Mit Homestories gegen Europa von Daniel Woker

Weil Regierung und Parlament zur wichtigsten aussenpolitischen Aufgabe der Schweiz, der Europapolitik, stumm bleiben, haben die EU-Gegner leichtes Spiel. Ehemalige helvetische Grössen unterstützen nun die Kampagne der Bewegung Kompass/Europa gegen die Bilateralen III.

Martin Gollmer hat am 7. Oktober auf dieser Website («Ein David gegen zwei Goliaths») aufgezeigt, was die Anti-EU-Initiative von Kompass/Europa will und wo deren gut finanzierte Kampagne falsch liegt und Unwahrheiten verbreitet. Tatsächlich geht die Kompass-Initiative sowohl an der europäischen Realität wie an den Bedürfnissen der Schweiz vorbei.

So verlangt die Initiative, dass in der Zukunft zahlreiche Staatsverträge sowohl dem Volk wie den Ständen (Kantonen) zur Annahme oder Ablehnung unterbreitet werden müssen (obligatorisches Referendum). Ebendies ist in Form einer Initiative der Aktion für eine unabhängige Schweiz (Auns; heute: Pro Schweiz) im Jahr 2012 von 75 Prozent des Stimmvolks verworfen worden.

Verzerrung zugunsten kleiner Kantone

Die Anti-Europa-Initiative will bei kommenden Abstimmungen zu bilateralen Verträgen mit der EU auch obligatorisch ein Ständemehr verlangen. Dadurch würde die Gesetzgebung massiv zugunsten kleinerer Kantone verzerrt. Es geht nicht an, dass in aussenpolitischen Fragen, welche die kantonale Souveränität nicht tangieren, eine Stimme aus Glarus hundert Mal mehr zählt als eine aus Zürich.

Mit direkter Demokratie hat das nichts zu tun, wohl aber mit der Hoffnung, dass die Landbevölkerung, die tendenziell konservativ abstimmt, eine kommende Europa-Vorlage bodigen könnte. Die Zuger Finanzhaie fürchten nämlich wegen zukünftigen EU-Bestimmungen gegen den Kasinokapitalismus geschäftliche Nachteile.

Zu Besuch bei Kurt Aeschbacher

«Beim Eintreten in die Wohnung kommt mir die Hündin schwanzwedelnd entgegen und bringt mir ihr Stofftier.» So beginnt eine als Interview kaschierte Homestory in einem grossen schweizerischen Zeitungsverbund mit dem Ex-Fernsehmoderator Kurt Aeschbacher. Dieser gibt zahlreiche der faktenfreien «Tatsachen» aus dem Skript der Kompass-Initianten zum Besten. So etwa, dass wir mit den Bilateralen III alle EU-Gesetze «automatisch» übernehmen müssten.

Das stimmt nicht. Jede Übernahme ist letztlich von einem schweizerischen Entscheid abhängig. Dies gesagt, entspricht schon heute eine Mehrheit schweizerischer Gesetze ganz oder grösstenteils europäischer Gesetzgebung, und zwar ganz einfach, weil diese erstens neue Materien vernünftig regeln und zweitens den Zugang zum europäischen Binnenmarkt aufrechterhalten. Der wirtschaftliche Austausch mit der EU war und ist für einen guten Teil des schweizerischen Wohlstandes verantwortlich.

Dass wir angeblich «gut mit bestehenden Abkommen leben können», ist eine weitere Lüge aus der Giftküche der Kompass-Initianten. Einige der bestehenden bilateralen Abkommen mit der EU sind schon abgelaufen, was schweizerischen Exporteuren etwa in der Medizinalbranche unnötige Arbeit und Kosten verursacht. Andere werden in naher Zukunft verfallen. Nichts anderes als dies bildet ja den Hauptgrund für unsere intensiven Verhandlungen mit Brüssel.

Die Mär vom EU-Monster

Wenn ihnen andere Argumente ausgehen, machen die Kompass-Initianten auch etwa geltend, die EU sei ein «bürokratisches Monster».

Fakt ist: Die EU beschäftigt insgesamt 60’000 Personen weltweit. Die schweizerische Bundesverwaltung und der Kanton Zürich zusammen kommen auf rund 80’000 Personen. Genauso wie unsere Staatsangestellten für eine Vielzahl von öffentlichen Aufgaben arbeiten, sind die EU-Beamten zuständig für das reibungslose Funktionieren des erwähnten Binnenmarktes, ebenso etwa für die weltweit fortschrittlichsten Richtlinien für Klimapolitik oder auch den Schutz der EU-Aussengrenzen.

Geradezu rührend sind Aeschbachers Erzählungen, wie er seinen staunenden Nachbarn in Frankreich die Vorteile unserer halbdirekten Demokratie vor Augen führt. Nun lässt sich das von seiner Geschichte und Geographie, aber auch von weitgehender staatlicher Dienstleistung für seine Bürger geprägte politische System Frankreichs nicht mit jenem der Eidgenossenschaft vergleichen. Beide Systeme haben ihre Vor- und Nachteile. Wo beispielsweise eine schweizerische Mittelklassefamilie allein für ihre Gesundheitsversorgung (ohne Zahnarzt) einen erheblichen Teil ihres Einkommens ausgeben muss, erhalten Franzosen gleichwertige medizinische Dienstleistungen für einen kleinen Bruchteil dieser Summen.

Angewiesen auf Solidarität und Schutz der EU

Was stört an Aeschbachers Ausführungen, ist ihr aus dem Anti-EU-Skript von Kompass/Europa übernommenes Dogma, wir seien politisch und strukturell nicht mit der EU kompatibel. Das ist Unsinn. Politisch bleibt die halbdirekte schweizerische Demokratie in jeder Form der Zusammenarbeit bis und mit einem Beitritt zur EU unangefochten. Das gilt ebenso für die föderalistische Struktur der Schweiz.

Die EU ist ein Zusammenschluss von politisch und strukturell sehr verschiedenen Ländern, die aber überzeugt sind, dass Europa auf globaler Ebene nur gemeinsam bestehen kann. In Anbetracht des Gewichts gegenwärtiger und zukünftiger Grossmächte kann nur ein gemeinsames Europa seinen Bürgern und Bürgerinnen Schutz und nachhaltiges Wachstum bieten. Dabei konstruktiv mitzumachen, sollte für die kerneuropäische Schweiz sowohl Aufgabe als auch Ehre sein.

