Calmez-vous: Die Schweiz hat ihre Schutzklausel in den Bilateralen III von Thomas Cottier

Die bilateralen Verträge belassen der Schweiz gesamthaft gesehen einen hinreichenden Spielraum für die Gestaltung und Steuerung der Migration, schreibt ASE-Präsident Thomas Cottier im nachfolgenden Aufsatz zur umstrittenen Frage der Notwendigkeit einer einseitigen Schutzklausel. Mit den Bilateralen III und dem neuen Streitbeilegungsverfahren resultiert im Ergebnis die Möglichkeit, vorübergehend einseitige Massnahmen unter Inkaufnahme von verhältnismässigen Ausgleichsmassnahmen zu treffen. Die Rechtslage unterscheidet sich im praktischen Ergebnis nicht vom EWR-Vertrag.

 

Hier geht es zum Aufsatz von Thomas Cottier (PDF) 

 

 

Skeptisch zur EU, aber klar für die Bilateralen von Martin Gollmer

Das jahre-, ja jahrzehntelange Schlechtreden zeigt Wirkung: Die EU weckt bei vielen Schweizerinnen und Schweizern negative Gefühle. Trotzdem unterstützt eine deutliche Mehrheit des Stimmvolks die laufenden Verhandlungen über die Bilateralen III zwischen der Schweiz und der EU. Das zeigt eine neue Umfrage von gfs.bern in Auftrag der SRG.

«Die EU ist ein ‘bürokratischer Moloch’»: So lautete jüngst der Titel über einem Artikel im Tages-Anzeiger (Ausgabe vom 26.10.24). Was nachher folgte, war aber nicht eine eingehende journalistische Auseinandersetzung mit dem angeblichen bürokratischen Moloch Europäische Union, sondern die Beschreibung der Resultate einer Umfrage von gfs.bern im Auftrag der SRG zur Sicht der Schweizer Stimmberechtigten auf die EU und die bilateralen Verträge mit dieser. Was in der Umfrage viele Schweizerinnen und Schweizer behaupten, wird vom Tages-Anzeiger ungeprüft und unkommentiert nicht als Gefühl und Vorurteil in der Bevölkerung, sondern einfach als Tatsache dargestellt. Dabei beschäftigt die EU weniger Mitarbeiter als der Kanton und die Stadt Zürich zusammen.

So geschieht es immer wieder in den Schweizer Medien: Faktenwidrige Behauptungen, die hauptsächlich EU-feindliche Kreise wie SVP-Vertreter um Einflüsterer Christoph Blocher sowie neuerdings auch ein Klub von Milliardären und Prominenten namens Kompass/Europa um Alfred Gantner und Kurt Aeschbacher aufstellen, werden meist unbesehen übernommen. Ein Faktencheck findet praktisch nie statt.

Das angebliche Brüsseler Beamtenmonster bemühte auch die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) in ihrer Berichterstattung. «Der ‘Bürokratiemoloch’ weckt unterschiedliche Gefühle» hiess der Titel über ihrem Artikel zur Umfrage von gfs.bern (Ausgabe vom 26.10.24). Immerhin macht die Überschrift klar, dass nachher die Resultate einer Meinungsumfrage folgen und nicht ein Text über den Bürokratiemoloch an sich. Und immerhin hat sich die NZZ kürzlich in einem Artikel eingehend mit dem Funktionieren des Brüsseler EU-Apparats auseinandergesetzt («Mit dem Bürokratiemonster leben lernen», NZZ vom 7.10.24).

Man hört die SVP reden

Das jahre-, ja jahrzehntelange EU-Bashing und die schlechte Presse, die die EU in der Schweiz hat, spiegeln sich in der Umfrage von gfs.bern. 49 Prozent der Stimmberichtigten gab an, dass sie «negative» Gefühle gegenüber der Europäischen Union hätten. «Positive» Gefühle machte nur eine Minderheit von 28 Prozent der Befragten geltend.

Negative Gefühle sind dabei gemäss Umfrage mit dem Verlust von nationaler Souveränität, die mit einer Anbindung an die EU einhergehen soll, mit der Bürokratie in der EU und den als undemokratisch empfundenen EU-Entscheidungsprozessen verbunden. Genau das sind Meinungen zur Europäischen Union, wie sie die SVP und ihr nahestehende nationalkonservative Kreise seit langem mantramässig und meist unwidersprochen wiederholen. Und weil viele Schweizerinnen und Schweizer nur wenig Eigenwissen über die EU sowie kaum direkte persönliche Erfahrungen mit der EU und ihren Institutionen haben, fallen diese Behauptungen von SVP und Co. bei ihnen leicht auf fruchtbaren Boden. Bei Licht besehen widerspiegeln sie die eigene Unsicherheit und Ängste vor dem angeblichen Verlust nationaler Identität und von direkt-demokratischen Mitwirkungsrechten.

Positive Ansichten verweisen dagegen auf die EU als Friedens- und Wohlstandsprojekt, die wirtschaftlichen Vorteile einer Beteiligung an der EU sowie den Vorteilen, die die Einbindung in eine grössere Gemeinschaft mit sich bringt.

Pragmatisches Verhältnis zur EU

Die EU mag bei den Schweizerinnen und Schweizern ein negatives Image haben, aber die bilateralen Verträge mit ihr stufen hohe 80 Prozent als wichtig für die Schweiz ein. Aber nur noch 54 Prozent meinen, diese Verträge brächten der Schweiz Vorteile. Positiv zu Buche schlagen dabei vor allem der hindernisfreie Zugang zu einem Teil des EU-Binnenmarkts, dem klar wichtigsten Exportmarkt für die Schweizer Wirtschaft, sowie die Möglichkeit, den Fachkräftemangel in der Schweiz zu lindern. Als negativ bezeichnet wird dagegen die verstärkte Zuwanderung in die Schweiz, die für Lohndruck sorge, die Miet- und Immobilienpreise steigen lasse sowie die Sozialwerke belaste.

Und obwohl die SVP und Kompass/Europa an den laufenden Gesprächen zwischen Bern und Brüssel über ein neues, drittes bilaterales Vertragspaket, den Bilateralen III, kein gutes Haar lassen, befürworten deutliche 71 Prozent der Stimmberechtigten diese Verhandlungen. Deren Dringlichkeit wird allerdings von den Befragten stark unterschiedlich beurteilt: 54 Prozent bezeichnen sie als dringend, 43 Prozent als nicht dringend. Diese klaren Zustimmungswerte zu den Bilateralen und zu den gegenwärtigen Verhandlungen bestätigen die Ergebnisse früherer Umfragen.

Fazit: Viele Schweizerinnen und Schweizer lieben die EU zwar nicht, aber sie finden diese so wichtig, dass sie geregelte Beziehungen der Schweiz zu ihr grossmehrheitlich gutheissen. In dieser Haltung spiegelt sich damit ein pragmatisches Verhältnis der Schweizerinnen und Schweizer zur EU. Darin zeigt sich aber auch eine starke Unterstützung des bilateralen Weges und damit der anstehenden Bilateralen III.

Die Umfrage von gfs.bern erfolgte zum richtigen Zeitpunkt. Bundesrat und Parlament wird es nicht mehr möglich sein, das demnächst fertig ausgehandelte Paket mit der fadenscheinigen Begründung zurückweisen, dass es vor dem Volk keine Chance habe. Das war schon beim institutionellen Rahmenabkommen auf Grund damaliger Umfragen unrichtig und gilt heute umso mehr.

NATO: Der Kommunikation müssen Taten folgen von Thomas Cottier  

Mit den Auswirkungen von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine und des Beitritts von Finnland und Schweden zur NATO auf die Kommunikation des Nordatlantischen Verteidigungsbündnisses befasste sich in Bern eine Veranstaltung mit der ehemaligen NATO-Mediensprecherin Oana Lungescu. In der Diskussion kam auch die neutralitätsbedingt zurückhaltende Rolle der Schweiz im Ukrainekrieg zur Sprache.

«Communicating in Dangerous Times: NATO from Russia’s Aggression to Welcoming Finland and Sweden»: Unter diesem Titel referierte am 24. Oktober 2024 Oana Lungescu, Mediensprecherin der NATO von 2010-2023 und heute distinguished fellow am Royal United Services Institute London (RUSI). Eingeladen ins World Trade Institute (WTI) in Bern hatten die Tschechische Botschaft in der Schweiz (als hiesige Koordinatorin der NATO-Staaten) und die Vereinigung La Suisse en Europe (ASE). Die Referentin ging in ihren Ausführungen auf drei Punkte ein: den starken Wandel der NATO in den letzten zehn Jahren, den Beitritt von Finnland und Schweden und die Auswirkungen auf die Kommunikation. Die Diskussion befasste sich kritisch mit der Zurückhaltung des Westens und der Haltung und Rolle der Schweiz im Ukrainekrieg.

