Auf in die Koalition der Willigen! von Daniel Woker

Angesichts von Putin und Trump ist eine Änderung unserer Aussenpolitik geboten. Allein im Einklang mit Europa kann sich die Schweiz behaupten.

Anstatt im Zollstreit mit den USA allein auf eine Sonderbehandlung durch Washington zu setzen, sollte die Schweiz eine selbstbewusste Politik betreiben, auch auf der Basis von eigener Macht. Denn allein dies und nicht vorauseilender Gehorsam ist es, was US-Präsident Donald Trump respektiert.

Genug Macht, um dem amerikanischen Frontalangriff gegen die bisherige westliche Ordnung zu begegnen, hat aber allein Europa als Ganzes. Die EU macht das richtig, sie verhandelt mit Trump über Zölle, ohne zu verhehlen, dass sie auch anders kann, beispielsweise mit Massnahmen gegen US-Dienstleistungsexporte. Die europäischen Nato-Staaten machen das richtig, indem sie bereit sind, Russland mit eigenen Mitteln und ohne aktive Teilnahme der USA die Stirn zu bieten.

Der grösste Feind von Politik und Wirtschaft ist Verunsicherung. Angesichts der globalen Unordnung ist momentan unklar, wie die Schweiz sich besser schützen kann. Und Schweizer Wirtschaftsakteure wissen nicht mehr, wie und wo sie zukünftig investieren und produzieren sollen.

Vorreiterrolle einnehmen

Die Diskussion über die schweizerische Teilnahme im EU-Binnenmarkt hat sich bislang in endlosen Kleinigkeiten verheddert. Einzelne Nato-Staaten haben wir durch Vorbehalte zur Verwendung von schweizerischem Kriegsmaterial gegen den russischen Angriff auf die Ukraine verärgert. Die vom Ständerat kürzlich verabschiedete Liberalisierung von Kriegsmaterialexporten ist ein erster, zaghafter Schritt, dem aber weitere folgen müssen, um im In- und Ausland sichtbar zu machen, dass die Schweiz zu Europa gehört. Und damit die europäischen Sorgen angesichts von Wladimir Putins Aggressionen – ganz zu schweigen von russischen Kriegsverbrechen – teilt und, wie die EU, dem trumpschen Handelskrieg nicht tatenlos zusehen will. Als Sitzstaat der Welthandelsorganisation WTO und traditioneller Champion des Freihandels muss die Schweiz da eine Vorreiterrolle einnehmen. Das mit der EU fertig ausgehandelte Verhandlungspaket der Bilateralen III liegt vor. Darüber kann – wenn wir das nur politisch wollen – möglichst rasch und noch vor den nächsten nationalen Wahlen abgestimmt werden. Ausser bei der nationalistischen Rechten herrscht Einigkeit, dass diese Vorlage dem Souverän mit guter Aussicht auf Annahme vorgelegt werden kann.

Gegen die Isolation

Die von Grossbritannien und Frankreich angestossene «Koalition der Willigen» ist eine von mehreren Anstrengungen der Länder Europas, einem Ausverkauf der Ukraine durch die USA Massnahmen entgegenzusetzen und auf mittlere Sicht eine eigenständige europäische Sicherheitspolitik zu entwickeln. In dieser Koalition machen auch die Neutralen Österreich und Irland mit, ebenso die Nicht-EU-Mitglieder Grossbritannien, Norwegen und sogar Island. Mitmachen bedeutet nicht, direkt Waffen an die Ukraine zu liefern oder der Nato beizutreten. Es bedeutet aber, den Prozess eigenständiger europäischer Sicherheitspolitik zu billigen und dafür auch Leistungen zu erbringen, etwa finanzieller Art.

Die nationalistische Rechte, so die SVP und national-konservative Wirtschaftskreise, haben Volksinitiativen mit verschiedenen Etiketten lanciert, so etwa jene gegen die 10-Millionen-Schweiz und die Kompassinitiative. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie nicht nur jede Annäherung an die EU verhindern, sondern die Schweiz noch stärker von dieser isolieren würden. Eine frühzeitige Annahme der Bilateralen III würde als Signal und völkerrechtliche Verpflichtung diese Obstruktion gegenstandslos machen.

Gehören wir zu Europa? von Daniel Woker

«Wir gehören zu Europa», sagte Aussenminister Ignazio Cassis bei der Präsentation der Bilateralen III am 13. Juni 2025 in Bern. Wirklich? Jetzt sind mehr als Worte fällig.

Die Worte markig, die Richtung klar. Bei der Präsentation der Bilateralen III, dem umfangreichen Verhandlungspaket zwischen der Schweiz und der EU, nahm unser Aussenminister für einmal kein Blatt vor den Mund. Mehr als Worte sind aber notwendig, um im Innern der Schweiz und gegen aussen die europäische Zugehörigkeit der Schweiz unzweideutig erscheinen zu lassen. Und dies hier und heute, weil wir im Moment als europäische Aussenseiter dastehen.