Ulrich Ochsenbein und der Neue Sonderbund von Thomas Cottier

Die Epoche des Sonderbunds in den 1840er-Jahren hat Ähnlichkeiten mit der heutigen Zeit. Beide Male geht es um die Souveränität. Brauchte es damals einen weitsichtigen historischen Verfassungskompromiss, um den Konflikt zwischen den katholisch-konservativen Kantonen und den protestantisch-liberalen Ständen zu überwinden, ist jetzt erneut ein historischer Kompromiss vonnöten: Diesmal zwischen dem Neuen Sonderbund und jenen Kreisen, die für die Integration der Schweiz in Europa einstehen. Er besteht darin, die Ziele der Integration unseres Landes in der Verfassung zu verankern, aber die Mittel dazu offenzulassen. So kann die Schweiz ihre Heimat in Europa finden. Das ist das zentrale Anliegen der Volksinitiative für eine starke Schweiz in Europa (Europa-Initiative).

Hier geht es zum Aufsatz von Thomas Cottier (PDF)

Zur Rolle des Schiedsgerichts bei den Bilateralen von Ulrich E. Gut

Die Gegnerschaft einer neuen Vertragsgrundlage für die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) erweckt den Eindruck, die vorgesehene Streitschlichtung laufe faktisch auf eine umfassende Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg hinaus. Das vorgesehene Schiedsgericht sei ein Feigenblatt zur Verharmlosung des Souveränitätsverlusts, der der Schweiz drohe. Was ist davon zu halten?

Aktuelle Diskussionsgrundlage ist Kapitel 10, «Dispute Settlement», des «Common Understanding», das die beiden Verhandlungsparteien Schweiz und EU als Ausgangsbasis der laufenden Verhandlungen über das Vertragspaket «Bilaterale III» veröffentlichten:

«The European Commission and Switzerland share the view that, in the event of difficulty of interpretation or application of the bilateral agreements in the fields related to the internal market in which Switzerland participates, the parties should consult each other in the respective sectoral committees to find a mutually acceptable solution. If a sectoral committee does not manage to find a solution to the abovementioned difficulty, the parties should have the possibility to ask an arbitral tribunal, where both parties are represented, to settle the dispute. Where the dispute raises a question concerning the interpretation or application of a provision referred to in paragraph 8 second sentence, and if the interpretation of that provision is relevant to the settlement of the dispute and necessary to enable the arbitral tribunal to decide on the matter, the arbitral tribunal should refer that question to the Court of Justice of the EU for a ruling that would be binding on the arbitral tribunal. Where the dispute raises a question concerning the interpretation or application of a provision that falls within the scope of an exception from the dynamic alignment obligation set out in paragraph 9 and where such dispute does not involve the interpretation or application of concepts of Union law, the arbitral tribunal should decide the dispute without referring to the Court of Justice of the EU. »

Vorweg ist zu fragen, was im Streitfall geschähe, wenn kein rechtliches Streitschlichtungsverfahren vereinbart und kein Schiedsgericht vorgesehen wäre. Die Auseinandersetzungen würden zwischen politischen Behörden ausgetragen. Käme es zu keiner Einigung und würde eine Streitpartei deshalb Gegenmassnahmen treffen wollen, würde sie diese nach ihrem Gutdünken bestimmen. Wenn die andere Partei diese Gegenmassnahmen als unverhältnismässig betrachten würde, könnte sie vielleicht in bestimmten Fällen bei der Welthandelsorganisation WTO klagen, hätte aber oft kein Gegenmittel, ausser die Auseinandersetzung durch eigene Gegen-Gegenmassnahmen eskalieren zu lassen.
Die Schaffung eines Verfahrens zur rechtlichen Regelung von Streitigkeiten und eines Schiedsgerichts ist deshalb im Interesse beider Parteien, wenn sie dadurch vor unverhältnismässigen Gegenmassnahmen geschützt werden und eine für die bilateralen Beziehungen gefährliche Eskalation verhindert wird.

Unparteiische Rechtsprechung vonnöten

Voraussetzung ist allerdings, dass das Schiedsgericht zu einer unparteiischen Rechtsprechung befähigt wird. Die Gegnerschaft einer neuen Grundlage der bilateralen Verträge erweckt nun den Eindruck, die Streitfälle, die dem Schiedsgericht vorgelegt würden, würden faktisch samt und sonders und definitiv durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg entschieden. Das Schiedsgericht werde dessen Urteile nur noch abnicken können. Der EuGH sei aber eine Behörde der Gegenpartei, mit dem politischen Auftrag, die Integration Europas zu fördern, womit ihm schweizerische EU-Gegner geradezu absprechen, überhaupt ein Gericht zu sein. Was ist davon zu halten?
Paragraph 10 des «Common Understanding» besagt, was dem EuGH zu unterbreiten ist:

Where the dispute raises a question concerning the interpretation or application of a provision referred to in paragraph 8 second sentence, and if the interpretation of that provision is relevant to the settlement of the dispute and necessary to enable the arbitral tribunal to decide on the matter, the arbitral tribunal should refer that question to the Court of Justice of the EU for a ruling that would be binding on the arbitral tribunal.

Wenn der Streit eine Frage der Auslegung von EU-Recht aufwirft, die für die Streitschlichtung relevant ist und deren Beantwortung nötig ist, damit das Schiedsgericht ein Urteil fällen kann, hat das Schiedsgericht diese Frage dem EuGH zu unterbreiten, und dessen Antwort ist für das Schiedsgericht verbindlich.
Sodann legt das Common Understanding dar, was dem, EuGH nicht zu unterbreiten ist:

« Where the dispute raises a question concerning the interpretation or application of a provision that falls within the scope of an exception from the dynamic alignment obligation set out in paragraph 9 and where such dispute does not involve the interpretation or application of concepts of Union law, the arbitral tribunal should decide the dispute without referring to the Court of Justice of the EU. »

Schiedsgericht ist kein Feigenblatt

Weshalb verdient das vorgesehene Schiedsgericht wirklich diese Bezeichnung und wäre kein Feigenblatt?
Erstens, weil nur ein Teil der Fälle, die vor das Schiedsgericht kommen werden, Fragen der Auslegung von EU-Recht aufwerfen werden.
Zweitens, weil auch in den Fällen, in EU-Recht auszulegen ist, dessen Auslegung nur einer von mehreren Faktoren ist, die zur Urteilsfindung des Schiedsgerichts beitragen. Wichtig sind auch die Abklärung eines Sachverhalts, der umstritten sein kann, die Anwendung der ausgelegten Norm auf den konkreten Sachverhalt, allfällige Ermessensentscheide, und schliesslich die Bestimmung angemessener, verhältnismässiger Konsequenzen, wenn eine Vertragsverletzung festgestellt wird.