Bemühte sich die NATO nach dem Zerfall der Sowjetunion ab 1991 um eine Annäherung und Einbindung Russlands, so verhärtete sich das Klima mit der Besetzung der Krim 2014. Die Madrider NATO-Gipfel von 2022 bezeichnete Russland offen als grosse Gefahr und richtete die Allianz von der kollektiven Verteidigung auf die kollektive Abschreckung aus. Heute bestehen acht operative Battle Groups, und mit dem Beitritt Finnlands und Schweden kommt eine neunte Gruppe dazu. Die Militärausgaben steigen schrittweise auf 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP); in Polen als Frontstaat betragen sie heute bereits 4 Prozent. Die Zusammenarbeit mit Australien, Neuseeland, Südkorea und Japan wird verstärkt, als Antwort auf die zunehmende Kooperation zwischen Russland, China, Iran und Nordkorea. 90 Prozent der verbauten elektronischen Komponenten in der russischen Rüstungsindustrie stammen aus China. Im Krieg gegen die Ukraine liefert Iran Dronen. Nordkorea liefert Munition, Kurzstreckenraketen und stellt jüngst 3000 Soldaten als weitere Eskalation zur Verfügung. Russland unterstützt im Gegenzug Irans und Nordkoreas Nuklear- und Raketenprogramme. Die westlichen Demokratien und ihre Öffentlichkeit haben die damit verbundene Gefahr noch zu wenig erkannt. Sie müssen stärker zusammenrücken und in Europa die Zusammenarbeit zwischen EU und NATO weiter stärken.

Was Russlands Krieg gegen die Ukraine bewirkte   

Der Beitritt zur NATO von Finnland am 4. April 2023 und von Schweden am 7. März 2024 und deren Abkehr von der Neutralität war das direkte Ergebnis von Russlands Krieg in der Ukraine. Beide Länder waren aber bereits vorher langfristige und enge Partner der NATO.  Die gemeinsame Grenze der NATO mit Russland wird verdoppelt und die europäische Verteidigung wesentlich gestärkt. Russland hat mit seinem Angriff auf die Ukraine das Gegenteil seiner Absichten erreicht.

Angesichts der hybriden Kriegsführung durch gezielte Desinformation ist für Oana Lungescu eine proaktive und faktenbasierte Kommunikation von zentraler Bedeutung. Man muss auch klar sagen, welchen Frieden man will. Der Kommunikation müssen Taten folgen, sonst verliert sich die Glaubwürdigkeit auch faktengestützter Kommunikation. Der Winter 2024/25 wird nicht nur für die Ukraine, sondern für den Westen entscheidend sein. Es geht um nichts weniger als die Erhaltung einer regelbasierten Ordnung in Europa und der Welt. Ein Zusammenbruch der Ukraine und die damit verbundene Gefährdung der baltischen und auch anderen europäischen Staaten hätte massive Fluchtbewegungen gegen Westen, Finanzmarkt- und Energieversorgungsstörungen zur Folge, welche die demokratische Ordnung zusätzlich gefährden und populistischen Strömungen weiter Auftrieb geben. Das Bewusstsein für diese Gefahren ist in den wohlstandsverwöhnten westlichen Demokratien noch nicht wirklich vorhanden.

Neutralität führt die Schweiz in die Isolation

Die unter Chatham House Rules durchgeführte Diskussion kritisierte die vorsichtige und zurückhaltende Haltung des Westens, welche Russlands Präsident Putin keineswegs zu eigener Zurückhaltung veranlasst. Russland hat ein mit Spanien vergleichbares Bruttosozialprodukt (BSP) und die Ukraine kann und muss so unterstützt werden, dass sie den Konflikt für sich entscheiden kann und das Selbstbestimmungsrecht zum Tragen kommt. Das atomare Säbelrasseln Putins muss als Drohgebärde realistisch eingeordnet werden. Die Diskussion befasste sich sodann mit der Kritik an den schweizerischen Restriktionen zur Wiederausfuhr von Kriegsmaterial, die im Ausland auf Ablehnung stossen. Die schleppende Gesetzesreform wurde mit der rasch abgewickelten Auflösung der Crédit Suisse kontrastiert; es fehle der Schweiz am politischen Willen, der Ukraine wirklich zu helfen.

Einmal mehr zeigte sich in der Diskussion, dass das tradierte Verständnis der Neutralität mit den Grundsätzen der UNO-Charta nicht vereinbar ist und das Land in die Isolation führt. Die Erfahrung von Finnland und Schweden zeigen sodann, dass der Beitritt zu einem Militärbündnis in Krisenzeiten beschleunigt werden kann, aber von langer Hand vorbereitet sein muss. Wenn die Schweiz glaubt, dass sie ein Bündnis erst nach erfolgtem Angriff an die Hand nehmen will, so ist sie klar auf dem Holzweg. Dazu kommt, dass die heutigen hybriden Bedrohungen sich einer klaren Unterscheidung von Krieg und Frieden entziehen.

Als Schweizer und Schweizerin verliess man die Veranstaltung mit dem klammen Gefühl, dass die Gefahren des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine in der Schweiz im öffentlichen Bewusstsein nicht hinreichend angekommen sind. Der Bundesrat und das Parlament verhindern mit ihrer Neutralitätspolitik eine klare Sicht auf die vorhandene Bedrohung für die Demokratie. Eine klarere, realistische und faktenbasierte und proaktive Kommunikation ist erforderlich. Die Hoffnung, als Sonderfall verschont zu bleiben, ist ein gefährlich frommer Wunsch.

Der Vortrag am WTI wurde von rund 50 eingeladenen Personen besucht aus Parlament, Bundesverwaltung und diplomatischen Vertretungen in Bern sowie von Studierenden am WTI und Mitgliedern der ASE.

Die Schweiz droht den Kompass zu verlieren von Markus Mohler

Derzeit werden für drei Volksinitiativen, welche mit bestehenden Regelungen zwischen der Schweiz und der EU zu tun haben, Unterschriften gesammelt: Für die Nachhaltigkeitsinitiative (keine 10-Millionen-Schweiz), für die Grenzschutzinitiative (Asylmissbrauch stoppen), beide lanciert von der SVP, sowie für die Kompass-Initiative, die sich gegen eine Institutionalisierung der Binnenmarktverträge mit der EU wendet; zudem strebt sie das  obligatorische Referendum bei wichtigen völkerrechtlichen Verträgen an. Was wären die Folgen bei einer Annahme dieser Initiativen?

Die Grenzschutzinitiative peilt auf eine Verfassungsänderung, durch welche systematische Grenzkontrollen wieder eingeführt werden sollen. Was dies allein in den Räumen Basel, Bodensee, Genf und Tessin bedeutete, kann man täglich dort beobachten. Mit der Nachhaltigkeitsinitiative soll die Wohnbevölkerung vor dem Jahr 2050 auf unter zehn Millionen Einwohnerinnen und Einwohner mit verschiedenen rechtlichen Massnahmen begrenzt werden.

Beide Initiative berühren damit den freien Personenverkehr. Dieser ist jedoch ein Fundament der EU. Dieses Fundament gilt gleichermassen für die Staaten, welche mit ihr auf unterschiedliche Weise assoziiert sind, wie die Schweiz. Die EU findet «ihren Ausdruck im freien Überschreiten der Binnengrenzen durch alle Angehörigen der Mitgliedstaaten» (Präambel 1 des Schengen-Übereinkommens von 1985). Dem hat die Schweiz mit den Schengen- und Dublin-Assoziierungsabkommen von 26. Oktober 2004 (SAA und DAA) zugestimmt. Von den damals zur Diskussion stehenden insgesamt acht Abkommen unter der Bezeichnung «Bilaterale II» wurde nur gegen «Schengen» und «Dublin» das Referendum ergriffen. Dieses wurde am 5. Juni 2005 mit 54 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt, diese Assoziierungsverträge also explizit angenommen.

Ohne die Aufrechterhaltung des freien Personenverkehrs ist die Assoziation zu «Schengen» und «Dublin» unmöglich. Für den Fall, dass die Schweiz den freien Personenverkehr als Inhalt des EU-Rechts nicht (mehr) akzeptierte, werden die Assoziierungsabkommen automatisch beendet (Art. 4 SAA, Art. 6 DAA).

