Zur Rolle des Schiedsgerichts bei den Bilateralen von Ulrich E. Gut

Die Gegnerschaft einer neuen Vertragsgrundlage für die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) erweckt den Eindruck, die vorgesehene Streitschlichtung laufe faktisch auf eine umfassende Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg hinaus. Das vorgesehene Schiedsgericht sei ein Feigenblatt zur Verharmlosung des Souveränitätsverlusts, der der Schweiz drohe. Was ist davon zu halten?

Aktuelle Diskussionsgrundlage ist Kapitel 10, «Dispute Settlement», des «Common Understanding», das die beiden Verhandlungsparteien Schweiz und EU als Ausgangsbasis der laufenden Verhandlungen über das Vertragspaket «Bilaterale III» veröffentlichten:

«The European Commission and Switzerland share the view that, in the event of difficulty of interpretation or application of the bilateral agreements in the fields related to the internal market in which Switzerland participates, the parties should consult each other in the respective sectoral committees to find a mutually acceptable solution. If a sectoral committee does not manage to find a solution to the abovementioned difficulty, the parties should have the possibility to ask an arbitral tribunal, where both parties are represented, to settle the dispute. Where the dispute raises a question concerning the interpretation or application of a provision referred to in paragraph 8 second sentence, and if the interpretation of that provision is relevant to the settlement of the dispute and necessary to enable the arbitral tribunal to decide on the matter, the arbitral tribunal should refer that question to the Court of Justice of the EU for a ruling that would be binding on the arbitral tribunal. Where the dispute raises a question concerning the interpretation or application of a provision that falls within the scope of an exception from the dynamic alignment obligation set out in paragraph 9 and where such dispute does not involve the interpretation or application of concepts of Union law, the arbitral tribunal should decide the dispute without referring to the Court of Justice of the EU. »

Vorweg ist zu fragen, was im Streitfall geschähe, wenn kein rechtliches Streitschlichtungsverfahren vereinbart und kein Schiedsgericht vorgesehen wäre. Die Auseinandersetzungen würden zwischen politischen Behörden ausgetragen. Käme es zu keiner Einigung und würde eine Streitpartei deshalb Gegenmassnahmen treffen wollen, würde sie diese nach ihrem Gutdünken bestimmen. Wenn die andere Partei diese Gegenmassnahmen als unverhältnismässig betrachten würde, könnte sie vielleicht in bestimmten Fällen bei der Welthandelsorganisation WTO klagen, hätte aber oft kein Gegenmittel, ausser die Auseinandersetzung durch eigene Gegen-Gegenmassnahmen eskalieren zu lassen.
Die Schaffung eines Verfahrens zur rechtlichen Regelung von Streitigkeiten und eines Schiedsgerichts ist deshalb im Interesse beider Parteien, wenn sie dadurch vor unverhältnismässigen Gegenmassnahmen geschützt werden und eine für die bilateralen Beziehungen gefährliche Eskalation verhindert wird.

Unparteiische Rechtsprechung vonnöten

Voraussetzung ist allerdings, dass das Schiedsgericht zu einer unparteiischen Rechtsprechung befähigt wird. Die Gegnerschaft einer neuen Grundlage der bilateralen Verträge erweckt nun den Eindruck, die Streitfälle, die dem Schiedsgericht vorgelegt würden, würden faktisch samt und sonders und definitiv durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg entschieden. Das Schiedsgericht werde dessen Urteile nur noch abnicken können. Der EuGH sei aber eine Behörde der Gegenpartei, mit dem politischen Auftrag, die Integration Europas zu fördern, womit ihm schweizerische EU-Gegner geradezu absprechen, überhaupt ein Gericht zu sein. Was ist davon zu halten?
Paragraph 10 des «Common Understanding» besagt, was dem EuGH zu unterbreiten ist:

Where the dispute raises a question concerning the interpretation or application of a provision referred to in paragraph 8 second sentence, and if the interpretation of that provision is relevant to the settlement of the dispute and necessary to enable the arbitral tribunal to decide on the matter, the arbitral tribunal should refer that question to the Court of Justice of the EU for a ruling that would be binding on the arbitral tribunal.

Wenn der Streit eine Frage der Auslegung von EU-Recht aufwirft, die für die Streitschlichtung relevant ist und deren Beantwortung nötig ist, damit das Schiedsgericht ein Urteil fällen kann, hat das Schiedsgericht diese Frage dem EuGH zu unterbreiten, und dessen Antwort ist für das Schiedsgericht verbindlich.
Sodann legt das Common Understanding dar, was dem, EuGH nicht zu unterbreiten ist:

« Where the dispute raises a question concerning the interpretation or application of a provision that falls within the scope of an exception from the dynamic alignment obligation set out in paragraph 9 and where such dispute does not involve the interpretation or application of concepts of Union law, the arbitral tribunal should decide the dispute without referring to the Court of Justice of the EU. »

Schiedsgericht ist kein Feigenblatt

Weshalb verdient das vorgesehene Schiedsgericht wirklich diese Bezeichnung und wäre kein Feigenblatt?
Erstens, weil nur ein Teil der Fälle, die vor das Schiedsgericht kommen werden, Fragen der Auslegung von EU-Recht aufwerfen werden.
Zweitens, weil auch in den Fällen, in EU-Recht auszulegen ist, dessen Auslegung nur einer von mehreren Faktoren ist, die zur Urteilsfindung des Schiedsgerichts beitragen. Wichtig sind auch die Abklärung eines Sachverhalts, der umstritten sein kann, die Anwendung der ausgelegten Norm auf den konkreten Sachverhalt, allfällige Ermessensentscheide, und schliesslich die Bestimmung angemessener, verhältnismässiger Konsequenzen, wenn eine Vertragsverletzung festgestellt wird.