Bedeutung der Auslegungskompetenz des EuGH

Die Auslegung von EU-Recht durch den EuGH kann in einem Streitfall von grosser Bedeutung sein. Es wäre rechtlich unrichtig und politisch kontraproduktiv, dies zu bestreiten.
Matthias Oesch, Professor für öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht am Institut für Völkerrecht und ausländisches Verfassungsrecht der Universität Zürich, legt in seinem kürzlich erschienenen Buch «Der EuGH und die Schweiz» einerseits dar, dass viele EuGH-Urteile bereits heute in der Schweiz bedeutsam sind. In einem am 21. Januar 2024 erschienenen Interview mit «Unser Recht» sagt er:

«Die Schweiz übernimmt seit Jahrzehnten Urteile des EuGH, sei es auf dem Weg der Rechtsvergleichung und des autonomen Nachvollzugs, sei es bei der Durchführung der bilateralen Abkommen. Unsere Juristinnen und Juristen sind sich gewohnt, Urteile des EuGH zu rezipieren und das schweizerische Recht im Licht der Dikta aus Luxemburg weiterzuentwickeln. Der Schritt, dem EuGH neu eine Rolle bei der Streitbeilegung zuzuordnen, wäre institutionell und rechtskulturell ein beachtlicher – praktisch wären die Folgen aber überschaubar.»

Präzisierung der Zuständigkeit des EuGH

Für die Verhandlungen schlägt Matthias Oesch jedoch einschränkende Präzisierungen der Zuständigkeit des EuGH vor. Auszug aus dem Interview:

«Die neuen Verhandlungen sollten tatsächlich genutzt werden, um das 2014-2018 entwickelte Modell weiter zu perfektionieren. Ein wesentliches Augenmerk sollte darauf gerichtet sein, die Verpflichtung eines Schiedsgerichts zur Anrufung des EuGH möglichst klar zu umreissen. Eine Vorlagepflicht, welche sich einzig um das Vorliegen eines «Begriffs des EU-Rechts» (gemäss Entwurf des institutionellen Abkommens von 2018) oder «eines Konzepts des EU-Rechts» (Common Understanding von 2023) dreht, ist konkretisierungsbedürftig.
Eine Vorlagepflicht scheint klarerweise zu bestehen, wenn es um die Klärung eines unionsrechtlichen Konzepts im EU-Recht geht, und die Einheitlichkeit der Auslegung und Anwendung in der EU gewährleistet sein muss. In dieser Konstellation beruht die Befassung des EuGH auf der unionsrechtlich bedingten, nachvollziehbaren Logik: Es handelt sich um EU-Recht, das zwar auf die Schweiz ausgedehnt wird, seinen genuin unionsrechtlichen Charakter aber nicht verliert. Es bleibt wesensmässig EU-Recht, dessen Auslegung dem EuGH obliegt.
Die Ausgangslage präsentiert sich nach meinem Dafürhalten anders, wenn ein Konzept des EU-Rechts im bilateralen Kontext EU-Schweiz geklärt werden muss. Hier mag einem Schiedsgericht eine durchaus eigenständige Rolle zukommen. Die der Klärung eines Konzepts des EU-Rechts im Binnenmarktkontext nachgelagerte Frage, ob im Verhältnis zur Schweiz auf der Grundlage eines bilateralen Abkommens eine parallele oder eine von der EuGH-Praxis abweichende Auslegung sachgerecht ist, muss dem EuGH nicht vorgelegt werden. Ein Schiedsgericht ist in der Lage, diese «Übersetzungsaufgabe» zu leisten, ohne dass die Einheitlichkeit des EU-Rechts gefährdet würde. Ein Schiedsgericht legt diesfalls – anders formuliert – nicht EU-Recht aus (was zwingend dem EuGH vorbehalten bleibt), sondern wendet die Praxis des EuGH im bilateralen Kontext EU-Schweiz an.
Es ist, wie Sie zu Recht anmerken, unklar, ob der EuGH eine solche Umschreibung der Vorlagepflicht eines Schiedsgerichts akzeptieren würde. Dessen ungeachtet argumentieren gewichtige Stimmen, dass eine dergestalt eigenständige Rolle eines Schiedsgerichts auch auf der Grundlage der Umschreibung der Vorlagepflicht im Entwurf des institutionellen Abkommens von 2018 möglich wäre. Es würde diesfalls an den Schiedsgerichten liegen, eine Praxis zur Vorlagepflicht zu entwickeln – selbstredend unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben in Bezug auf die Autonomie des EU-Rechts und die Zuständigkeit des EuGH zu seiner verbindlichen Auslegung.»
*
Die juristische und politische Beurteilung des Streitschlichtungsverfahrens und insbesondere des Schiedsgerichts wird nicht allein entscheiden, ob das Ergebnis der laufenden Verhandlungen zwischen der EU und der Schweiz in Parlament und beim Volk mehrheitsfähig wird. Aber sie kann sich umso stärker auswirken, je umstrittener andere wichtige Kriterien bleiben, wie vor allem der Nutzen und die Notwendigkeit eines staatsvertraglich gesicherten guten Marktzugangs.

Ulrich E. Gut ist Jurist sowie ehemaliger Politiker (FDP) und Chefredaktor (Zürichsee-Zeitung). Heute arbeitet er als freischaffender Publizist. Der vorliegende Artikel erschien zuerst in seinem Blog PolitReflex.ch.

Eine Meinung, aber keine Ahnung von Daniel Woker

Die von den Finanzmilliardären der Private-Equity-Gesellschaft Partners Group angeführte und üppig finanzierte Kampforganisation Kompass/Europa gibt sich bieder bürgerlich, fördert aber mit ihrer EU-feindlichen Rhetorik den nationalkonservativen Populismus und Extremismus in der Schweiz.

 

Weil sie dank Tiefzinsperiode und mit einer tüchtigen Prise von Kasinokapitalismus im Steuerparadies Zug zu Finanzmilliardären geworden sind, glauben Alfred Gantner, Marcel Erni und Urs Wietlisbach, die drei Gründer der Partners Group, sie seien nun auch zur Politik berufen. Mit einer Initiative wollen sie zunächst den Bilateralen III, über die die Schweiz und die EU gegenwärtig verhandeln, den Garaus machen.

Kompass/Europa weiss, was sie nicht will – eine angebliche «Passivmitgliedschaft» der Schweiz in der EU –, aber nicht, wie der künftige Weg der Schweiz in Europa aussehen soll. Es wird vage auf überseeische Exportmärkte verwiesen sowie auf eine Fortführung bilateraler Zusammenarbeit auch ohne ein neues Abkommen mit der EU. Das ist unmöglich. Die zahlreichen Bereiche der Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU brauchen ein Dach, welches für beide gemeinsam ist, beide schützt und beide an anderen Problemen in Ruhe arbeiten lässt.