Was «Schengen» und «Dublin» beinhalten

Beim Schengen-Abkommen geht es zunächst um die polizeiliche und strafrechtliche Zusammenarbeit, einschliesslich Grenzkontrollen. «Dublin» ist eine inzwischen mehrfach revidierte Asylrechtsregelung. Auch wenn die beiden eng miteinander verknüpft sind, darf man diese nicht einfach vermischen. Anders als «Schengen» ist das Asylrecht von verschiedenen Grundrechtsansprüchen unmittelbar geprägt. Dazu gehört etwa das sogenannte Non-Refoulement-Prinzip, nach welchem niemand in ein Land, in dem einer Person Verfolgung, Folter oder Tod drohen (Art. 25 Abs. 2 und 3 der Bundesverfassung, BV), ausgeschafft werden darf. Mit dem Asylrecht verbunden ist auch das Recht auf Familie (Art. 14 BV).

Bei «Schengen» geht es mittlerweile um weit mehr als die polizeiliche und strafrechtliche Zusammenarbeit. Ausgelöst durch den Kampf gegen den Terrorismus wurden zunächst gemeinsame Visums-Regelungen eingeführt (Schengen-Visum, das für alle Schengen-Staaten gilt). Um dieses wirksam durchzusetzen, folgten später das EU- bzw. Schengen-weite System der Ein- und Ausreisekontrolle (Entry-/Exit-System, EES) und dann das Europäische Reiseinformations- und Genehmigungssystem (European Travel Information and Authorisation System, ETIAS). Dieses ETIAS gilt für Personen aus nicht dem Visumszwang unterworfenen Staaten (neu bspw. das Vereinigte Königreich). Auch diesem ist die Schweiz beigetreten.

Ein Kernstück von «Schengen» ist das Schengen-Informationssystem (SIS). Es ist zum einen ein europaweites Fahndungsregister. Gespiesen wird es von allen EU- und Schengen-assoziierten Staaten. Die schweizerischen Behörden rufen das SIS täglich über 100’000mal ab, dies ergibt rund 500’000 automatisierte technische Zugriffe auf die verschiedenen Datenbanken! Im laufenden Jahr führte dies alle zehn Minuten zu einem Treffer. Mit der technischen Interoperabilität der Systeme können die Behörden mit einer einzigen Abfrage über das bereits Bestehende hinaus auch das Ein- und Ausreise- und dann auch das Reiseinformations- und Genehmigungssystem konsultieren. Jegliche Fahndungen oder unerlaubte Aufenthalte werden mit einem Klick sofort evident. Ein Ersatz für das interoperable SIS auf rein nationaler Ebene ist selbstverständlich unmöglich. Das SIS ist auch nicht mit dem Interpol-Fahndungsregister gleichzusetzen, schon allein deshalb, weil sie mit Bezug auf Terrorismusfahndungen nicht übereinstimmen.

Schliesslich ist auch die derzeit gültige Befreiung von Schweizerinnen und Schweizern von der US-amerikanischen Visumspflicht (USA-Visa-Waiver-Programm) mit dem SIS verknüpft: Dieser Visumspflichtverzicht hängt damit zusammen, dass die Schweiz mit dem sogenannten EU-/Schengen-Prüm-Abkommen, speziell auf die Terrorismusbekämpfung ausgerichtet, assoziiert ist. Fiele dieses weg, würde auch die Visumspflichtpflicht durch die USA wieder eingeführt.

Was, wenn die Personenfreizügigkeit wegfiele?

Was bedeutete also die Aufgabe der Personenfreizügigkeit durch die Schweiz? Alle diese für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit unverzichtbaren Informationen entfielen gänzlich. Die Schweiz würde nicht zur zu einem Rückzugsort international gesuchter Delinquenten, sondern auch zu  einer logistischen Basis für kriminelle einschliesslich terroristische Organisationen. Zudem müsste die Schweiz auch mit allen Staaten, die von den EU-Visumsregelungen betroffen sind, wieder eigene Visums-Staatsverträge abschliessen. Wenn diese schweizerischen Visumsregelungen mit jenen der EU nicht vollständig kongruent wären, zwänge dies unsere Nachbarstaaten ebenso, systematische Grenzkontrollen einzuführen, um die Umgehung ihrer Visums- und Einreisegenehmigungsregelungen via Schweiz zu verhindern. Was dies bedeutete, kann man sich leicht ausmalen.

Nicht zu vergessen ist dabei, dass der Wegfall aller Informationen der erwähnten Register wie auch die systematische Grenzkontrolle und die verstärkte Überwachung der grünen und blauen Grenze eine enorme Personalvermehrung beim Bund und in den Kantonen verursachte. Ausser den damit massiv steigenden Kosten für die öffentliche Verwaltung ist auch sehr zu bezweifeln, dass das dafür nötige Personal überhaupt zu finden wäre. Das geltende Schengen-System erlaubt den einzelnen Mitglied- und assoziierten Staaten schon jetzt, in aussergewöhnlichen Lagen vorübergehend Grenzkontrollen einzuführen (Art. 25 f. und 28 ff. des Schengen-Grenzkodex [SR 0.362.380.067]). Derzeit machen zehn EU-Länder davon Gebrauch.

Massive Ausweitung obligatorischer Referenden

Mit der Kompass-Initiative wollen die Initianten alle wichtigen völkerrechtlichen Verträge dem obligatorischen Referendum unterstellen. Nun sind alle Weiterentwicklungen des sogenannten Schengen-Besitzstandes zwischen der Schweiz und der EU je ein völkerrechtlicher Vertrag jedoch unterschiedlicher Tragweite. Seit Februar 2008 bis Ende September 2024 waren es 449 Weiterentwicklungen. Sie werden derzeit in drei Kategorien eingeteilt: Rechtsgrundlagen für neue oder geänderte technische Vorgänge (Datenbanken, Abfragesysteme), verwaltungsrechtliche und materiell-rechtliche Bestimmungen. Von den 449 Weiterentwicklungen gehörten 49 zur dritten Kategorie und wurden  als wichtige Rechtsänderungen dem Parlament zur Genehmigung oder Ablehnung vorgelegt. Nach dem Sinn dieses Initiativbegehrens hätten also mindestens diese 49 dem obligatorischen Referendum unterstellt sein sollen. Da die Übernahme von Weiterentwicklungen an eine Frist von maximal zwei Jahren gebunden ist, könnten für solche Referendumsabstimmungen nicht immer die im Voraus festgelegten Termine taugen, es könnte zusätzliche brauchen. Demgegenüber wurde das Referendum nur drei Mal ergriffen (betreffend biometrische Pässe, Verschärfung der Waffenrechtsetzung und Beteiligung an Frontex); alle Referenden wurden abgelehnt.

Zudem eignen sich die wenigsten dieser sehr komplizierten und komplexen Änderungen der Schengen-Rechtsetzung für eine Diskussion im Rahmen einer Abstimmungskampagne.

Fazit: Die Beendigung der Schengen- und Dublin-Assoziierung bedeutete nicht nur einen enormen Verlust punkto innerer Sicherheit hierzulande und in ganz Europa sowie eine massive Personalaufstockung, die Schweiz würde im Raum der Freiheit der Sicherheit und des Rechts, was die EU seit dem Amsterdamer-Vertrag anstrebt, eine Insel der Unsicherheit. Und diese Insel der Unsicherheit produzierte im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in sehr unsolidarischer Weise viele vermeidbare erhebliche Sicherheitsrisiken. Angesichts der globalen Situation eine unverantwortbare Politik.

Markus H. F. Mohler ist Jurist mit Promotion in Strafrecht. Er war Kommandant der Kantonspolizei Basel-Stadt sowie Dozent für öffentliches, speziell Sicherheits- und Polizeirecht an den Universitäten von Basel und St. Gallen

Mit Homestories gegen Europa von Daniel Woker

Weil Regierung und Parlament zur wichtigsten aussenpolitischen Aufgabe der Schweiz, der Europapolitik, stumm bleiben, haben die EU-Gegner leichtes Spiel. Ehemalige helvetische Grössen unterstützen nun die Kampagne der Bewegung Kompass/Europa gegen die Bilateralen III.

Martin Gollmer hat am 7. Oktober auf dieser Website («Ein David gegen zwei Goliaths») aufgezeigt, was die Anti-EU-Initiative von Kompass/Europa will und wo deren gut finanzierte Kampagne falsch liegt und Unwahrheiten verbreitet. Tatsächlich geht die Kompass-Initiative sowohl an der europäischen Realität wie an den Bedürfnissen der Schweiz vorbei.

So verlangt die Initiative, dass in der Zukunft zahlreiche Staatsverträge sowohl dem Volk wie den Ständen (Kantonen) zur Annahme oder Ablehnung unterbreitet werden müssen (obligatorisches Referendum). Ebendies ist in Form einer Initiative der Aktion für eine unabhängige Schweiz (Auns; heute: Pro Schweiz) im Jahr 2012 von 75 Prozent des Stimmvolks verworfen worden.