Bedeutung der Auslegungskompetenz des EuGH

Die Auslegung von EU-Recht durch den EuGH kann in einem Streitfall von grosser Bedeutung sein. Es wäre rechtlich unrichtig und politisch kontraproduktiv, dies zu bestreiten.
Matthias Oesch, Professor für öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht am Institut für Völkerrecht und ausländisches Verfassungsrecht der Universität Zürich, legt in seinem kürzlich erschienenen Buch «Der EuGH und die Schweiz» einerseits dar, dass viele EuGH-Urteile bereits heute in der Schweiz bedeutsam sind. In einem am 21. Januar 2024 erschienenen Interview mit «Unser Recht» sagt er:

«Die Schweiz übernimmt seit Jahrzehnten Urteile des EuGH, sei es auf dem Weg der Rechtsvergleichung und des autonomen Nachvollzugs, sei es bei der Durchführung der bilateralen Abkommen. Unsere Juristinnen und Juristen sind sich gewohnt, Urteile des EuGH zu rezipieren und das schweizerische Recht im Licht der Dikta aus Luxemburg weiterzuentwickeln. Der Schritt, dem EuGH neu eine Rolle bei der Streitbeilegung zuzuordnen, wäre institutionell und rechtskulturell ein beachtlicher – praktisch wären die Folgen aber überschaubar.»

Präzisierung der Zuständigkeit des EuGH

Für die Verhandlungen schlägt Matthias Oesch jedoch einschränkende Präzisierungen der Zuständigkeit des EuGH vor. Auszug aus dem Interview:

«Die neuen Verhandlungen sollten tatsächlich genutzt werden, um das 2014-2018 entwickelte Modell weiter zu perfektionieren. Ein wesentliches Augenmerk sollte darauf gerichtet sein, die Verpflichtung eines Schiedsgerichts zur Anrufung des EuGH möglichst klar zu umreissen. Eine Vorlagepflicht, welche sich einzig um das Vorliegen eines «Begriffs des EU-Rechts» (gemäss Entwurf des institutionellen Abkommens von 2018) oder «eines Konzepts des EU-Rechts» (Common Understanding von 2023) dreht, ist konkretisierungsbedürftig.
Eine Vorlagepflicht scheint klarerweise zu bestehen, wenn es um die Klärung eines unionsrechtlichen Konzepts im EU-Recht geht, und die Einheitlichkeit der Auslegung und Anwendung in der EU gewährleistet sein muss. In dieser Konstellation beruht die Befassung des EuGH auf der unionsrechtlich bedingten, nachvollziehbaren Logik: Es handelt sich um EU-Recht, das zwar auf die Schweiz ausgedehnt wird, seinen genuin unionsrechtlichen Charakter aber nicht verliert. Es bleibt wesensmässig EU-Recht, dessen Auslegung dem EuGH obliegt.
Die Ausgangslage präsentiert sich nach meinem Dafürhalten anders, wenn ein Konzept des EU-Rechts im bilateralen Kontext EU-Schweiz geklärt werden muss. Hier mag einem Schiedsgericht eine durchaus eigenständige Rolle zukommen. Die der Klärung eines Konzepts des EU-Rechts im Binnenmarktkontext nachgelagerte Frage, ob im Verhältnis zur Schweiz auf der Grundlage eines bilateralen Abkommens eine parallele oder eine von der EuGH-Praxis abweichende Auslegung sachgerecht ist, muss dem EuGH nicht vorgelegt werden. Ein Schiedsgericht ist in der Lage, diese «Übersetzungsaufgabe» zu leisten, ohne dass die Einheitlichkeit des EU-Rechts gefährdet würde. Ein Schiedsgericht legt diesfalls – anders formuliert – nicht EU-Recht aus (was zwingend dem EuGH vorbehalten bleibt), sondern wendet die Praxis des EuGH im bilateralen Kontext EU-Schweiz an.
Es ist, wie Sie zu Recht anmerken, unklar, ob der EuGH eine solche Umschreibung der Vorlagepflicht eines Schiedsgerichts akzeptieren würde. Dessen ungeachtet argumentieren gewichtige Stimmen, dass eine dergestalt eigenständige Rolle eines Schiedsgerichts auch auf der Grundlage der Umschreibung der Vorlagepflicht im Entwurf des institutionellen Abkommens von 2018 möglich wäre. Es würde diesfalls an den Schiedsgerichten liegen, eine Praxis zur Vorlagepflicht zu entwickeln – selbstredend unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben in Bezug auf die Autonomie des EU-Rechts und die Zuständigkeit des EuGH zu seiner verbindlichen Auslegung.»
*
Die juristische und politische Beurteilung des Streitschlichtungsverfahrens und insbesondere des Schiedsgerichts wird nicht allein entscheiden, ob das Ergebnis der laufenden Verhandlungen zwischen der EU und der Schweiz in Parlament und beim Volk mehrheitsfähig wird. Aber sie kann sich umso stärker auswirken, je umstrittener andere wichtige Kriterien bleiben, wie vor allem der Nutzen und die Notwendigkeit eines staatsvertraglich gesicherten guten Marktzugangs.

Ulrich E. Gut ist Jurist sowie ehemaliger Politiker (FDP) und Chefredaktor (Zürichsee-Zeitung). Heute arbeitet er als freischaffender Publizist. Der vorliegende Artikel erschien zuerst in seinem Blog PolitReflex.ch.

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