Von Brüssel einen Sonderweg allein für die Schweiz verlangen zu wollen, ist helvetischer Grössenwahnsinn. Höflicher, aber ebenso klar hat dies Brüssel gegenüber allen schweizerischen Unterhändlern immer wieder festgestellt. Entweder ein Abkommen mit institutionellen Bestimmungen oder ein schweizerisches (Wirtschafts-)Leben in der Kälte des europäischen Aussenseiters. Was in der Schweiz bislang von rechts-nationalistischen Populisten und Extremisten vertreten worden ist.

Finanzunternehmer und Mitläufer

Gehört Kompass/Europa mit ihrer lügnerischen Anti-EU Rhetorik nun nicht auch zu diesen, unbesehen der behaupteten Mittelstellung? Was die Partners Group sicher will, ist ihre offensichtlich lukrative Tätigkeit als Finanzdienstleistungsunternehmen ungestört von europäischen Regeln zum Schutz von Anlegern weiterführen.

Um mehr Publizität zu erlangen, hat sich Kompass/Europa mit einer Koterie helvetischer Prominenz von Kurt Aeschbacher bis Bernhard Russi umgeben. Was offensichtlich gelungen ist. Diese Promis haben sich von der trutzigen Rhetorik einer Tell-Schweiz einnehmen lassen, verstehen aber nicht, was für unser Land mit den Bilateralen III auf dem Spiel steht. Nicht nur der Verbleib im EU-Binnenmarkt, eingeschlossen Schengen und Dublin, sondern auch die Zukunft der Schweiz in Europa.

Schweiz zu klein

Kompass/Europa scheint keine Ahnung zu haben vom grossen Projekt der europäischen Einigung und den immensen Anstrengungen dahinter, unseren Kontinent wirtschaftlich und politisch auf Augenhöhe mit den Supermächten des 21. Jahrhunderts zu bringen. Die EU also, deren Vertreter sehen, dass die europäischen Länder einzeln weder wirtschaftlich noch politisch und schon gar nicht sicherheitspolitisch (Aggressor Putin!) in der Lage sind, sich gegenüber den Grossen (USA, China, Indien/ASEAN, dereinst wohl auch einmal Afrika) behaupten zu können. Man erinnert sich an den Ausspruch der ehemaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel: «Deutschland allein ist zu klein». Was für die Schweiz in noch erhöhtem Masse gilt.

Der hier oft gehörte Einwand der unabhängigen innovativen Kleinschweiz als dem künftigen «Singapur Europas» fällt flach. Singapur, wo der Schreibende sechs Jahre lang die Schweiz vertreten hat, ist ein Vorreiter des internationalen Zusammenschlusses zur Bündelung aller gleichgesinnten Kräfte, weil seine Dirigenten wissen, dass nur so der chinesische Drache im Zaun gehalten werden kann.

Ein David gegen zwei Goliaths von Martin Gollmer

Zwei schwerreiche Unternehmer ziehen gegen eine bilaterale Annäherung der Schweiz an die EU ins Feld: Ex-Ems-Chemie-Chef Christoph Blocher und seine SVP sowie neu auch Alfred Gantner mit Mitstreitern von der Private-Equity-Gesellschaft Partners Group mit ihrer Vereinigung Kompass/Europa. Gegen die beiden tritt eine finanziell wesentlich kleinere Brötchen backende Allianz um die GLP-Politikerin Sanija Ameti und ihre Operation Libero an. Die Allianz hatte im Frühjahr 2024 eine Initiative für eine aktive und ambitionierte Europapolitik der Schweiz lanciert.

Dem Bilateralismus, den die Schweiz seit 25 Jahren im Verhältnis zur EU pflegt, weht ein immer steiferer Wind entgegen: Neu will nun auch die EU-skeptische Vereinigung Kompass/Europa dagegen antreten. Sie hat Anfang Oktober die «Kompass-Initiative: für eine direkt-demokratische und wettbewerbsfähige Schweiz – keine EU-Passivmitgliedschaft» lanciert. Damit soll verhindert werden, dass die Schweiz «automatisch» EU-Recht übernimmt und der Europäische Gerichtshof (EuGH) als «oberste gerichtliche Instanz» in den Beziehungen Schweiz-EU eingesetzt wird. Das beeinträchtige die Souveränität der Schweiz und untergrabe die hierzulande gepflegte direkte Demokratie.

Mit der Kompass-Initiative soll zudem erreicht werden, dass «völkerrechtliche Verträge, die eine Übernahme wichtiger rechtssetzender Bestimmungen vorsehen» dem obligatorischen Referendum unterstellt werden. Die Bilateralen III, über die die Schweiz und die EU gegenwärtig verhandeln, müssten damit die Zustimmung einer Mehrheit von Volk und Ständen (Kantonen) erhalten, um in Kraft treten zu können. Mit einer Rückwirkungsklausel soll zudem sichergestellt werden, dass bei einer allfälligen Annahme der Kompass-Initiative nach Inkrafttreten der Bilateralen III diese nur Bestand hätten, wenn sie in einem obligatorischen Referendum mit Mehrheit von Volk und Ständen angenommen wurden. Ein Blick auf die Website von Kompass/Europa zeigt, dass es dabei nicht um möglichst viel Demokratie geht, sondern um möglichst keine Bilaterale III: «Die Bewegung spricht sich klar gegen ein Rahmenabkommen 2.0 aus und engagiert sich kraftvoll und entschieden dagegen.»

Verfassungsrechtlich hebelt die Initiative den Grundsatz des Parallelismus der Formen aus: So unterliegen heute Staatsverträge den gleichen Kriterien wie innerstaatliche Erlasse für das Referendum. Die Initiative will dies nun für Staatsverträge verschärfen und alle wichtigen Verträge dem obligatorischen Referendum von Volk und Ständen unterbreiten – selbst wenn es sich um Bestimmungen technischer Natur handelt wie z.B. Produkte- oder Produktionsstandards. Im Ergebnis wird die EU unter solchen Bedingungen an Verhandlungen mit der Schweiz kein Interesse haben. Die Schweiz kann dann solche Normen einseitig nachvollziehen, aber ohne Wirkung im EU-Binnenmarkt – ganz zum Nachteil von Unternehmen mit Standort Schweiz.

