Thomas Cottier
15.04.21

Auf Druck von Parteien, Verbänden und Kantonen sucht der Bundesrat in Brüssel heute in Nachverhandlungen des Rahmenabkommens nach Lösungen. Seine Forderungen schliessen die Immunisierung zentraler Bereiche des Abkommens ein. Sie sind zum Scheitern verurteilt, da sie die Funktion des Rahmenabkommens und Kernanliegen der Union missachten.
Der Ansatz der Klärung mit Nachverhandlungen ist nicht zielführend. Er verkennt die Funktionsweise des Rahmenabkommens. Er verkennt, dass die sog. Roten Linien von Parteien, Gewerkschaften, Verbänden und Kantonen in erster Linie innenpolitisch Linien sind, die primär auch innenpolitisch und erst in einem zweiten Schritt mit der Europäischen Union gelöst werden müssen. Eine dritte Verhandlung findet dann erneut innenpolitisch statt. Ein unterzeichnetes und in Kraft gesetztes Rahmenabkommen stellt dazu Verhandlungen und ein neues Streitbeilegungsverfahren zur Verfügung. Die Schweiz behält im Ergebnis die volle Kontrolle über ihre Gesetzgebung, muss dabei allenfalls verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen in Kauf nehmen, die von einem Schiedsgericht beurteilt werden können (eingehend dazu dieser Artikel ).

Das Vorgehen erfolgt in drei Schritten:
1. Mit dem Inkrafttreten des Rahmenabkommens wird die Schweiz die flankierenden Massnahmen für den Lohnschutz (FLAM) und Bund und Kantone die Sozialhilfe anzupassen haben. (Die Frage der kantonalen Subventionen wird sich erst im Rahmen neuer Verhandlungen zum Freihandelsabkommen stellen). Bundesrat, Parlament, Sozialpartner und Kantone werden die erforderlichen gesetzlichen Regelungen ausarbeiten und verabschieden. In diesem innenpolitischen Verhandlungs- und Entscheidungsprozess werden Bundesrat, Parlament und Sozialpartner die Rahmenbedingungen des Rahmenabkommens aber auch ihre definierten Minimalstandards (Rote Linien) einbringen. Das gleiche gilt auch für spätere Dossiers wie Elektrizität, Gesundheit und Freihandel im Waren- und Dienstleistungsverkehr.
2. Stellt sich die EU auf den Standpunkt, dass die verabschiedeten Regelungen dem Rahmenabkommen oder einem unterstellten Vertrag nicht entsprechen, beginnt als zweiter Schritt die Verhandlungen im Rahmen der Gemischten Kommission. Erst hier wird mit Brüssel verhandelt, nicht vorher. Kann keine Lösung gefunden werden, kann die EU Kommission ein Schiedsgericht einsetzen. Das Schiedsgericht prüft die
Kompatibilität der getroffenen Regelung mit dem Rahmenabkommen und den unterstellten Verträgen. Es legt allenfalls Fragen zur Auslegung von übernommenen Begriffen, Richtlinien und Verordnungen der EU dem Europäischen Gerichtshof vor, der sich nicht zum schweizerischen Recht, sondern nur zur Auslegung dieser Instrumente äussern wird.
3. Gewinnt die Schweiz den Streitfall, ist er erledigt. Verliert die Schweiz den Streitfall, wird sie aufgefordert, ihr Recht dem Schiedsspruch anzupassen. Jetzt beginnt die zweite innenpolitische Verhandlung und ein neuer Entscheidungsprozess. Kommt dieser zum Ergebnis, dass das Recht anzupassen ist, ist der Fall erledigt. Wird auf den Roten Linien beharrt, so verzichtet die Schweiz auf die Anpassung in diesen Punkten. Die EU kann nun ihrerseits Ausgleichsmassnahmen ergreifen. Diese Massnahmen unterliegen erneut der Schiedsgerichtsbarkeit. Die Schweiz hat die Möglichkeit, sich gegen die Anordnung von aus ihrer Sicht unverhältnismässigen Ausgleichsmassnahmen zur Wehr zu setzen. Das Schiedsgericht beurteilt diese Massnahmen abschliessend. Verliert die Schweiz, muss sie mit den getroffenen Massnahmen als Ausgleich leben. Gewinnt sie den Fall, muss die EU die Massnahmen zurücknehmen und anpassen.

Das unterzeichnete und in Kraft Rahmenabkommen erlaubt es der Schweiz, ihre Kernanliegen zu wahren. Sie muss gegebenenfalls verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen in Kauf nehmen. Die Schweiz behält mit dem vorliegenden Rahmenabkommen die Hoheit und Souveränität über ihre Gesetzgebung Sie behält aber alle Vorteile aus dem Abkommen, insbesondere die Weiterführung des bilateralen Weges in den für das Land wichtigen Dossiers wie technische Handelshemmnisse, Energie und Klima, Gesundheit, digitale Wirtschaft und Forschung. Es brauch dazu keine Nachverhandlungen und Klärungen.

Das Gespräch mit der Kommission auf höchster Ebene bleibt wichtig, um das das gegenseitige Vertrauen wieder herzustellen. Er kann und soll aus den genannten Gründen aber nicht der Nachverhandlung dienen, welche die Rechtnatur des Rahmenabkommens und die grosse Bedeutung des Streitbeilegungsverfahrens verkennt.

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