Wirtschaftlicher Aussenseiter

Europa ist heute die EU. Nicht-EU Staaten am östlichen Rand Europas wollen beitreten, wenn sie von dieser akzeptiert werden. Querschläger mit autokratischer Tendenz innerhalb der EU, aktuell Ungarn und die Slowakei, werden einerseits durch innenpolitische Widersacher, andererseits durch Zwangsmittel der EU mittelfristig auf den demokratischen Pfad zurückgebracht. Das Brexit-UK unter Premierminister Keir Starmer strebt ein möglichst enges Nahverhältnis zur EU an. Die EWR-Länder, so insbesondere Norwegen, aber auch unser nächster Nachbar Liechtenstein, geniessen einen Sonderstatus in ihren Beziehungen zur EU.

Nur die Schweiz bleibt aussen vor und muss sich ihren Platz im europäischen Binnenmarkt immer wieder mit dem Flickwerk von bilateralen Lösungen erkämpfen. Im Moment sind dies die Bilateralen III. Sie sind die einzige Chance, unseren derzeitigen Wohlstand – Binnenmarkt, Personenfreizügigkeit, Forschungszusammenarbeit – zu erhalten.

Politischer Aussenseiter

Mit Blick auf die unmittelbare Bedrohung Europas durch Wladimir Putins Russland ist die schweizerische Armee aktuell nicht in der Lage, die Schweiz autonom zu verteidigen. Diese unbefriedigende Lage kann, neben angemessenen Erhöhungen des Armeebudgets, nur durch verstärkte sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit der Nato verbessert werden. Ebenso mit dem sich angesichts der Präsidentschaft von Donald Trump beschleunigt entwickelnden sicherheitspolitischen Arm der EU, der PESCO (Permanent Structured Cooperation). Dass da die Schweiz im Rahmen des Projektes Military Mobility (also Infrastruktur, die im Kriegsfall grenzüberschreitende Bewegung erlaubt) mittut, ist erfreulich, allerdings nur als erster zaghafter Schritt zur Vertiefung der Zusammenarbeit zu werten.

Konkrete Möglichkeiten zur umfassenden sicherheitspolitischen Anbindung der Schweiz bestehen. Eine davon ist die «Koalition der Willigen», der neben den EU-Ländern auch und gerade die EU-Nichtmitglieder Grossbritannien, Norwegen und Island angehören. Sie wurde als Plattform aller europäischen Demokratien geschaffen, um den Beistand an die Ukraine zu koordinieren; ihre Bedeutung geht aber weit darüber hinaus. Die Teilnahme ist Symbol für die Erkenntnis, dass Europas Sicherheit durch Putin unmittelbar und durch die Geringschätzung von Europa durch die Trump-Regierung zumindest mittelfristig bedroht ist. Da hilft auch die traditionelle schweizerische Neutralität nicht weiter.

Und die Neutralität?

Die schweizerische Neutralität ist kein Staatsziel, sondern ein Mittel unter anderen, um das Ziel einer sicheren Schweiz zu erreichen. Bestimmend für die schweizerische Aussenpolitik ist unsere Verpflichtung zur Uno-Charta, die ein Gewaltverbot und die Bestrafung eines Aggressors vorsieht. Damit ist auch gesagt, dass es keine wirtschaftliche Neutralität geben kann. Das in der sogenannten «Neutralitätsinitiative» enthaltene Verbot von Sanktionen ist widersinnig, völkerrechtlich verboten und würde einen Aggressor belohnen.

Angesichts der Uno-Charta gelten die aus dem 19. Jahrhundert stammenden Bestimmungen der Haager Abkommen von 1907 als überholt. Sie werden international nicht mehr anerkannt. In der innerschweizerischen Diskussion ist umstritten, ob sie für die schweizerische Aussenpolitik überhaupt noch gültig sind; sicher nicht im Ukrainekrieg.

Brücke jetzt bauen

Wenn Aussenminister Cassis, und mit ihm der gesamte Bundesrat, wirklich die Zugehörigkeit der Schweiz zu Europa demonstrieren wollen, muss die Brücke der Bilateralen III jetzt nach Brüssel geschlagen werden und nicht erst 2028. Erst dann soll das Volk mit einfachem Mehr über die Bilateralen III entscheiden, entsprechend dem gewohnten Kriechgang der schweizerischen Entscheidungsfindung. Das ist zu langsam. Was kann bis dann in der Welt von Putin, Xi Jinping und Trump nicht alles passieren! Wir müssen uns daran gewöhnen, dass das Weltgeschehen keine Rücksicht nimmt auf helvetische Innenpolitik, hier insbesondere den Unwillen, vor den Parlamentswahlen 2027 über «Europa» auch nur ernsthaft zu diskutieren.

Rechtliche Gründe, sei es in der Bundesverfassung oder beim Vertragspartner EU, bestehen keine, welche eine Vorverschiebung der Abstimmung spätestens bis Anfang 2026 verunmöglichen würden. Wenn das Europäische Parlament, auf Antrag der EU-Kommission voraussichtlich im Frühling 2026 über die Bilateralen III entscheiden wird, so wäre eine volle schweizerische Zustimmung vor diesem Datum ein wichtiger Fingerzeig, dass es die Schweiz diesmal ernst meint in ihrer Partnerschaft mit der EU.

