor allem, und das steht über allem: Anders als ein Mitgliedstaat, kann die Schweiz nicht gezwungen werden, EU-Recht zu übernehmen. Der Vertrag respektiert die Souveränität des Landes. Ein Schiedsgericht und der Europäische Gerichtshof können eine Rechtsverletzung feststellen, aber nicht gegen den Willen der Schweiz durchsetzen. Die Innenpolitik der Schweiz hat das nicht verstanden, wenn sie rote Linien setzt und Nachverhandlungen verlangt. Vielmehr ist es so, dass dort, wo sie am eigenen Recht festhalten will – sei es im Lohnschutz, sei es im Armenrecht, sei es künftig bei den Subventionen – die Schweiz allenfalls bezahlbare Ausgleichmassnahmen gewärtigen muss, die aber wiederum der Prüfung der Verhältnismässigkeit durch ein Schiedsgericht unterworfen sind. Die EU verzichtet mit andern Worten auf politische Sanktionen. Die Schweiz kann unter dem Abkommen auch erstmals selbst gerichtlich gegen Vertragsverletzungen in der EU und den Mitgliedsstaaten vorgehen.

Das Rahmenabkommen ist so ein massgeschneidertes Abkommen für die Schweiz, das in gegenseitigem Respekt ausgehandelt wurde. Wer das verneint, verkennt wie stark die EU der Schweiz in diesen Verhandlungen mit Goodwill entgegengekommen ist. Wer das verneint, verkennt die Vorteile, welche es für unser Land mit sich bringen wird. Wer hier noch zusätzliche Konzessionen verlangt, verkennt, dass die schweizerischen Unterhändler geschickt und hart verhandelt haben.

* Emeritierter Professor für Europa- und Wirtschaftsvölkerrecht an der Universität Bern; , Präsident der Vereinigung La Suisse en Europe.

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