Verbreitung von Unwahrheiten

Auf der Website der Kompass-Initiative finden sich auch allerlei – wohl bewusst eingestreute – Unwahrheiten. Zwei Beispiele: So soll EU-Recht in Zukunft «automatisch» von der Schweiz übernommen werden müssen. Das ist falsch. Dynamische Rechtsübernahme heisst nicht automatisch, sondern fortlaufend (statt wie bisher nur periodisch). Dabei müssen Bundesrat, Parlament und – sofern das Referendum ergriffen wird – das Volk in jedem Fall zustimmen. Der (direkt-)demokratische Prozess in der Schweiz wird also nicht ausser Kraft gesetzt. Die Schweiz bleibt souverän und kann jederzeit die Übernahme von EU-Recht ablehnen. Allerdings müsste sie dann mit Ausgleichsmassnahmen der EU rechnen. Dies um zu verhindern, dass die Schweiz bei jeder erstbesten Gelegenheit ein Extrazüglein fährt.

Auch wird der EuGH nicht «oberste gerichtliche Instanz» in den Beziehungen Schweiz-EU, wie das Initiativ-Komitee behauptet. Er kommt nur dann und nur bei sogenannten Binnenmarktabkommen zum Zug, wenn sich die Schweiz und die EU im Streitfall in einem Schiedsgerichtverfahren nicht über die Auslegung von Begriffen des EU-Rechts einigen können. Abschliessend entscheidet in jedem Fall ein paritätisch zusammengesetztes Schiedsgericht, das sich dabei an die Begriffsauslegung des EuGH halten muss.

Die Kompass-Initiative nimmt für sich in Anspruch, die Standortvorteile der Schweiz zu «sichern» – die hiesigen Unternehmen hätten «auch ohne spezifische Verträge Zugang zum EU-Markt». In Tat und Wahrheit verschlechtern sich die Standortvorteile der Schweiz, wenn die Initiative angenommen würde. Die schweizerischen Unternehmen verlören die kostensparende hindernisfreie Beteiligung an wichtigen Teilen des Binnenmarkts – einen Zugang, den Unternehmen aus anderen Nicht-Mitgliedstaaten der EU so nicht haben. Die schweizerischen Unternehmen büssten so im Verkehr mit der EU Wettbewerbsvorteile ein. Das trifft vor allem KMU und damit das Rückgrat der schweizerischen Volkswirtschaft.

Angst vor strengen EU-Regeln

Wenn es darum geht, Standortvorteile zu sichern, dann dürfte es den Initianten der Kompass-Initiative vor allem um die Vorteile für ihr eigenes Geschäft gehen. Alfred Gantner sowie seine Mitstreiter Marcel Erni und Urs Wietlisbach, die die Vereinigung Kompass/Europa ins Leben gerufen haben, sind auch die Gründer der in Baar im Kanton Zug ansässigen Private-Equity-Gesellschaft Partners Group. Mit dieser auf Privatmarktanlagen spezialisierten Firma haben sie es zu einem Milliardenvermögen gebracht. Sie wollen mit möglichst hohen Hürden für neue bilaterale Verträge mit der EU verhindern, dass die Schweiz als heutiger sicherer Hafen dereinst auch die Bestimmungen für Finanzdienstleistungen von der EU übernimmt. Diese sind dort strenger reguliert als in der Schweiz.

Souveränität bewahren, direkte Demokratie erhalten, Standortvorteile sichern – von den Schalmeienklängen der drei Finanzhaie aus der Innerschweiz haben sich auch mehrere Schweizer Prominente verführen lassen. So unterstützen etwa die Ex-Skirennfahrer Bernhard Russi und Urs Lehmann, der Ex-Fernsehmoderator Kurt Aeschbacher sowie die Musiker Dieter Meier (Yello) und Chris von Rohr (Krokus) die Kompass-Initiative. Das macht diese nicht besser. Die Boulevardzeitung «Blick» hat nämlich mit den meisten dieser Prominenten gesprochen und dabei herausgeschält, dass sich diese bisher kaum mit dem Bilateralismus Schweiz-EU beschäftigt haben und deshalb von der Sache nur wenig verstehen. «Das ist nicht mein Metier, da habe ich zu wenig Ahnung», sagte etwa Dieter Meier.

Kampf für eine souveräne Schweiz

Gantner und Mitstreiter sind mit ihrer Vereinigung Kompass/Europa nicht die einzigen schwerreichen Unternehmer, die gegen die Bilateralen III ins Feld ziehen. Da sind auch noch Christoph Blocher und die von ihm aus dem Hintergrund mitgelenkte SVP. Blocher brachte es als ehemaliger Besitzer des in Domat/Ems im Kanton Graubünden ansässigen Spezialitätenchemiekonzerns Ems Chemie zu einem Milliardenvermögen. Blocher und die SVP schiessen aus allen Rohren gegen das neue bilaterale Vertragspaket, über das die Schweiz und die EU gegenwärtig verhandeln. Mit diesem Paket will die Schweiz unter anderem den hindernisfreien Zugang zu Teilen des EU-Binnenmarkts sichern und ausbauen sowie die Wiederaufnahme in die Forschungs- und Bildungsprogramme der EU erreichen.

Blocher unterstützt auch die von der SVP lancierte sogenannte Nachhaltigkeitsinitiative gegen eine 10-Millionen-Einwohner-Schweiz. Würde sie angenommen, müsste die Schweiz eventuell das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU kündigen. Dieses ist eines der Kernelemente der bilateralen Verträge und mitverantwortlich für den Erfolg des Wirtschaftsstandorts Schweiz. Die SVP mit Doyen Blocher im Hintergrund steht auch hinter der Grenzschutzinitiative, mit der die illegale Migration in die Schweiz bekämpft werden soll. Sie fordert etwa die Wiedereinführung systematischer Grenzkontrollen. Zudem sollen Migranten, die über einen sicheren Drittstaat einreisen, keine Einreise und kein Asyl mehr gewährt werden. Die Grenzschutzinitiative stellt damit die Schengen- und Dublin-Assoziierungsabkommen mit der EU in Frage – zwei weitere Kernelemente der bilateralen Verträge.

Blocher sieht die Eigenart der Schweiz – wie sie etwa in der direkten Demokratie, dem föderalistischen Staatsaufbau oder der immerwährenden Neutralität zum Ausdruck kommt – bedroht, wenn sich die Schweiz der EU annähert. Er tritt deshalb für eine möglichst souveräne und eigenständige Schweiz ein. Dabei blendet er aus, dass es eine absolute Souveränität in der heutigen globalisierten Welt gar nicht mehr gibt – schon gar nicht für einen Kleinstaat wie die Schweiz, dessen weltweite Vernetzung für seinen Wohlstand mitverantwortlich ist.

Gewinnt Geld oder Vernunft?