Verzerrung zugunsten kleiner Kantone

Die Anti-Europa-Initiative will bei kommenden Abstimmungen zu bilateralen Verträgen mit der EU auch obligatorisch ein Ständemehr verlangen. Dadurch würde die Gesetzgebung massiv zugunsten kleinerer Kantone verzerrt. Es geht nicht an, dass in aussenpolitischen Fragen, welche die kantonale Souveränität nicht tangieren, eine Stimme aus Glarus hundert Mal mehr zählt als eine aus Zürich.

Mit direkter Demokratie hat das nichts zu tun, wohl aber mit der Hoffnung, dass die Landbevölkerung, die tendenziell konservativ abstimmt, eine kommende Europa-Vorlage bodigen könnte. Die Zuger Finanzhaie fürchten nämlich wegen zukünftigen EU-Bestimmungen gegen den Kasinokapitalismus geschäftliche Nachteile.

Zu Besuch bei Kurt Aeschbacher

«Beim Eintreten in die Wohnung kommt mir die Hündin schwanzwedelnd entgegen und bringt mir ihr Stofftier.» So beginnt eine als Interview kaschierte Homestory in einem grossen schweizerischen Zeitungsverbund mit dem Ex-Fernsehmoderator Kurt Aeschbacher. Dieser gibt zahlreiche der faktenfreien «Tatsachen» aus dem Skript der Kompass-Initianten zum Besten. So etwa, dass wir mit den Bilateralen III alle EU-Gesetze «automatisch» übernehmen müssten.

Das stimmt nicht. Jede Übernahme ist letztlich von einem schweizerischen Entscheid abhängig. Dies gesagt, entspricht schon heute eine Mehrheit schweizerischer Gesetze ganz oder grösstenteils europäischer Gesetzgebung, und zwar ganz einfach, weil diese erstens neue Materien vernünftig regeln und zweitens den Zugang zum europäischen Binnenmarkt aufrechterhalten. Der wirtschaftliche Austausch mit der EU war und ist für einen guten Teil des schweizerischen Wohlstandes verantwortlich.

Dass wir angeblich «gut mit bestehenden Abkommen leben können», ist eine weitere Lüge aus der Giftküche der Kompass-Initianten. Einige der bestehenden bilateralen Abkommen mit der EU sind schon abgelaufen, was schweizerischen Exporteuren etwa in der Medizinalbranche unnötige Arbeit und Kosten verursacht. Andere werden in naher Zukunft verfallen. Nichts anderes als dies bildet ja den Hauptgrund für unsere intensiven Verhandlungen mit Brüssel.

Die Mär vom EU-Monster

Wenn ihnen andere Argumente ausgehen, machen die Kompass-Initianten auch etwa geltend, die EU sei ein «bürokratisches Monster».

Fakt ist: Die EU beschäftigt insgesamt 60’000 Personen weltweit. Die schweizerische Bundesverwaltung und der Kanton Zürich zusammen kommen auf rund 80’000 Personen. Genauso wie unsere Staatsangestellten für eine Vielzahl von öffentlichen Aufgaben arbeiten, sind die EU-Beamten zuständig für das reibungslose Funktionieren des erwähnten Binnenmarktes, ebenso etwa für die weltweit fortschrittlichsten Richtlinien für Klimapolitik oder auch den Schutz der EU-Aussengrenzen.

Geradezu rührend sind Aeschbachers Erzählungen, wie er seinen staunenden Nachbarn in Frankreich die Vorteile unserer halbdirekten Demokratie vor Augen führt. Nun lässt sich das von seiner Geschichte und Geographie, aber auch von weitgehender staatlicher Dienstleistung für seine Bürger geprägte politische System Frankreichs nicht mit jenem der Eidgenossenschaft vergleichen. Beide Systeme haben ihre Vor- und Nachteile. Wo beispielsweise eine schweizerische Mittelklassefamilie allein für ihre Gesundheitsversorgung (ohne Zahnarzt) einen erheblichen Teil ihres Einkommens ausgeben muss, erhalten Franzosen gleichwertige medizinische Dienstleistungen für einen kleinen Bruchteil dieser Summen.

Angewiesen auf Solidarität und Schutz der EU

Was stört an Aeschbachers Ausführungen, ist ihr aus dem Anti-EU-Skript von Kompass/Europa übernommenes Dogma, wir seien politisch und strukturell nicht mit der EU kompatibel. Das ist Unsinn. Politisch bleibt die halbdirekte schweizerische Demokratie in jeder Form der Zusammenarbeit bis und mit einem Beitritt zur EU unangefochten. Das gilt ebenso für die föderalistische Struktur der Schweiz.

Die EU ist ein Zusammenschluss von politisch und strukturell sehr verschiedenen Ländern, die aber überzeugt sind, dass Europa auf globaler Ebene nur gemeinsam bestehen kann. In Anbetracht des Gewichts gegenwärtiger und zukünftiger Grossmächte kann nur ein gemeinsames Europa seinen Bürgern und Bürgerinnen Schutz und nachhaltiges Wachstum bieten. Dabei konstruktiv mitzumachen, sollte für die kerneuropäische Schweiz sowohl Aufgabe als auch Ehre sein.

Ulrich Ochsenbein und der Neue Sonderbund von Thomas Cottier

Die Epoche des Sonderbunds in den 1840er-Jahren hat Ähnlichkeiten mit der heutigen Zeit. Beide Male geht es um die Souveränität. Brauchte es damals einen weitsichtigen historischen Verfassungskompromiss, um den Konflikt zwischen den katholisch-konservativen Kantonen und den protestantisch-liberalen Ständen zu überwinden, ist jetzt erneut ein historischer Kompromiss vonnöten: Diesmal zwischen dem Neuen Sonderbund und jenen Kreisen, die für die Integration der Schweiz in Europa einstehen. Er besteht darin, die Ziele der Integration unseres Landes in der Verfassung zu verankern, aber die Mittel dazu offenzulassen. So kann die Schweiz ihre Heimat in Europa finden. Das ist das zentrale Anliegen der Volksinitiative für eine starke Schweiz in Europa (Europa-Initiative).

Hier geht es zum Aufsatz von Thomas Cottier (PDF)

Zur Rolle des Schiedsgerichts bei den Bilateralen von Ulrich E. Gut

Die Gegnerschaft einer neuen Vertragsgrundlage für die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) erweckt den Eindruck, die vorgesehene Streitschlichtung laufe faktisch auf eine umfassende Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg hinaus. Das vorgesehene Schiedsgericht sei ein Feigenblatt zur Verharmlosung des Souveränitätsverlusts, der der Schweiz drohe. Was ist davon zu halten?

Aktuelle Diskussionsgrundlage ist Kapitel 10, «Dispute Settlement», des «Common Understanding», das die beiden Verhandlungsparteien Schweiz und EU als Ausgangsbasis der laufenden Verhandlungen über das Vertragspaket «Bilaterale III» veröffentlichten:

«The European Commission and Switzerland share the view that, in the event of difficulty of interpretation or application of the bilateral agreements in the fields related to the internal market in which Switzerland participates, the parties should consult each other in the respective sectoral committees to find a mutually acceptable solution. If a sectoral committee does not manage to find a solution to the abovementioned difficulty, the parties should have the possibility to ask an arbitral tribunal, where both parties are represented, to settle the dispute. Where the dispute raises a question concerning the interpretation or application of a provision referred to in paragraph 8 second sentence, and if the interpretation of that provision is relevant to the settlement of the dispute and necessary to enable the arbitral tribunal to decide on the matter, the arbitral tribunal should refer that question to the Court of Justice of the EU for a ruling that would be binding on the arbitral tribunal. Where the dispute raises a question concerning the interpretation or application of a provision that falls within the scope of an exception from the dynamic alignment obligation set out in paragraph 9 and where such dispute does not involve the interpretation or application of concepts of Union law, the arbitral tribunal should decide the dispute without referring to the Court of Justice of the EU. »

Vorweg ist zu fragen, was im Streitfall geschähe, wenn kein rechtliches Streitschlichtungsverfahren vereinbart und kein Schiedsgericht vorgesehen wäre. Die Auseinandersetzungen würden zwischen politischen Behörden ausgetragen. Käme es zu keiner Einigung und würde eine Streitpartei deshalb Gegenmassnahmen treffen wollen, würde sie diese nach ihrem Gutdünken bestimmen. Wenn die andere Partei diese Gegenmassnahmen als unverhältnismässig betrachten würde, könnte sie vielleicht in bestimmten Fällen bei der Welthandelsorganisation WTO klagen, hätte aber oft kein Gegenmittel, ausser die Auseinandersetzung durch eigene Gegen-Gegenmassnahmen eskalieren zu lassen.
Die Schaffung eines Verfahrens zur rechtlichen Regelung von Streitigkeiten und eines Schiedsgerichts ist deshalb im Interesse beider Parteien, wenn sie dadurch vor unverhältnismässigen Gegenmassnahmen geschützt werden und eine für die bilateralen Beziehungen gefährliche Eskalation verhindert wird.