Lehren aus den Verhandlungen Schweiz-EU von Philippe G. Nell

ASE-Vizepräsident Philippe G. Nell untersucht in seinem neuen Buch «Négociations Suisse-Union Européenne: regard critique sur deux grands échecs et nouveaux espoirs» drei wichtige Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU. Zwei dieser Verhandlungen scheiterten, die letzte gibt Anlass zu Hoffnungen. Im Folgenden fasst der Autor das Buch kurz zusammen.

Die im Herzen Europas gelegene Schweiz verfolgt seit Ende der 1950er-Jahre eine aktive Integrationspolitik. In den ersten Phasen war sie sehr erfolgreich, konnte jedoch mit der plötzlichen Beschleunigung nicht Schritt halten, die Ende der 1990er-Jahre durch die Verwirklichung des Binnenmarktes der Europäischen Union (EU) und den Zusammenbruch des Ostblocks ausgelöst wurde. Warum eigentlich?

Wären das Scheitern des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) 1992 und das Scheitern des institutionellen Rahmenabkommens mit der EU im Jahr 2021 vermeidbar gewesen? Welche Rolle spielte der Antrag auf einen EU-Beitritt? Welche Faktoren waren ausschlaggebend? Wer waren die wichtigsten Akteure und aus welchen Gründen? Wie stehen die Aussichten für die Ratifizierung der 2025 abgeschlossenen Abkommen (Bilaterale III) zur Stabilisierung und zum Ausbau der Beziehungen zur EU?

Der Autor vergleicht die Situation des EWR und des institutionellen Rahmenabkommens. Er hebt insbesondere die Fragen der 2025 abgeschlossenen Abkommen zur Stabilisierung und zum Ausbau der Beziehungen zur EU, die institutionellen Fragen, die Ausnahmen von den EU-Regeln und die Rolle der Souveränisten bei der Entstehung einer wachsenden Kluft zur EU hervor. Die Partikularinteressen der Gewerkschaften zeigen auch die Rolle der Machtelite und ihren enormen Einfluss auf das Parlament und die Wirtschaftsverbände. All dies führte 2021 zum Scheitern des institutionellen Rahmenabkommens.

Doch zur allgemeinen Überraschung kam Bundesrat Ignazio Cassis mit einer neuen Strategie zurück, welche die EU überzeugte und kurz vor Weihnachten 2024 von Erfolg gekrönt war. Ein Geniestreich, der diesmal massive Unterstützung aus Wirtschaftskreisen erhielt, die sich in einem Machtkampf mit den Gewerkschaften befanden.

Für die Schweiz eröffnen sich neue Perspektiven. Die Verhandlungsergebnisse der Bilateralen III sind für sie weitgehend günstig. Sie hat fast alle ihre Ziele und dabei wesentliche Verbesserungen gegenüber dem institutionellen Rahmenabkommen erreicht. Im Anschluss daran einigten sich Gewerkschaften und Arbeitgeber am 21. März 2025 auf einen Kompromiss über interne Massnahmen zur Sicherung der Löhne und erfüllten damit eine wesentliche Voraussetzung für die Annahme des Abkommenpakets.

Angesichts eines von allen Seiten unter Druck stehenden Europas hat die EU die Vorteile erkannt, einen in jeder Hinsicht so wichtigen Partner in ihrem Lager zu verankern. Sie hat es verstanden, dort, wo es für den Erfolg notwendig war, über ihre sakrosankte rechtliche Homogenität hinwegzusehen.

Unsere Zukunft liegt eindeutig in Europa. Das Buch richtet sich an alle Bürgerinnen und Bürger und enthält abschliessend dreissig gut illustrierte Verhandlungslektionen, die sich sowohl an Regierungsvertreter als auch an die Wirtschaft richten. Es soll dazu beitragen, die Annahme des Abkommenpakets Bilaterale III durch das Parlament und anschliessend der Bevölkerung in einem Referendum vorzubereiten. Die Integration in die EU hat eine lange Geschichte; sie kann nicht aufhören und muss fortgesetzt werden. Ein Blick auf zwei Misserfolge soll helfen, einen dritten zu vermeiden, der eine gewaltigen Kluft zu Europa öffnen würde.

Über den Autor

Philippe G. Nell ist Absolvent der Universitäten Freiburg (Lizentiat in Wirtschaftswissenschaften), Carleton in Ottawa (Master in Internationalen Beziehungen) und Denver (Master und Ph.D. in Internationalen Studien). Er ist heute Privatdozent an der Universität Freiburg. Seit seinem Eintritt in den Dienst der Eidgenossenschaft im Jahr 1985 hat er seine Karriere der Schweizer Aussenwirtschaftspolitik gewidmet und war direkt an den Verhandlungen über den Europäischen Wirtschaftsraum und die engmaschige Begleitung der darauffolgenden Schritte beteiligt. Er verfügt über umfangreiche Erfahrungen in diesem Bereich, die er 23 Jahre lang an der Universität Basel weitergab und derzeit jedes Jahr an den Universitäten Freiburg und Lausanne als Gastdozent weitergibt. Er ist Ehrenbotschafter und Vizepräsident der Vereinigung «La Suisse en Europe/Die Schweiz in Europa» (ASE).