Gantner und Mitstreiter sowie Blocher – sie alle bekämpfen also die bilateralen Verträge und insbesondere die Bilateralen III. Sie können dabei zusammen mit Kompass/Europa und der SVP Millionen für ihren Kampf aufwenden. Sie wollen die Schweiz auf Distanz zur EU halten. Sie sind die Goliaths. Da hat Sanija Ameti mit ihrer Europa-Allianz einen schweren Stand. Die GLP-Politikerin ist nicht Unternehmerin und kann kein grosses Vermögen für ihr Anliegen einsetzen. Zudem ist ihre Reputation angeschlagen, seit bekannt geworden ist, dass sie mit einer Waffe auf ein Heiligenbild geschossen hat. Obwohl sie Reue gezeigt und sich entschuldigt hat, ist sie seither einer mittelalterlich anmutenden Hexenjagd ausgesetzt. Sie ist David.

Ameti ist Co-Präsidentin der Operation Libero, die eine europapolitische Allianz von Organisationen der Zivilgesellschaft anführt. Zu dieser Allianz gehören auch die Vereinigung Die Schweiz in Europa, die Europäische Bewegung Schweiz, Studierendenverbände, die Grüne Partei Schweiz und weitere Organisationen. Die Allianz hat im Frühjahr die sogenannte Europa-Initiative lanciert, mit der Bundesrat und Parlament zu einer aktiven und ambitionierten Europapolitik verpflichtet werden sollen. Ameti und ihre Allianz tragen damit den vielfältigen und sehr engen Beziehungen der Schweiz zur EU Rechnung. Sie unterstützen Verhandlungen für die Bilateralen III und treten für ein umfassend geregeltes Verhältnis der Schweiz zur EU ein. Gemäss neuen Umfragen tut das eine klare Mehrheit der Schweizer Stimmberechtigten genauso und bestätigt damit frühere Umfragen, die alle stets eine Unterstützung des bilateralen Wegs von über 60 Prozent aufwiesen.

Man darf gespannt sein, wer diesen Kampf David – die Europa-Allianz mit Ameti – gegen zwei Goliaths – Kompass/Europa mit Gantner und Mitstreitern sowie die SVP mit Blocher – gewinnt. Zu hoffen ist, dass in der Schweizer Europapolitik schliesslich nicht das Geld obsiegt, sondern die Vernunft. Frei nach dem britischen Ökonomen und Politiker John Maynard Keynes lässt sich sagen: «They have all the money bags, but we have the brains.»

Klares Nein zu einer Réduit-Schweiz von Martin Gollmer

Zwei neue Umfragen – eine zu den bilateralen Verträgen, die andere mit Fokus auf die Zuwanderung – zeigen, dass eine klare Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer eine Réduit-Schweiz, wie sie der SVP und ihr nahestehender nationalkonservativer Kreise vorschwebt, ablehnt.

Die SVP und andere nationalkonservative Gruppierungen machen auf Abschottung der Schweiz. Sie sind dabei zurzeit gleich auf vier Politikfeldern aktiv. Erstens versuchen sie die Bilateralen III zu torpedieren, über die die Schweiz und die EU gegenwärtig verhandeln. Mit den Bilateralen III will die Schweiz unter anderem wieder geregelte Beziehungen zur EU herstellen, den teilweise hindernisfreien Zugang zum EU-Binnenmarkt sichern und ausbauen sowie die Wiederaufnahme in die EU-Forschungs- und Bildungsprogramme erreichen. Die EU ist der mit Abstand wichtigste Wirtschaftspartner der Schweiz.
Zweitens soll mit der sogenannten Nachhaltigkeitsinitiative eine 10-Millionen-Einwohner-Schweiz verhindert werden. Das ist faktisch nur möglich, wenn das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU gekündigt wird. Die Personenfreizügigkeit ist ein Kernelement der bilateralen Verträge mit der EU und wesentlich mitverantwortlich für den Erfolg des Wirtschaftsstandorts Schweiz.
Drittens soll mit der Grenzschutzinitiative insbesondere die illegale Migration in die Schweiz eingedämmt werden. Dazu soll es wieder systematische Kontrollen von Einreisenden an den Schweizer Grenzen geben. Sollte dies nicht vereinbar sein mit internationalen Abkommen, soll der Bundesrat neu verhandeln. Sollte dies nicht gelingen, sollen die Abkommen auf den nächstmöglichen Termin gekündigt werden. Zudem sollen Migranten, die über einen sicheren Drittstaat einreisen, keine Einreise und kein Asyl mehr gewährt werden. Ferner sieht der Initiativtext vor, dass der Bundesrat ein jährliches Asylverfahrenskontingent von höchstens 5000 Personen festlegen kann. Die Grenzschutzinitiative stellt damit die Schengen- und Dublin-Assoziierungsabkommen mit der EU in Frage – zwei weitere Kernelemente der bilateralen Verträge.
Viertens soll mit der Neutralitätsinitiative eine rigide Form der schweizerischen Neutralität in der Bundesverfassung verankert werden. Damit würden der Schweiz unter anderem «nichtmilitärische Zwangsmassnahmen» gegen kriegführende Staaten untersagt. Damit gemeint sind Sanktionen, wie sie die Schweiz zurzeit etwa gegen Russland, das die Ukraine angegriffen hat, mitträgt. Die Schweiz dürfte also in Zukunft in einem Konflikt zwischen Staaten nicht mehr zwischen Aggressor und Opfer unterscheiden und den Aggressor verurteilen, was gegen die Uno-Charta verstösst. Sie würde auch verhindern, dass die Schweiz selbständige Wirtschaftssanktionen ergreifen kann. Die Annahme dieser Initiative würde die schweizerische Aussenpolitik noch zahnloser machen, als sie das jetzt schon ist – sie würde sie vollständig entmündigen.