Unparteiische Rechtsprechung vonnöten

Voraussetzung ist allerdings, dass das Schiedsgericht zu einer unparteiischen Rechtsprechung befähigt wird. Die Gegnerschaft einer neuen Grundlage der bilateralen Verträge erweckt nun den Eindruck, die Streitfälle, die dem Schiedsgericht vorgelegt würden, würden faktisch samt und sonders und definitiv durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg entschieden. Das Schiedsgericht werde dessen Urteile nur noch abnicken können. Der EuGH sei aber eine Behörde der Gegenpartei, mit dem politischen Auftrag, die Integration Europas zu fördern, womit ihm schweizerische EU-Gegner geradezu absprechen, überhaupt ein Gericht zu sein. Was ist davon zu halten?
Paragraph 10 des «Common Understanding» besagt, was dem EuGH zu unterbreiten ist:

Where the dispute raises a question concerning the interpretation or application of a provision referred to in paragraph 8 second sentence, and if the interpretation of that provision is relevant to the settlement of the dispute and necessary to enable the arbitral tribunal to decide on the matter, the arbitral tribunal should refer that question to the Court of Justice of the EU for a ruling that would be binding on the arbitral tribunal.

Wenn der Streit eine Frage der Auslegung von EU-Recht aufwirft, die für die Streitschlichtung relevant ist und deren Beantwortung nötig ist, damit das Schiedsgericht ein Urteil fällen kann, hat das Schiedsgericht diese Frage dem EuGH zu unterbreiten, und dessen Antwort ist für das Schiedsgericht verbindlich.
Sodann legt das Common Understanding dar, was dem, EuGH nicht zu unterbreiten ist:

« Where the dispute raises a question concerning the interpretation or application of a provision that falls within the scope of an exception from the dynamic alignment obligation set out in paragraph 9 and where such dispute does not involve the interpretation or application of concepts of Union law, the arbitral tribunal should decide the dispute without referring to the Court of Justice of the EU. »

Schiedsgericht ist kein Feigenblatt

Weshalb verdient das vorgesehene Schiedsgericht wirklich diese Bezeichnung und wäre kein Feigenblatt?
Erstens, weil nur ein Teil der Fälle, die vor das Schiedsgericht kommen werden, Fragen der Auslegung von EU-Recht aufwerfen werden.
Zweitens, weil auch in den Fällen, in EU-Recht auszulegen ist, dessen Auslegung nur einer von mehreren Faktoren ist, die zur Urteilsfindung des Schiedsgerichts beitragen. Wichtig sind auch die Abklärung eines Sachverhalts, der umstritten sein kann, die Anwendung der ausgelegten Norm auf den konkreten Sachverhalt, allfällige Ermessensentscheide, und schliesslich die Bestimmung angemessener, verhältnismässiger Konsequenzen, wenn eine Vertragsverletzung festgestellt wird.

Bedeutung der Auslegungskompetenz des EuGH

Die Auslegung von EU-Recht durch den EuGH kann in einem Streitfall von grosser Bedeutung sein. Es wäre rechtlich unrichtig und politisch kontraproduktiv, dies zu bestreiten.
Matthias Oesch, Professor für öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht am Institut für Völkerrecht und ausländisches Verfassungsrecht der Universität Zürich, legt in seinem kürzlich erschienenen Buch «Der EuGH und die Schweiz» einerseits dar, dass viele EuGH-Urteile bereits heute in der Schweiz bedeutsam sind. In einem am 21. Januar 2024 erschienenen Interview mit «Unser Recht» sagt er:

«Die Schweiz übernimmt seit Jahrzehnten Urteile des EuGH, sei es auf dem Weg der Rechtsvergleichung und des autonomen Nachvollzugs, sei es bei der Durchführung der bilateralen Abkommen. Unsere Juristinnen und Juristen sind sich gewohnt, Urteile des EuGH zu rezipieren und das schweizerische Recht im Licht der Dikta aus Luxemburg weiterzuentwickeln. Der Schritt, dem EuGH neu eine Rolle bei der Streitbeilegung zuzuordnen, wäre institutionell und rechtskulturell ein beachtlicher – praktisch wären die Folgen aber überschaubar.»

Präzisierung der Zuständigkeit des EuGH

Für die Verhandlungen schlägt Matthias Oesch jedoch einschränkende Präzisierungen der Zuständigkeit des EuGH vor. Auszug aus dem Interview:

«Die neuen Verhandlungen sollten tatsächlich genutzt werden, um das 2014-2018 entwickelte Modell weiter zu perfektionieren. Ein wesentliches Augenmerk sollte darauf gerichtet sein, die Verpflichtung eines Schiedsgerichts zur Anrufung des EuGH möglichst klar zu umreissen. Eine Vorlagepflicht, welche sich einzig um das Vorliegen eines «Begriffs des EU-Rechts» (gemäss Entwurf des institutionellen Abkommens von 2018) oder «eines Konzepts des EU-Rechts» (Common Understanding von 2023) dreht, ist konkretisierungsbedürftig.
Eine Vorlagepflicht scheint klarerweise zu bestehen, wenn es um die Klärung eines unionsrechtlichen Konzepts im EU-Recht geht, und die Einheitlichkeit der Auslegung und Anwendung in der EU gewährleistet sein muss. In dieser Konstellation beruht die Befassung des EuGH auf der unionsrechtlich bedingten, nachvollziehbaren Logik: Es handelt sich um EU-Recht, das zwar auf die Schweiz ausgedehnt wird, seinen genuin unionsrechtlichen Charakter aber nicht verliert. Es bleibt wesensmässig EU-Recht, dessen Auslegung dem EuGH obliegt.
Die Ausgangslage präsentiert sich nach meinem Dafürhalten anders, wenn ein Konzept des EU-Rechts im bilateralen Kontext EU-Schweiz geklärt werden muss. Hier mag einem Schiedsgericht eine durchaus eigenständige Rolle zukommen. Die der Klärung eines Konzepts des EU-Rechts im Binnenmarktkontext nachgelagerte Frage, ob im Verhältnis zur Schweiz auf der Grundlage eines bilateralen Abkommens eine parallele oder eine von der EuGH-Praxis abweichende Auslegung sachgerecht ist, muss dem EuGH nicht vorgelegt werden. Ein Schiedsgericht ist in der Lage, diese «Übersetzungsaufgabe» zu leisten, ohne dass die Einheitlichkeit des EU-Rechts gefährdet würde. Ein Schiedsgericht legt diesfalls – anders formuliert – nicht EU-Recht aus (was zwingend dem EuGH vorbehalten bleibt), sondern wendet die Praxis des EuGH im bilateralen Kontext EU-Schweiz an.
Es ist, wie Sie zu Recht anmerken, unklar, ob der EuGH eine solche Umschreibung der Vorlagepflicht eines Schiedsgerichts akzeptieren würde. Dessen ungeachtet argumentieren gewichtige Stimmen, dass eine dergestalt eigenständige Rolle eines Schiedsgerichts auch auf der Grundlage der Umschreibung der Vorlagepflicht im Entwurf des institutionellen Abkommens von 2018 möglich wäre. Es würde diesfalls an den Schiedsgerichten liegen, eine Praxis zur Vorlagepflicht zu entwickeln – selbstredend unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben in Bezug auf die Autonomie des EU-Rechts und die Zuständigkeit des EuGH zu seiner verbindlichen Auslegung.»
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Die juristische und politische Beurteilung des Streitschlichtungsverfahrens und insbesondere des Schiedsgerichts wird nicht allein entscheiden, ob das Ergebnis der laufenden Verhandlungen zwischen der EU und der Schweiz in Parlament und beim Volk mehrheitsfähig wird. Aber sie kann sich umso stärker auswirken, je umstrittener andere wichtige Kriterien bleiben, wie vor allem der Nutzen und die Notwendigkeit eines staatsvertraglich gesicherten guten Marktzugangs.

Ulrich E. Gut ist Jurist sowie ehemaliger Politiker (FDP) und Chefredaktor (Zürichsee-Zeitung). Heute arbeitet er als freischaffender Publizist. Der vorliegende Artikel erschien zuerst in seinem Blog PolitReflex.ch.

Eine Meinung, aber keine Ahnung von Daniel Woker

Die von den Finanzmilliardären der Private-Equity-Gesellschaft Partners Group angeführte und üppig finanzierte Kampforganisation Kompass/Europa gibt sich bieder bürgerlich, fördert aber mit ihrer EU-feindlichen Rhetorik den nationalkonservativen Populismus und Extremismus in der Schweiz.