Philippe G. Nell: Négociations Suisse-Union Européenne: regard critique sur deux grands échecs et nouveaux espoirs. Éditions Slatkine, Genève 2025.

Europa ruft! von Thomas Cottier

«Die Schweiz ist unsere Heimat. Aber die Heimat der Schweiz ist Europa». Diesen Satz hat uns der eben verstorbene Peter von Matt hinterlassen. Er trifft seit langem zu für die Kultur. Die Schweiz ist Teil des europäischen Kulturraumes. Er trifft auch zu für die wirtschaftlichen Beziehungen. Die Schweiz ist Teil des europäischen Binnenmarkts und verdankt diesem ihren Wohlstand zu einem grossen Teil. Für Staat, Recht und Politik ist der Satz indessen Programm. Er macht uns Hoffnung und ist Ansporn zugleich.

Heimat ist, wo wir leben, lieben, wo unser Mittelpunkt ist; wo wir vertraut sind und uns engagieren. Für Staat und Politik sind dies die Gemeinden, die Kantone und der Bund. Europa gehört nicht dazu. Vielmehr versucht die neutrale Schweiz, mit allen gleichermassen im Geschäft und blockfrei zu bleiben. Sie setzt sich in internationalen Organisationen für ihre Interessen und Werte ein als einsame Spielerin auf dem Parkett. Sie hat keine wirklichen Verbündeten, auch in nicht in Europa. Sie ist einsam. An ihren offiziellen Gebäuden flattern am 9. Mai keine Europafahnen, anders als noch im späten 20. Jahrhundert. Das Engagement für Europa ist verblasst.

Bundesrat und Parlament tragen diese verblasste Politik. Noch immer sind die Bilateralen III nicht unterzeichnet und werden auf die lange Bank geschoben. Eine positive Stellungnahme des Bundesrates bleibt aus, während er gleichzeitig mit Autokraten in Washington und Peking verhandelt, in der Hoffnung, auch in Europa möglichst eigenständig und neutral zu bleiben. Die EU wird von der Wirtschaft als bürokratisches Monster verschrien. Dahinter steckt die Ablehnung von Politiken und Erlassen zur Nachhaltigkeit im Klimawandel und den damit verbundenen Verpflichtungen der Privatwirtschaft. Eine Beteiligung an CBAM (Carbon Border Adjustment) wird abgelehnt, ebenso wie klimapolitische Handlungspflichten im Rahmen der Europäischen Menschenrechtkonvention. In der Unterstützung der Ukraine, also dort wo heute die Freiheit verteidigt wird, steht sie am Schluss der Rangliste. Den Autokraten in Washington verkauft man all dies als Attribute schweizerischer Eigenart.

Diese Grundhaltung war solange möglich, solange die Pax Americana der letzten 80 Jahre trug und auf einer demokratischen, transatlantischen Allianz zwischen den USA und der EU und ihren Mitgliedstaaten basierte. Sie bot der Schweiz eine Plattform, in den internationalen Beziehungen selbständig zu navigieren. Diese Allianz besteht nicht mehr. Die Schweiz muss sich entscheiden und darauf besinnen, dass auch ihre politische Heimat klar in Europa liegt. Sie muss das Vermächtnis von Peter von Matt ernst und an die Hand nehmen.

Vordringlich ist der Handlungsbedarf in der Sicherheitspolitik. Es ist unbestritten, dass sich die Schweiz allein nicht verteidigen kann. Sie kann, mit anderen Worten, den zentralen Verfassungsauftrag nicht mehr im herkömmlichen Alleingang sicherstellen. Ihre Neutralität wird von unseren Nachbarn als Trittbrettfahren (Freeriding) verstanden und hat – im Unterschied zum 19. Jahrhundert – keine Legitimität und Glaubwürdigkeit mehr. Sie hat, mit anderen Worten auch keine tragfähige Schutzfunktion mehr. Die Fiktion der Selbständigkeit führt dazu, dass die Schweiz zunehmend europäisches Recht übernimmt, zu dessen Entstehung sie zumeist keine Mitsprache, geschweige denn Mitbestimmung ausübt. Auch hier kann sie im Alleingang grundlegende Werte der Verfassung demokratischer Willensbildung im Diskurs nicht mehr allein sicherstellen. Die direkte Demokratie ist dagegen kein Bollwerk. Kulturelle und wirtschaftliche Integration in Europa, gepaart mit politischer Abstinenz genügen nicht mehr.