Im Namen der Souveränität

All diese Machenschaften und Initiativen der SVP und ihr nahestehender nationalkonservativer Kreise sind gegen eine welt- und europaoffene Schweiz gerichtet. Sie wollen, dass sich die Schweiz politisch abschottet und ins Réduit zurückzieht – dies im Namen einer masslos überhöhten Souveränität, die es absolut in der heutigen global vernetzten Welt nicht mehr gibt. Die Aussenpolitik wird auf die Neutralität reduziert und die Aussenwirtschaftspolitik auf den Abschluss von Freihandelsabkommen ohne Integrationsfunktion.
Aber wollen das auch die Schweizerinnen und Schweizer? Zwei neue Umfragen zeigen, dass das eine klare Mehrheit anders will. Da wäre einmal die Umfrage «Standort Schweiz 2024 – Europafragen», die gfs.bern im Auftrag des Branchenverbands Interpharma diesen Sommer durchgeführt hat. Danach sieht eine deutliche Mehrheit von 65 Prozent der befragten Schweizerinnen und Schweizer hauptsächlich Vorteile in den bilateralen Verträgen Schweiz-EU. Sie schätzen etwa den teilweisen hindernisfreien Zugang zum EU-Binnenmarkt (84 Prozent) sowie zu den Bildungs- und Forschungsprogrammen der EU (82 Prozent). Als Vorteil gesehen wird auch die Möglichkeit, überall in der EU wohnen, arbeiten und studieren zu können (77 Prozent).
Als Nachteile der bilateralen Verträge gesehen werden unter anderem der Druck auf die einheimischen Löhne durch die Personenfreizügigkeit (63 Prozent) und die höheren Miet- und Immobilienpreise aufgrund der Zuwanderung aus der EU (61 Prozent). Eine Mehrheit der Stimmberechtigten ist auch der Meinung, dass die Zuwanderung aus der EU eine Belastung für die Sozialwerke darstellt (56 Prozent).
Weil die Vorteile des Bilateralismus überwiegen, finden es 79 Prozent der Befragten richtig, dass die Schweiz Verhandlungen mit der EU über ein neues, drittes bilaterales Vertragspaket aufgenommen hat. Dabei ist die Stimmbevölkerung durchaus bereit, in umstrittenen Fragen Kompromisse der Schweiz mit der EU zu akzeptieren. Besonders deutlich ist das beim vom Gewerkschaftsbund zur heiligen Kuh erhobenen Lohnschutz (85 Prozent) und bei der Öffnung des Schweizer Strommarkts (63 Prozent). Knapp sind die Mehrheiten dagegen bei der Übernahme von EU-Recht im Rahmen bestehender Verträge, wenn dabei im Gegenzug das Referendumsrecht nicht ausgehebelt wird (55 Prozent), und bei der Anerkennung einer Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) im Rahmen von Vertragsstreitigkeiten (50 Prozent). Auf der anderen Seite wäre nur eine Minderheit bereit, einen Kompromiss bezüglich der Übernahme der Unionsbürgerschaft einzugehen (47 Prozent). Insgesamt wären 71 Prozent der Stimmberechtigten mit einem Vertragspaket mit solchen Kompromissen einverstanden.

Zuwanderung bereitet Sorgen

Die gfs-Umfrage zu den bilateralen Verträgen zeigt es: Die Zuwanderung aus der EU bereitet den Schweizerinnen und Schweizern Sorge. 65 Prozent von ihnen beunruhigt denn auch die Aussicht auf eine 10-Millionen-Einwohner-Schweiz. Trotzdem lehnt eine klare Mehrheit von 61 Prozent der Befragten einen Zuwanderungsstopp ab. Das sind Resultate einer aktuellen Umfrage von Demoscope im Auftrag des Projekts Chancenbarometer 2024 der Larix Foundation. Vorschläge zur Regulierung der Zuwanderung aus der EU, Eingriffe in die Personenfreizügigkeit mit der EU sowie Massnahmen zur Stärkung des inländischen Arbeitskräftepotenzials finden aber breite Zustimmung. So wird etwa die Idee eines Punktesystems für Zuwanderer von 65 Prozent der Befragten unterstützt. Einer Zuwanderungsgebühr könnten 53 Prozent etwas abgewinnen. 63 Prozent der Stimmberechtigten sind für die Abschaffung der Heiratsstrafe, 70 Prozent sprechen sich für mehr Entlastungen bei der Kinderbetreuung aus und 73 Prozent sehen in der Flexibilisierung des AHV-Alters einen Lösungsansatz.
Die Befragten sehen aber auch einen wichtigen Vorteil der Zuwanderung: Sie begünstigt das Wirtschaftswachstum. 56 Prozent finden denn auch, dass die Schweiz auch in Zukunft auf ein Wirtschaftswachstum ähnlich wie in den vergangenen Jahren angewiesen ist.
Die Umfragen von gfs.bern und Demoscope zeigen, dass sich eine deutliche Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer für die Verhandlungen über die Bilateralen III und gegen einen Zuwanderungsstopp ausspricht. Sie wollen keine Abschottung der Schweiz und keinen Rückzug ins Réduit, wie sie die SVP und ihr nahestehende nationalkonservative Kreise anstreben. Dabei haben sie ein durchaus differenziertes Bild der bilateralen Verträge und der Zuwanderung. Sie sehen nicht nur Vorteile, sondern auch Nachteile. In der Gesamtschau aber finden sie, dass die Schweiz ein geregeltes Verhältnis zur EU und eine massvolle Zuwanderung braucht.
Die beiden Umfragen bestätigen frühere Ergebnisse, die im Rahmen der Verhandlungen über das institutionelle Rahmenabkommen erhoben wurden und sich hier zusammengefasst finden. Sie haben den Bundesrat und die Politik nicht vom Argument abgehalten, dass das Abkommen dem Volk nicht zugemutet werden kann und auf die Umfragen kein Verlass ist. Die Umfragen werden nur beachtet, wenn sie eigenen Interessen dienen. Es bleibt die Hoffnung, dass es diesmal anders sein wird. Jedenfalls kann mit einer gewissen Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die grosse Mehrheit der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger den Bilateralen III positiv gegenüber steht und die Réduit-Initiativen der SVP in einer Volksabstimmung einen schweren Stand haben werden.

Blochers finale politische Schlachten von Daniel Woker

SVP-Vordenker Christoph Blocher versucht, auf drei Gebieten die schweizerische Aussenpolitik in seinem nationalkonservativen und europafeindlichen Sinn erstarren zu lassen. Zeit deshalb, ihm entschlossen entgegenzutreten.

Es sind gleich drei Felder, auf denen SVP-Doyen Christoph Blocher mit seinen Gesinnungsgenossen von Pro Schweiz sowie rechtsbürgerlichen Unternehmern, die sich vor EU-Regelungen für ihre Finanzgeschäfte fürchten, seine letzte Schlachten für eine Schweiz von nationalkonservativen und europafeindlichen Sonderlingen schlagen will: Die Versenkung der Bilateralen III, bei denen ihm eine kurzsichtige Linke hilft; seine sogenannte Neutralitätsinitiative, bei der mit Hilfe eines in der Schweiz sakrosankten Begriffs die Beziehungen zur EU irreparabel beschädigt werden sollen und bei der ihm naive Pazifisten zu Hilfe kommen; schliesslich die sogenannte Nachhaltigkeitsinitiative, welche mit dem Schreckbild aussereuropäischer illegaler Migranten den freien Personenverkehr mit der EU verunmöglichen soll.