 

Weil sie dank Tiefzinsperiode und mit einer tüchtigen Prise von Kasinokapitalismus im Steuerparadies Zug zu Finanzmilliardären geworden sind, glauben Alfred Gantner, Marcel Erni und Urs Wietlisbach, die drei Gründer der Partners Group, sie seien nun auch zur Politik berufen. Mit einer Initiative wollen sie zunächst den Bilateralen III, über die die Schweiz und die EU gegenwärtig verhandeln, den Garaus machen.

Kompass/Europa weiss, was sie nicht will – eine angebliche «Passivmitgliedschaft» der Schweiz in der EU –, aber nicht, wie der künftige Weg der Schweiz in Europa aussehen soll. Es wird vage auf überseeische Exportmärkte verwiesen sowie auf eine Fortführung bilateraler Zusammenarbeit auch ohne ein neues Abkommen mit der EU. Das ist unmöglich. Die zahlreichen Bereiche der Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU brauchen ein Dach, welches für beide gemeinsam ist, beide schützt und beide an anderen Problemen in Ruhe arbeiten lässt.

Von Brüssel einen Sonderweg allein für die Schweiz verlangen zu wollen, ist helvetischer Grössenwahnsinn. Höflicher, aber ebenso klar hat dies Brüssel gegenüber allen schweizerischen Unterhändlern immer wieder festgestellt. Entweder ein Abkommen mit institutionellen Bestimmungen oder ein schweizerisches (Wirtschafts-)Leben in der Kälte des europäischen Aussenseiters. Was in der Schweiz bislang von rechts-nationalistischen Populisten und Extremisten vertreten worden ist.

Finanzunternehmer und Mitläufer

Gehört Kompass/Europa mit ihrer lügnerischen Anti-EU Rhetorik nun nicht auch zu diesen, unbesehen der behaupteten Mittelstellung? Was die Partners Group sicher will, ist ihre offensichtlich lukrative Tätigkeit als Finanzdienstleistungsunternehmen ungestört von europäischen Regeln zum Schutz von Anlegern weiterführen.

Um mehr Publizität zu erlangen, hat sich Kompass/Europa mit einer Koterie helvetischer Prominenz von Kurt Aeschbacher bis Bernhard Russi umgeben. Was offensichtlich gelungen ist. Diese Promis haben sich von der trutzigen Rhetorik einer Tell-Schweiz einnehmen lassen, verstehen aber nicht, was für unser Land mit den Bilateralen III auf dem Spiel steht. Nicht nur der Verbleib im EU-Binnenmarkt, eingeschlossen Schengen und Dublin, sondern auch die Zukunft der Schweiz in Europa.

Schweiz zu klein

Kompass/Europa scheint keine Ahnung zu haben vom grossen Projekt der europäischen Einigung und den immensen Anstrengungen dahinter, unseren Kontinent wirtschaftlich und politisch auf Augenhöhe mit den Supermächten des 21. Jahrhunderts zu bringen. Die EU also, deren Vertreter sehen, dass die europäischen Länder einzeln weder wirtschaftlich noch politisch und schon gar nicht sicherheitspolitisch (Aggressor Putin!) in der Lage sind, sich gegenüber den Grossen (USA, China, Indien/ASEAN, dereinst wohl auch einmal Afrika) behaupten zu können. Man erinnert sich an den Ausspruch der ehemaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel: «Deutschland allein ist zu klein». Was für die Schweiz in noch erhöhtem Masse gilt.

Der hier oft gehörte Einwand der unabhängigen innovativen Kleinschweiz als dem künftigen «Singapur Europas» fällt flach. Singapur, wo der Schreibende sechs Jahre lang die Schweiz vertreten hat, ist ein Vorreiter des internationalen Zusammenschlusses zur Bündelung aller gleichgesinnten Kräfte, weil seine Dirigenten wissen, dass nur so der chinesische Drache im Zaun gehalten werden kann.

Ein David gegen zwei Goliaths von Martin Gollmer

Zwei schwerreiche Unternehmer ziehen gegen eine bilaterale Annäherung der Schweiz an die EU ins Feld: Ex-Ems-Chemie-Chef Christoph Blocher und seine SVP sowie neu auch Alfred Gantner mit Mitstreitern von der Private-Equity-Gesellschaft Partners Group mit ihrer Vereinigung Kompass/Europa. Gegen die beiden tritt eine finanziell wesentlich kleinere Brötchen backende Allianz um die GLP-Politikerin Sanija Ameti und ihre Operation Libero an. Die Allianz hatte im Frühjahr 2024 eine Initiative für eine aktive und ambitionierte Europapolitik der Schweiz lanciert.

Dem Bilateralismus, den die Schweiz seit 25 Jahren im Verhältnis zur EU pflegt, weht ein immer steiferer Wind entgegen: Neu will nun auch die EU-skeptische Vereinigung Kompass/Europa dagegen antreten. Sie hat Anfang Oktober die «Kompass-Initiative: für eine direkt-demokratische und wettbewerbsfähige Schweiz – keine EU-Passivmitgliedschaft» lanciert. Damit soll verhindert werden, dass die Schweiz «automatisch» EU-Recht übernimmt und der Europäische Gerichtshof (EuGH) als «oberste gerichtliche Instanz» in den Beziehungen Schweiz-EU eingesetzt wird. Das beeinträchtige die Souveränität der Schweiz und untergrabe die hierzulande gepflegte direkte Demokratie.

Mit der Kompass-Initiative soll zudem erreicht werden, dass «völkerrechtliche Verträge, die eine Übernahme wichtiger rechtssetzender Bestimmungen vorsehen» dem obligatorischen Referendum unterstellt werden. Die Bilateralen III, über die die Schweiz und die EU gegenwärtig verhandeln, müssten damit die Zustimmung einer Mehrheit von Volk und Ständen (Kantonen) erhalten, um in Kraft treten zu können. Mit einer Rückwirkungsklausel soll zudem sichergestellt werden, dass bei einer allfälligen Annahme der Kompass-Initiative nach Inkrafttreten der Bilateralen III diese nur Bestand hätten, wenn sie in einem obligatorischen Referendum mit Mehrheit von Volk und Ständen angenommen wurden. Ein Blick auf die Website von Kompass/Europa zeigt, dass es dabei nicht um möglichst viel Demokratie geht, sondern um möglichst keine Bilaterale III: «Die Bewegung spricht sich klar gegen ein Rahmenabkommen 2.0 aus und engagiert sich kraftvoll und entschieden dagegen.»

Verfassungsrechtlich hebelt die Initiative den Grundsatz des Parallelismus der Formen aus: So unterliegen heute Staatsverträge den gleichen Kriterien wie innerstaatliche Erlasse für das Referendum. Die Initiative will dies nun für Staatsverträge verschärfen und alle wichtigen Verträge dem obligatorischen Referendum von Volk und Ständen unterbreiten – selbst wenn es sich um Bestimmungen technischer Natur handelt wie z.B. Produkte- oder Produktionsstandards. Im Ergebnis wird die EU unter solchen Bedingungen an Verhandlungen mit der Schweiz kein Interesse haben. Die Schweiz kann dann solche Normen einseitig nachvollziehen, aber ohne Wirkung im EU-Binnenmarkt – ganz zum Nachteil von Unternehmen mit Standort Schweiz.

Verbreitung von Unwahrheiten

Auf der Website der Kompass-Initiative finden sich auch allerlei – wohl bewusst eingestreute – Unwahrheiten. Zwei Beispiele: So soll EU-Recht in Zukunft «automatisch» von der Schweiz übernommen werden müssen. Das ist falsch. Dynamische Rechtsübernahme heisst nicht automatisch, sondern fortlaufend (statt wie bisher nur periodisch). Dabei müssen Bundesrat, Parlament und – sofern das Referendum ergriffen wird – das Volk in jedem Fall zustimmen. Der (direkt-)demokratische Prozess in der Schweiz wird also nicht ausser Kraft gesetzt. Die Schweiz bleibt souverän und kann jederzeit die Übernahme von EU-Recht ablehnen. Allerdings müsste sie dann mit Ausgleichsmassnahmen der EU rechnen. Dies um zu verhindern, dass die Schweiz bei jeder erstbesten Gelegenheit ein Extrazüglein fährt.

Auch wird der EuGH nicht «oberste gerichtliche Instanz» in den Beziehungen Schweiz-EU, wie das Initiativ-Komitee behauptet. Er kommt nur dann und nur bei sogenannten Binnenmarktabkommen zum Zug, wenn sich die Schweiz und die EU im Streitfall in einem Schiedsgerichtverfahren nicht über die Auslegung von Begriffen des EU-Rechts einigen können. Abschliessend entscheidet in jedem Fall ein paritätisch zusammengesetztes Schiedsgericht, das sich dabei an die Begriffsauslegung des EuGH halten muss.