Will die Schweiz ihre Würde, ihre demokratischen und liberalen Werte und damit auch unsere Selbstachtung erhalten, muss sie sich in Europa aktiv einbringen. Dazu gehört kurzfristig ein Engagement in der europäischen Sicherheitsarchitektur, die im heute im Entstehen ist. Dazu gehört ein aktives Engagement in der Europäischen Union, über die Bilateralen III hinaus. Die Frage der Migration kann nur gemeinsam gelöst werden. So wird Europa auch politisch zur Heimat. Mit Jon Pult gilt es, den Patriotismus über die Landesgrenzen hinaus zu tragen und zu erweitern. Er ist nicht ein Vorrecht national-konservativer Kreise, sondern kann und muss ebenso von der fortschrittlichen, offenen, liberalen und sozialen Schweiz beansprucht werden. Sie liebt unser Land ebenso und hängt an ihrer Heimat. Das Rütli gehört uns allen.

Unsere Nachbarn und die EU sind interessiert an einem stärkeren Engagement der Schweiz in der grundlegenden Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Autokratie, welche das europäische Projekt heute mehr als zuvor gefährdet. Sie sind auf die Unterstützung Grossbritannien und aller EFTA-Staaten angewiesen in der Verteidigung der Demokratie. Es gilt heute, den demokratischen Westen in Europa zu stärken. Die Schweiz kann hier mit ihrer Wirtschaft und Finanzmacht, ihrer Rechtstaatlichkeit ihrer Wissenschaft und vor allem ihrer eigenen politischen Kultur des demokratischen Diskurses und des kooperativen Föderalismus wesentlich beitragen. Ihre Politikerinnen und ihre Diplomatie können konstruktive Vorschläge einbringen. In welcher Form dies geschieht, ist zweitrangig. Ob der beste Weg über einen Beitritt zur EU und NATO führt, oder über eine variable Geometrie ist im heutigen Zeitpunkt nicht massgebend. Entscheidend ist der Wille zum Engagement. Die Frage ist in Anlehnung an John F. Kennedy nicht, was Europa für uns tut, sondern was wir Europa tun können.

Politik ist immer bestimmt durch Eigeninteressen. Das gilt auch in Europa, wo Nationalstaaten weiterhin dominieren. Der springende Punkt ist, dass die Interessen der Schweiz, ihrer Nachbarn und der Europäischen Union heute gleichgerichtet sind. Sie basieren auf den gleichen Werten, die es heute in der Welt nach dem Zusammenbruch der Pax Americana zu verteidigen gilt. Europa ist die politische Heimat der Schweiz. Es gilt, beiden zugleich Sorge zu tragen. Hissen wir am 9. Mai die Europafahne. Das ist ein Anfang und eine Hommage an Peter von Matt.

Dieses Paper erschien als Gastbeitrag bei Operation Libero.

US-Zollpolitik: nicht verhandeln, sondern WTO einschalten von Thomas Cottier

Die Zollpolitik der Trump Administration verletzt Zollbindungen der USA in der WTO. Die exorbitanten «reziproken» Zölle verstossen sodann gegen das Prinzip der Meistbegünstigung. Gestützt auf die Rechtslage muss auf einen raschen deal mit den USA verzichtet werden, argumentiert Thomas Cottier, Präsident der ASE und ehemaliger Direktor des World Trade Institute. Vielmehr sind die in der WTO vorgesehenen Verfahren der Streitbeilegung mit einer breiten Allianz gleichgesinnter WTO-Mitglieder aufzunehmen. In der Schweiz muss das Bundesgesetz über aussenwirtschaftliche Massnahmen zum Erlass von Ausgleichsmassnahmen angepasst werden. Sodann empfiehlt es sich, ein Beihilfeprogramm zur Abfederung exorbitanter Zölle zu schaffen und Investitionen in den USA auf den Mid-West auszurichten.

Das Paper von Thomas Cottier lesen (PDF)

Schweiz-Europa Wo wir bereits abgehängt sind von Daniel Woker

Unter dem Trump-Tsunami verändert sich Europa schnell. Die Schweiz verpasst den Anschluss in wichtigen Bereichen. Die Sicherheitspolitik und deren Basis in der Wirtschaft Europas schwenkt von euro-atlantischer zu euro-zentrischer Ausrichtung. Wie Trump zeigt, sind die Risiken der bisherigen engen Verbundenheit mit den USA zu gross.

Diesem grossen Bild schenkt die Schweiz kaum Beachtung. Stattdessen werden die Bilateralen III, ein für unsere Wirtschaft überlebenswichtiger und damit dringend notwendiger Vertrag zur Fortführung der Integration der Schweiz in den europäischen Binnemarkt bereits in kleinste Einzelteile zerlegt, um die mit Inbrunst und noch Jahre intern gestritten werden wird. Wegen einem überholten Neutralitätsdogma und der Schuldenbremse verpasst unterdessen die schweizerische Rüstungsindustrie den internationalen Anschluss. Dies droht damit auch wichtigen Teilen unserer Industrie, welche Präzisionsprodukte mit sogenannter «DualUse» – sowohl zivile als auch militärische Verwendung möglich –herstellt.

