Das Rahmenabkommen ist ein Schutzschild für die Schweiz

In seiner Kolumne vom 1.7.19 (Tagesanzeiger/der Bund) kommt der Ökonom Ruedi Strahm in seiner rechtlichen Analyse zum Rahmenabkommen („Was selbst EU Experten verwirrt“) zum Schluss, dass damit weite Teile der Arbeits- und Wirtschaftspolitik an die EU übertragen werden. Er stützt die Auffassung von Gewerkschaften und Gewerbeverbänden, dass diese Kompetenzen nicht einem „arbeitnehmerkritischen EU-Gerichtshof“ übertragen werden dürfen. Er geht davon aus, dass der Gerichtshof nicht objektiv, sondern ein Parteigericht der EU sei. Diese Auffassung lässt sich mit Blick auf die Rechtsprechung in Fragen des Aussenwirtschaftsrechts nicht halten. Immer wieder hat der Gerichtshof Entscheidungen der Kommission umgestossen und zugunsten von Drittstaaten entschieden; auch der Schweiz, wie juristische Analysen belegen. Vor allem aber verkennt Ruedi Strahm die Rechtslage unter dem geltenden Recht:

Erstens: Die flankierenden Massnahmen der Schweiz zum Lohnschutz stehen auf schwachen Füssen und sind angreifbar. Sie verletzen mit der 8 Tage Regel und der allgemeinen Kautionspflicht das bestehende Freizügigkeitsabkommen. Das Rahmenabkommen garantiert demgegenüber eine 4 Tage Regel und eine beschränkte Kautionspflicht, die über das bestehende Entsenderecht der Union hinausgehen und auch den Gerichtshof binden.

Zweitens: die Unionsbürgerichtlinie ist nicht Teil des heutigen Freizügigkeitsabkommens. Aber der Wechsel vom Heimat- zum Wohnsitzprinzip für Ausgesteuerte ist Teil des Binnenmarktes, dem sich die Schweiz mittelfristig nicht entziehen kann, so wie sich dieses Prinzip schrittweise auch unter den Kantonen durchgesetzt hat. Mit dem Rahmenabkommen hat die Schweiz die Möglichkeit, gewisse Ansprüche abzulehnen oder zu terminieren und stattdessen Ausgleichsmassnahmen in Kauf zu nehmen. Entscheidend ist dass die gerichtliche Beurteilung deren Verhältnismässigkeit der ausschliesslichen Zuständigkeit des paritätischen Schiedsgerichts und nicht dem Europäischen Gerichtshof unterliegt. Heute und ohne Rahmenabkommen entscheidet allein die Macht, wie beim Bankkundengeheimnis und der Aufgabe der Holdingsteuerprivilegien. In beiden Fällen hat die Schweiz durch ihre ablehnende Haltung und Verhandlungsverweigerung keine Gegenleistungen erhalten; die Rechnung  der Unternehmenssteuerreform bezahlen die Jungen mit höheren AHV Beiträgen.

Drittens: die Frage der Subventionen wird sich so oder so stellen. Denn die Schweiz muss ihr Freihandelsabkommen von 1972 in den nächsten Jahren so oder so erneuern. Mit dem Austritt Grossbritanniens aus der EU sind die Tage offener Märkte gezählt. L’Europe qui protège wird auch die Schweiz als Drittstaat immer mehr treffen. Wer keine rechtlichen Garantien hat, wird vor allem im Dienstleistungsbereich auf Schwierigkeiten stossen, die unweigerlich zu Auslagerungen führen müssen.

Das Rahmenabkommen muss im Gesamtkontext gesehen werden. Eine auf die Erhaltung nationaler Kompetenzen beschränkte Sicht bedient ein formales Souveränitätsverständnis, leistet aber der Erosion der Selbstbestimmung im Machtgefüge Vorschub. Das Rahmenabkommen verstärkt demgegenüber die Mitsprache und dient dem Land als rechtlicher Schutzschild gegen übermächtige Forderungen. Seit Jahren hat die Schweiz vergeblich für die Stärkung der gerichtlichen Streitbeilegung mi der EU und ohne Erfolg gekämpft. Es ist ironisch, dass sie heute greifbar nun in der Schweiz so kurzsichtig bekämpft wird. Die Haltung erinnert an die Ablehnung des Flughafenabkommens für Kloten, wo heute Deutschland allein über die Zulassung weiterer Flüge und damit letztlich die Zukunft des Hubs und seiner Jobs entscheidet.

Prof. Thomas Cottier
Präsident der Vereinigung Die Schweiz in Europa