Die Kompass-Initiative nimmt für sich in Anspruch, die Standortvorteile der Schweiz zu «sichern» – die hiesigen Unternehmen hätten «auch ohne spezifische Verträge Zugang zum EU-Markt». In Tat und Wahrheit verschlechtern sich die Standortvorteile der Schweiz, wenn die Initiative angenommen würde. Die schweizerischen Unternehmen verlören die kostensparende hindernisfreie Beteiligung an wichtigen Teilen des Binnenmarkts – einen Zugang, den Unternehmen aus anderen Nicht-Mitgliedstaaten der EU so nicht haben. Die schweizerischen Unternehmen büssten so im Verkehr mit der EU Wettbewerbsvorteile ein. Das trifft vor allem KMU und damit das Rückgrat der schweizerischen Volkswirtschaft.

Angst vor strengen EU-Regeln

Wenn es darum geht, Standortvorteile zu sichern, dann dürfte es den Initianten der Kompass-Initiative vor allem um die Vorteile für ihr eigenes Geschäft gehen. Alfred Gantner sowie seine Mitstreiter Marcel Erni und Urs Wietlisbach, die die Vereinigung Kompass/Europa ins Leben gerufen haben, sind auch die Gründer der in Baar im Kanton Zug ansässigen Private-Equity-Gesellschaft Partners Group. Mit dieser auf Privatmarktanlagen spezialisierten Firma haben sie es zu einem Milliardenvermögen gebracht. Sie wollen mit möglichst hohen Hürden für neue bilaterale Verträge mit der EU verhindern, dass die Schweiz als heutiger sicherer Hafen dereinst auch die Bestimmungen für Finanzdienstleistungen von der EU übernimmt. Diese sind dort strenger reguliert als in der Schweiz.

Souveränität bewahren, direkte Demokratie erhalten, Standortvorteile sichern – von den Schalmeienklängen der drei Finanzhaie aus der Innerschweiz haben sich auch mehrere Schweizer Prominente verführen lassen. So unterstützen etwa die Ex-Skirennfahrer Bernhard Russi und Urs Lehmann, der Ex-Fernsehmoderator Kurt Aeschbacher sowie die Musiker Dieter Meier (Yello) und Chris von Rohr (Krokus) die Kompass-Initiative. Das macht diese nicht besser. Die Boulevardzeitung «Blick» hat nämlich mit den meisten dieser Prominenten gesprochen und dabei herausgeschält, dass sich diese bisher kaum mit dem Bilateralismus Schweiz-EU beschäftigt haben und deshalb von der Sache nur wenig verstehen. «Das ist nicht mein Metier, da habe ich zu wenig Ahnung», sagte etwa Dieter Meier.

Kampf für eine souveräne Schweiz

Gantner und Mitstreiter sind mit ihrer Vereinigung Kompass/Europa nicht die einzigen schwerreichen Unternehmer, die gegen die Bilateralen III ins Feld ziehen. Da sind auch noch Christoph Blocher und die von ihm aus dem Hintergrund mitgelenkte SVP. Blocher brachte es als ehemaliger Besitzer des in Domat/Ems im Kanton Graubünden ansässigen Spezialitätenchemiekonzerns Ems Chemie zu einem Milliardenvermögen. Blocher und die SVP schiessen aus allen Rohren gegen das neue bilaterale Vertragspaket, über das die Schweiz und die EU gegenwärtig verhandeln. Mit diesem Paket will die Schweiz unter anderem den hindernisfreien Zugang zu Teilen des EU-Binnenmarkts sichern und ausbauen sowie die Wiederaufnahme in die Forschungs- und Bildungsprogramme der EU erreichen.

Blocher unterstützt auch die von der SVP lancierte sogenannte Nachhaltigkeitsinitiative gegen eine 10-Millionen-Einwohner-Schweiz. Würde sie angenommen, müsste die Schweiz eventuell das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU kündigen. Dieses ist eines der Kernelemente der bilateralen Verträge und mitverantwortlich für den Erfolg des Wirtschaftsstandorts Schweiz. Die SVP mit Doyen Blocher im Hintergrund steht auch hinter der Grenzschutzinitiative, mit der die illegale Migration in die Schweiz bekämpft werden soll. Sie fordert etwa die Wiedereinführung systematischer Grenzkontrollen. Zudem sollen Migranten, die über einen sicheren Drittstaat einreisen, keine Einreise und kein Asyl mehr gewährt werden. Die Grenzschutzinitiative stellt damit die Schengen- und Dublin-Assoziierungsabkommen mit der EU in Frage – zwei weitere Kernelemente der bilateralen Verträge.

Blocher sieht die Eigenart der Schweiz – wie sie etwa in der direkten Demokratie, dem föderalistischen Staatsaufbau oder der immerwährenden Neutralität zum Ausdruck kommt – bedroht, wenn sich die Schweiz der EU annähert. Er tritt deshalb für eine möglichst souveräne und eigenständige Schweiz ein. Dabei blendet er aus, dass es eine absolute Souveränität in der heutigen globalisierten Welt gar nicht mehr gibt – schon gar nicht für einen Kleinstaat wie die Schweiz, dessen weltweite Vernetzung für seinen Wohlstand mitverantwortlich ist.

Gewinnt Geld oder Vernunft?

Gantner und Mitstreiter sowie Blocher – sie alle bekämpfen also die bilateralen Verträge und insbesondere die Bilateralen III. Sie können dabei zusammen mit Kompass/Europa und der SVP Millionen für ihren Kampf aufwenden. Sie wollen die Schweiz auf Distanz zur EU halten. Sie sind die Goliaths. Da hat Sanija Ameti mit ihrer Europa-Allianz einen schweren Stand. Die GLP-Politikerin ist nicht Unternehmerin und kann kein grosses Vermögen für ihr Anliegen einsetzen. Zudem ist ihre Reputation angeschlagen, seit bekannt geworden ist, dass sie mit einer Waffe auf ein Heiligenbild geschossen hat. Obwohl sie Reue gezeigt und sich entschuldigt hat, ist sie seither einer mittelalterlich anmutenden Hexenjagd ausgesetzt. Sie ist David.

Ameti ist Co-Präsidentin der Operation Libero, die eine europapolitische Allianz von Organisationen der Zivilgesellschaft anführt. Zu dieser Allianz gehören auch die Vereinigung Die Schweiz in Europa, die Europäische Bewegung Schweiz, Studierendenverbände, die Grüne Partei Schweiz und weitere Organisationen. Die Allianz hat im Frühjahr die sogenannte Europa-Initiative lanciert, mit der Bundesrat und Parlament zu einer aktiven und ambitionierten Europapolitik verpflichtet werden sollen. Ameti und ihre Allianz tragen damit den vielfältigen und sehr engen Beziehungen der Schweiz zur EU Rechnung. Sie unterstützen Verhandlungen für die Bilateralen III und treten für ein umfassend geregeltes Verhältnis der Schweiz zur EU ein. Gemäss neuen Umfragen tut das eine klare Mehrheit der Schweizer Stimmberechtigten genauso und bestätigt damit frühere Umfragen, die alle stets eine Unterstützung des bilateralen Wegs von über 60 Prozent aufwiesen.

Man darf gespannt sein, wer diesen Kampf David – die Europa-Allianz mit Ameti – gegen zwei Goliaths – Kompass/Europa mit Gantner und Mitstreitern sowie die SVP mit Blocher – gewinnt. Zu hoffen ist, dass in der Schweizer Europapolitik schliesslich nicht das Geld obsiegt, sondern die Vernunft. Frei nach dem britischen Ökonomen und Politiker John Maynard Keynes lässt sich sagen: «They have all the money bags, but we have the brains.»

Klares Nein zu einer Réduit-Schweiz von Martin Gollmer

Zwei neue Umfragen – eine zu den bilateralen Verträgen, die andere mit Fokus auf die Zuwanderung – zeigen, dass eine klare Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer eine Réduit-Schweiz, wie sie der SVP und ihr nahestehender nationalkonservativer Kreise vorschwebt, ablehnt.