Paneuropäische Verteidigung

Unter Führung der EU wird eine pan-europäische Verteidigung gebaut. Frankreich fühlt sich bestätigt und geht vor. Das Brexit-Grossbritannien und im Schlepptau das Nicht-EU-Mitglied Norwegen ziehen mit, weil sie nicht abgehängt werden wollen. In Deutschland hat sich dieser Wandel, getrieben durch den zukünftigen Kanzler Merz stark beschleunigt, wenn auch die Putin-Freunde auf der extremen Linken ebenso wie ihr rechtsextremes Pendant AfD zu blockieren versuchen. Die Nord- und Ost-EU muss nicht überzeugt werden, dass die Abwehr gegen Russland nötig ist und die EU-Länder im Süden und Westen unseres Kontinents werden mitziehen. Denn auch in Italien und Spanien wollen grosse Rüstungsunternehmen an diesem Jahrzehnt-Projekt teilnehmen.

Die EU ist seit dem Zweiten Weltkrieg und nach dem frühen Misserfolg einer europäischen Verteidigungsunion dem Weg zur primär wirtschaftlichen, aber nicht sicherheitspolitischen Einigung gefolgt. Dies könnte eine Fortsetzung zwar koordinierter, aber einzelstaatlich geführter Verteidigung vermuten lassen. Dem stehen heute zwei gewichtige Tatsachen entgegen. Einmal wird der amerikanische Teil der Nato, eingeschlossen der Nuklearschirm, wie er Westeuropa während des Kalten Krieges beschützt hat, durch Trump relativiert. Was zwangsläufig zur Frage führt, ob und wie die französische «Force de Frappe» europaweit geteilt oder gar mit ihrem britischen Pendant zusammengeführt werden sollte.

Zum Zweiten hat sich die EU mit zentraler Exekutivgewalt in verschiedenen Bereichen, gestützt durch ein demokratisch gewähltes Parlament, bereits so weit entwickelt, dass der Übergang zu einer auch sicherheitspolitischen Union heute nicht mehr am Souveränitätsanspruch der traditionellen Staaten Europas scheitern muss.

Beispielsweise steht konkret bereits ein Zusammenschluss verschiedener nationaler Rüstungsfirmen bevor, oder zumindest von Teilen davon, so die Raumfahrttechnik von Leonardo (Italien), Thales (Frankreich) und Airbus (Europa).

Copernicus

Genau in diesem Bereich sind schweizerische Betriebe hochkompetent. Ihr Einbezug in europäische Grossprojekte steht aber nicht zur Diskussion. Ein Beispiel stellt ein neues, nicht mehr von den USA abhängiges, satellitengestütztes Aufklärungssystem dar, welches vom EU-Kommissar für Verteidigung und Raumfahrt Andrius Kubilius kürzlich den Medien vorgestellt worden ist. Dabei sagte er wörtlich, dass Norwegen und «hoffentlich auch Grossbritannien» – im Rahmen eines noch unfertigen umfassenden Abkommens – beteiligt würden. Das neue System soll das europäische Erdbeobachtungssystem«Copernicus» beträchtlich erweitern und ergänzen. Dasselbe System Copernicus, das bislang primär zur Wetterbeobachtung und weiteren zivilen Verwendungen gedient hat und damit zum Paradebeispiel wird für den erwähnten «Dual Use».

Schuldenbremse auch hier

Vor einem Jahr hat der Bundesrat beschlossen, dass die Schweiz aus Finanzgründen Copernicus «einstweilen nicht beitreten wolle». Hochlebe die spezifisch helvetische Schuldenbremse, deren Anwendung Investitionen in die Zukunft verhindert. Dafür werden hierzulande die bereits europaweit tiefsten Staatsschulden abgebaut, als wäre die Schweiz ein Privathaushalt und nicht ein Staatswesen, das routinemässig Anleihen zur Finanzierung von Investitionen aufnimmt. Wie das auch jedes private Unternehmen mit der Ausgabe von Wertpapieren oder via Bankkrediten tut.

Traditionelle Neutralität und der Ukrainekrieg

Seit der Übernahme der EU-Sanktionen gegen Putins Russland im Mai 2022 ist die offizielle Schweiz in kleinen Schritten wieder von dieser offensichtlich nicht ehrlich gemeinten Abkehr von der Neutralität klassischen Zuschnitts zurückgewichen. Die Beispiele reichen über eine weite Palette von Bereichen, wo die Schweiz – als demokratischen und menschenrechtlichen Normen verpflichteter Rechtsstaat – sich mit Hinweis auf «Neutralität» vor ihrer entsprechenden Verantwortung gedrückt hat. So etwa bei Bewilligungen zum freien Entscheid anderer Staaten über die Verwendung von längst aus schweizerischer Produktion geliefertem Kriegsmaterial bis hin zum schnellen und gründlichen Einfrieren von Guthaben des russischen Staates und von Vermögenswerten sanktionierter russischer Staatsangehörigen.