Die SVP und andere nationalkonservative Gruppierungen machen auf Abschottung der Schweiz. Sie sind dabei zurzeit gleich auf vier Politikfeldern aktiv. Erstens versuchen sie die Bilateralen III zu torpedieren, über die die Schweiz und die EU gegenwärtig verhandeln. Mit den Bilateralen III will die Schweiz unter anderem wieder geregelte Beziehungen zur EU herstellen, den teilweise hindernisfreien Zugang zum EU-Binnenmarkt sichern und ausbauen sowie die Wiederaufnahme in die EU-Forschungs- und Bildungsprogramme erreichen. Die EU ist der mit Abstand wichtigste Wirtschaftspartner der Schweiz.
Zweitens soll mit der sogenannten Nachhaltigkeitsinitiative eine 10-Millionen-Einwohner-Schweiz verhindert werden. Das ist faktisch nur möglich, wenn das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU gekündigt wird. Die Personenfreizügigkeit ist ein Kernelement der bilateralen Verträge mit der EU und wesentlich mitverantwortlich für den Erfolg des Wirtschaftsstandorts Schweiz.
Drittens soll mit der Grenzschutzinitiative insbesondere die illegale Migration in die Schweiz eingedämmt werden. Dazu soll es wieder systematische Kontrollen von Einreisenden an den Schweizer Grenzen geben. Sollte dies nicht vereinbar sein mit internationalen Abkommen, soll der Bundesrat neu verhandeln. Sollte dies nicht gelingen, sollen die Abkommen auf den nächstmöglichen Termin gekündigt werden. Zudem sollen Migranten, die über einen sicheren Drittstaat einreisen, keine Einreise und kein Asyl mehr gewährt werden. Ferner sieht der Initiativtext vor, dass der Bundesrat ein jährliches Asylverfahrenskontingent von höchstens 5000 Personen festlegen kann. Die Grenzschutzinitiative stellt damit die Schengen- und Dublin-Assoziierungsabkommen mit der EU in Frage – zwei weitere Kernelemente der bilateralen Verträge.
Viertens soll mit der Neutralitätsinitiative eine rigide Form der schweizerischen Neutralität in der Bundesverfassung verankert werden. Damit würden der Schweiz unter anderem «nichtmilitärische Zwangsmassnahmen» gegen kriegführende Staaten untersagt. Damit gemeint sind Sanktionen, wie sie die Schweiz zurzeit etwa gegen Russland, das die Ukraine angegriffen hat, mitträgt. Die Schweiz dürfte also in Zukunft in einem Konflikt zwischen Staaten nicht mehr zwischen Aggressor und Opfer unterscheiden und den Aggressor verurteilen, was gegen die Uno-Charta verstösst. Sie würde auch verhindern, dass die Schweiz selbständige Wirtschaftssanktionen ergreifen kann. Die Annahme dieser Initiative würde die schweizerische Aussenpolitik noch zahnloser machen, als sie das jetzt schon ist – sie würde sie vollständig entmündigen.

Im Namen der Souveränität

All diese Machenschaften und Initiativen der SVP und ihr nahestehender nationalkonservativer Kreise sind gegen eine welt- und europaoffene Schweiz gerichtet. Sie wollen, dass sich die Schweiz politisch abschottet und ins Réduit zurückzieht – dies im Namen einer masslos überhöhten Souveränität, die es absolut in der heutigen global vernetzten Welt nicht mehr gibt. Die Aussenpolitik wird auf die Neutralität reduziert und die Aussenwirtschaftspolitik auf den Abschluss von Freihandelsabkommen ohne Integrationsfunktion.
Aber wollen das auch die Schweizerinnen und Schweizer? Zwei neue Umfragen zeigen, dass das eine klare Mehrheit anders will. Da wäre einmal die Umfrage «Standort Schweiz 2024 – Europafragen», die gfs.bern im Auftrag des Branchenverbands Interpharma diesen Sommer durchgeführt hat. Danach sieht eine deutliche Mehrheit von 65 Prozent der befragten Schweizerinnen und Schweizer hauptsächlich Vorteile in den bilateralen Verträgen Schweiz-EU. Sie schätzen etwa den teilweisen hindernisfreien Zugang zum EU-Binnenmarkt (84 Prozent) sowie zu den Bildungs- und Forschungsprogrammen der EU (82 Prozent). Als Vorteil gesehen wird auch die Möglichkeit, überall in der EU wohnen, arbeiten und studieren zu können (77 Prozent).
Als Nachteile der bilateralen Verträge gesehen werden unter anderem der Druck auf die einheimischen Löhne durch die Personenfreizügigkeit (63 Prozent) und die höheren Miet- und Immobilienpreise aufgrund der Zuwanderung aus der EU (61 Prozent). Eine Mehrheit der Stimmberechtigten ist auch der Meinung, dass die Zuwanderung aus der EU eine Belastung für die Sozialwerke darstellt (56 Prozent).
Weil die Vorteile des Bilateralismus überwiegen, finden es 79 Prozent der Befragten richtig, dass die Schweiz Verhandlungen mit der EU über ein neues, drittes bilaterales Vertragspaket aufgenommen hat. Dabei ist die Stimmbevölkerung durchaus bereit, in umstrittenen Fragen Kompromisse der Schweiz mit der EU zu akzeptieren. Besonders deutlich ist das beim vom Gewerkschaftsbund zur heiligen Kuh erhobenen Lohnschutz (85 Prozent) und bei der Öffnung des Schweizer Strommarkts (63 Prozent). Knapp sind die Mehrheiten dagegen bei der Übernahme von EU-Recht im Rahmen bestehender Verträge, wenn dabei im Gegenzug das Referendumsrecht nicht ausgehebelt wird (55 Prozent), und bei der Anerkennung einer Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) im Rahmen von Vertragsstreitigkeiten (50 Prozent). Auf der anderen Seite wäre nur eine Minderheit bereit, einen Kompromiss bezüglich der Übernahme der Unionsbürgerschaft einzugehen (47 Prozent). Insgesamt wären 71 Prozent der Stimmberechtigten mit einem Vertragspaket mit solchen Kompromissen einverstanden.

Zuwanderung bereitet Sorgen

Die gfs-Umfrage zu den bilateralen Verträgen zeigt es: Die Zuwanderung aus der EU bereitet den Schweizerinnen und Schweizern Sorge. 65 Prozent von ihnen beunruhigt denn auch die Aussicht auf eine 10-Millionen-Einwohner-Schweiz. Trotzdem lehnt eine klare Mehrheit von 61 Prozent der Befragten einen Zuwanderungsstopp ab. Das sind Resultate einer aktuellen Umfrage von Demoscope im Auftrag des Projekts Chancenbarometer 2024 der Larix Foundation. Vorschläge zur Regulierung der Zuwanderung aus der EU, Eingriffe in die Personenfreizügigkeit mit der EU sowie Massnahmen zur Stärkung des inländischen Arbeitskräftepotenzials finden aber breite Zustimmung. So wird etwa die Idee eines Punktesystems für Zuwanderer von 65 Prozent der Befragten unterstützt. Einer Zuwanderungsgebühr könnten 53 Prozent etwas abgewinnen. 63 Prozent der Stimmberechtigten sind für die Abschaffung der Heiratsstrafe, 70 Prozent sprechen sich für mehr Entlastungen bei der Kinderbetreuung aus und 73 Prozent sehen in der Flexibilisierung des AHV-Alters einen Lösungsansatz.
Die Befragten sehen aber auch einen wichtigen Vorteil der Zuwanderung: Sie begünstigt das Wirtschaftswachstum. 56 Prozent finden denn auch, dass die Schweiz auch in Zukunft auf ein Wirtschaftswachstum ähnlich wie in den vergangenen Jahren angewiesen ist.
Die Umfragen von gfs.bern und Demoscope zeigen, dass sich eine deutliche Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer für die Verhandlungen über die Bilateralen III und gegen einen Zuwanderungsstopp ausspricht. Sie wollen keine Abschottung der Schweiz und keinen Rückzug ins Réduit, wie sie die SVP und ihr nahestehende nationalkonservative Kreise anstreben. Dabei haben sie ein durchaus differenziertes Bild der bilateralen Verträge und der Zuwanderung. Sie sehen nicht nur Vorteile, sondern auch Nachteile. In der Gesamtschau aber finden sie, dass die Schweiz ein geregeltes Verhältnis zur EU und eine massvolle Zuwanderung braucht.
Die beiden Umfragen bestätigen frühere Ergebnisse, die im Rahmen der Verhandlungen über das institutionelle Rahmenabkommen erhoben wurden und sich hier zusammengefasst finden. Sie haben den Bundesrat und die Politik nicht vom Argument abgehalten, dass das Abkommen dem Volk nicht zugemutet werden kann und auf die Umfragen kein Verlass ist. Die Umfragen werden nur beachtet, wenn sie eigenen Interessen dienen. Es bleibt die Hoffnung, dass es diesmal anders sein wird. Jedenfalls kann mit einer gewissen Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die grosse Mehrheit der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger den Bilateralen III positiv gegenüber steht und die Réduit-Initiativen der SVP in einer Volksabstimmung einen schweren Stand haben werden.