Die Kritik daran aus dem Ausland, ebenso wie die Absetzbewegung potenzieller Käufer von schweizerischem Rüstungsmaterial sind die logischen Folgen. So wie dies von Seiten autoritärer Staaten bei ausländischen Vorhaltungen gang und gäbe ist, hat sich die SVP lautstark über solche «Einmischung in interne Angelegenheiten»empört. Beispielsweise gegenüber einer massvollen Kritik des deutschen Botschafters. Ausgerechnet die SVP, welche sich einerseits als einzige wirkliche Verteidigerin des Heimatlandes darstellt, aber genau dies verhindert mit der von ihr vorbehaltlos unterstützen Neutralitätsinitiative. Welche wegen fehlenden Exporterlösen mit zum Niedergang der gerade in SVP-Stammlanden tief verwurzelten Rüstungsindustrie führen wird.

Dies zu korrigieren ist für die Zukunft der Schweiz wichtiger als die Kontroverse um den zukünftigen Standort der einzig in der Schweiz verbliebenen Grossbank.

Artikel erschienen im Journal21.ch

Coming_soon

2025: Die USA, die EU und die Schweiz von Thomas Cottier

Die politischen Umwälzungen in den USA sind nicht nur von grosser Bedeutung für die EU, sondern auch für die Schweiz, ihre Handelspolitik und die Neutralität. Der Beitrag von ASE-Präsident Thomas Cottier schlägt einen European Defence Treaty vor, an dem sich auch die Schweiz zur Verteidigung der Demokratie anschliessen muss. Die Tage der immerwährenden Neutralität sind mit der zweiten Zeitenwende gezählt.

Hier, geht es zum Beitrag von Thomas Cottier (PDF).

Coming_soon

Schweiz – EU: 10 Klarstellungen von Philippe Nell

Die Verhandlungen über ein neues und drittes Paket bilateraler Abkommen zwischen der Schweiz und der EU wurden im Dezember letzten Jahres  abgeschlossen. Seitdem greifen die Gegner – insbesondere die nationalistische und konservative Schweizerische Volkspartei (SVP) – das Paket mit meist demagogischen und falschen Behauptungen an. ASE-Vizepräsident Philippe Nell widerlegt die zehn wichtigsten Behauptungen der Gegner der Bilateralen III in einem kurzen Argumentarium. Sein Ziel: Die Diskussion über das Abkommenspaket auf eine sachliche Ebene zu bringen.

Klicken Sie hier, um zu den Klarstellungen zu gelangen.

Europäisches Vademecum von Maurice Wagner

Seit die Schweiz ihr bilaterales Verhältnis zur EU stabilisieren und weiterentwickeln will, ist in Schweizer Medien und Öffentlichkeit auch viel vom Vertragspartner Europäische Union die Rede. Dabei zirkulieren manche Halb- und Unwahrheiten. Maurice Wagner hat sich deshalb die Mühe gemacht, die wichtigsten Fakten zur EU, ihren Institutionen und ihrem Funktionieren in einem Vademecum (in englisch) zusammenzutragen. Möge es der Versachlichung der Diskussion über die EU in der Schweiz dienen.

Hier geht es zum Vademecum (PDF, in englisch).

Bauern und Europa-Blinde von Daniel Woker

Bald könnte die schweizerische Regierung fünf Vertreter mit Landwirtschaftshintergrund, aber offensichtlich nur einen klarsehenden Europäer aufweisen. Bauernstaat Schweiz, freischwebend als Neutrum im Weltall?

 

Abgesehen von den SVP-Bundesräten Guy Parmelin und Albert Rösti haftet auch die beiden SP-Regierungsmitglieder ein Hauch von Stallgeruch an: Beat Jans in seiner Ausbildung, Elisabeth Baume-Schneider als Halterin von Schwarznasen-Schafen, was ihr, Berichten gemäss, entscheidende bäuerliche Stimmen beim Sieg über Konkurrentin Eva Herzog eingebracht habe. Bauernpräsident Markus Ritter befinde sich, so Insider aus dem Bundeshaus, heute auf geradem Weg in die Landesregierung.

Einem Interview mit der Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter ist zu entnehmen, wie wenig ihr die europäische Verankerung der Schweiz bedeutet. Bislang scheint nur Jans bereit, Herzblut für die letzte Brücke der Schweiz zum EU-Europa, die erfolgreich ausgehandelten Bilateralen III, zu vergiessen.

 

Goldene Zeiten für Agrarsubventionen

Ritter findet, dass Bauern, im Gegensatz zu Juristen, doch den ganzen Tag und jeden Tag aktiv tätig seien. Dies, wie er noch vor kurzem mit Zipfelmütze auf erhobenem Haupt verkündete, zu sehr geringem Lohn. Damit wird klar, dass künftig Agrarsubventionen im Bundesrat von Beginn weg auf drei Stimmen zählen können, Schuldenbremse hin oder her.

Dies in einem Land mit einem tiefen einstelligen Prozentsatz der arbeitenden Bevölkerung in der Landwirtschaft, das aber für seinen Wohlstand geradezu verzweifelt auf intakte internationale Kontakte angewiesen ist – etwa mit Blick auf Handelsaustausch und qualifizierte Arbeitskräfte, ebenso wie im Tourismus sowie in Forschung und Ausbildung.

Immerhin dürfte die Wahl von Ritter das von schweizerischen Europagegnern als Alternative zum EU-Binnenmarkt angepriesene Freihandelsabkommen mit den USA weiter in die Ferne rücken. Ein solches ist, wenn überhaupt, nur zum Preis von höheren amerikanischen Lebensmittelimporten erhältlich. Was gerade in einem Bauernstaat Schweiz unmöglich erscheint. Dessen parlamentarische Hauptvertretung traf sich am vergangenen Wochenende in Balsthal.

 

Die SVP trump(ft) in Balsthal auf

Vom Altmeister der Europhobie und EU-Verteufelung, Alt- Bundesrat Christoph Blocher, war anlässlich der SVP-Delegiertenversammlung nichts anderes zu erwarten als die alte Lügen-Leier vom Kolonialvertrag, die er einmal mehr vortrug. Bekanntlich versuchen nacheifernde Epigonen – wie etwa Vizepräsident James David «JD» Vance in den USA oder auch Ex-Präsident Dimitri Medwedew in Russland – jeweils den grossen Führer an Radikalität noch zu übertrumpfen. So in Balsthal Nationalrat Marcel Dettling, als Präsident der SVP einer der Nachfolger von Blocher, der als Politclown auftrat, ausgerüstet mit Hellebarde, Peitsche und Gesslerhut-Vergleich, um die Emotionen gegen Brüssel im Volk weiter anzuheizen.

Ausgerechnet Gessler, ein Tribun der Habsburger, welche ursprünglich Schweizer waren, dann Österreicher in einem Land, in dem im Moment ein rechter und rabiater Europagegner die Macht zu übernehmen droht. Allerdings dürfte es sich lediglich um eine Frage der Zeit handeln bis Alt-SVP-Nationalrat Roger Köppel, schweizerisches Vorstandsmitglied in der Internationale der Rechten Reaktion, auch der schweizerischen Anti-EU Kampagne mit einem Kick(l) weiter Schwung zu geben versucht.

Das ganze unwürdige Schauspiel in Balsthal – ein direkter Affront gegenüber unseren europäischen Partnerländern, welche alle die angeblich die Peitsche schwingende EU verkörpern – kam von Seiten der wählerstärksten Partei der Schweiz. Die mit zwei Vertretern in der Landesregierung sitzt, welche bislang weder ein abschließendes Urteil über den erfolgreich ausgehandelten Vertrag der Bilateralen III, noch über die Art der Verabschiedung – einfaches Volksmehr oder doppeltes Mehr von Volk und Ständen – gefällt hat.

 

Die Bundespräsidentin bleibt ambivalent

In einem grossen Interview in allen Tamedia-Medien hat es Bundespräsidentin Keller-Sutter unterlassen, genau hier Klartext zu sprechen. Sie erwähnt lediglich die letzte Entscheidung über die Bilateralen III durch das Volk, ohne zu präzisieren, dass Gesetz und Praxis klar sind: ein einfaches Volksmehr genügt.

Auch anderes, was sie im Interview sagt oder eben gerade nicht sagt, lässt aufhorchen. Mit Präsident Wolodimir Selenski habe sie am WEF in Davos über die Möglichkeit der neutralen Schweiz als Begegnungs- oder gar Verhandlungsort eines Friedens zwischen der Ukraine und Russland gesprochen. Kein Wort zum auf Seiten Europas und – zumindest bis zur Präsidentschaft von Donald Trump – des ganzen Westens bislang geforderten «gerechten Frieden». Ein Friede, der den ruchlosen Aggressor Wladimir Putin nicht noch belohnt und ihm damit Appetit für weitere Vorstösse nach Westen macht. Als wäre die Schweiz, jedenfalls eine klare Mehrheit aller Schweizerinnen und Schweizer, nicht ebenso empört und betroffen wie andere Europäer angesichts des russischen Revisionismus.

Die Bilateralen III habe die Schweiz «für die Wirtschaft» ausgehandelt, so Keller-Sutter weiter. Dafür «Begeisterung zu zeigen», sei nicht die Aufgabe des Bundesrates. Allenfalls sollten ihr Nachhilfestunden in zeitgenössischer Schweizer Geschichte gegeben werden: Aussenpolitische Vorlagen wie die Bilateralen III müssen von unseren Regierungsmitgliedern mit Herzblut in allen Teilen der Schweiz vertreten werden, so von Keller-Sutter ganz speziell im eher konservativ und bäuerlich geprägten Osten. Wie dies Beat Jans im nördlichen Grenzkanton Basel tun wird. Sonst haben sie keine Chance beim Stimmvolk.

Und nein, die Bilateralen III will und braucht die Schweiz nicht «nur» wegen der Wirtschaft, sondern ebenso wegen ihrer politischen und emotionalen Brückenfunktion mit unserem Heimatkontinent Europa. Oder wie das Schriftsteller Peter von Matt glasklar ausgedrückt hat:  «Unsere Heimat ist die Schweiz, aber die Heimat der Schweiz ist Europa».