Seit dem verhängnisvollen Nein zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) muss mit temporärem Flickwerk die für die Schweiz überlebenswichtige Beteiligung am europäischen Binnenmarkt immer wieder neu erkämpft werden. Die Bilateralen III, im Moment noch in Verhandlung begriffen, sind eine für die Schweiz bemerkenswert günstige Fortsetzung dieses Prozesses. Dagegen Sturm zu laufen, wie dies Blocher & Co. und leider auch ein selbstverliebter Gewerkschafts-Potentat tun, bedeutet die fahrlässige Infragestellung unseres Wohlstandes. Und die weitere Isolation der Schweiz in einem Europa, das sich wegen der Aggression von Putin und in der Perspektive eines möglichen amerikanischen Präsidenten Trump enger zusammenschliesst.

Die Schweizerinnen und Schweizer sind für die Neutralität, aber jede und jeder versteht darunter etwas anderes. Blocher macht sich diese vage Zustimmung zu einem traditionellen Begriff zunutze. Seine sogenannte Neutralitäts-Initiative, die alle Sanktionen gegen Aggressoren unter den Staaten der Welt, so aktuell Russland, ausschliesst, muss damit als «Pro-Putin-Initiative» bezeichnet werden. Ihre Annahme würde die schweizerische Aussenpolitik entmündigen. Sie wäre zudem völkerrechtswidrig, da damit das Gebot in der Uno-Charta, Aggressoren zu bestrafen und Aggressionsopfer Beistand zu leisten, verletzt würde. Diese Charta ist für die künftige, anzupassende Neutralität der Schweiz entscheidend, nicht die überholten Haager Abkommen von 1907.

Der freie Personenverkehr mit dem EU-Europa ist für die Schweiz ebenso lebenswichtig wie der Anschluss an den Binnenmarkt. Ohne spezialisierte Fachkräfte aus der EU, ohne deutsche Ärzte, osteuropäisches Pflegepersonal und Bauarbeiter aus Südeuropa würde die Schweiz stillstehen. Das mit Blochers sogenannter Nachhaltigkeits-Initiative tatsächlich angestrebte Ziel der Kündigung des freien Personenverkehrs mit der EU würde das Ende der offenen Schweiz bedeuten.

Blocher will vor seinem Abgang von der schweizerischen Politbühne unsere Aussenpolitik endgültig in seinem rechtsnationalistischen, europafeindlichen Sinn erstarren lassen. Dafür stellt er unbegrenzte Finanzen zur Verfügung. Zeit, dass ihm entschlossen und mit den nötigen Mitteln entgegengetreten wird.

Bundesrat Beat Jans

Bilaterale III: Sommerlicher Sturm im Wasserglas von Martin Gollmer

Justizminister Beat Jans und Altbundesrat Ueli Maurer vertreten in der NZZ unterschiedliche Meinungen zu den Bilateralen III. Die Journalisten freuts. Sie greifen die Kontroverse zwischen den beiden Politgrössen angesichts des Sommerlochs in Bundesbern noch so gerne auf.

 

Scheinbar Unerhörtes ist geschehen in der schweizerischen Europapolitik: Ein Mitglied der Landesregierung, nämlich Bundesrat Beat Jans (SP), hat in einem Gastkommentar in der «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ; 23. Juli 2024) eine Lanze gebrochen für das neue bilaterale Vertragspaket, über das Bern und Brüssel gegenwärtig verhandeln. «Warum wir die Bilateralen III brauchen», heisst der Titel des bundesrätlichen Meinungsartikels. Darin stellt Jans allerlei «falsche Behauptungen» richtig, die in den Medien und in der weiteren Öffentlichkeit kursieren – etwa zur Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in der Streitbeilegung, in der dynamischen Rechtsübernahme und in der Zuwanderung.

Jans’ Ausführungen gipfelten in der Aussage, dass man in einer vernetzten und komplizierten Welt die Souveränität stärke, wenn man die Beziehungen zu wichtigen Partnern kläre, verstetige und verbessere. Das gelte ganz besonders für ein kleines Land wie die Schweiz. «Wir bleiben (beziehungsweise werden) souveräner – also handlungsfähiger –, wenn wir unsere Beziehungen mit dem grossen Nachbarn regeln.»

 

«Sämtliche Alarmglocken läuten»

 

Das rief Alt-Bundesrat Ueli Maurer (SVP) mit einer Replik unter dem Titel «Berns EU-Kurs muss gestoppt werden» auf den Plan. Jans’ Meinungsbeitrag lasse «sämtliche Alarmglocken läuten», schrieb er ebenfalls in der NZZ (26. Juli 2024). Der Bundesrat sei nämlich in den laufenden Verhandlungen mit der EU-Kommission drauf und dran, die im Jahr 2021 im geplatzten institutionellen Rahmenabkommen bestrittenen Forderungen der Europäischen Union zu übernehmen. «Jetzt scheint der Wind zu kehren», vermutet Maurer.

Als «schon fast eine bösartige Verzerrung der Fakten» bezeichnet Maurer Jans’ Aussage, mit den Bilateralen III werde die helvetische Souveränität gestärkt. «Wie soll die Souveränität, die Selbstbestimmung der Schweizerinnen und Schweizer, gestärkt werden, wenn Entscheidungen statt bei uns in Brüssel gefällt werden?», fragte der pensionierte SVP-Magistrat provokativ.

Maurer stiess sich in seiner Replik auch daran, dass Jans in seinem Meinungsbeitrag das Wort «Bilaterale III» im Titel verwendete. «Offensichtlich bemüht der Justizminister einen positiv besetzten Begriff, um dem ungeliebten Vertragspaket Akzeptanz zu verschaffen», mutmasste Maurer.

 

«Gut eidgenössischer Zoff»

 

Ein Teil der Medien nahm angesichts des politischen Sommerlochs in Bern die Kontroverse zwischen Jans und Maurer dankbar auf. «EU-Frage sorgt für gut eidgenössischen Zoff», titelte etwa der «Blick» (27. Juli 2024). «Es ist verhandlungstaktisch höchst ungeschickt, wenn Beat Jans als nicht dossierzuständiger Vertreter der Landesregierung der Gegenseite noch vor Verhandlungsabschluss und Positionsbezug des Gesamtbundesrats signalisiert, dass die Schweiz quasi jedes Resultat brauche und folglich akzeptieren würde», zitiert die Boulevardzeitung in ihrem Artikel FDP-Präsident Thierry Burkart.

Aber auch Maurer kriegt sein Fett weg. Burkart ärgert sich im «Blick», dass ein ehemaliger Bundesrat sich in die Diskussion einmischt und einem aktiven Bundesrat öffentlich widerspricht. Beide, Jans und Maurer, würden reine Parteipolitik machen und hätten «ihre Rolle als Bundesrat und als ehemaliger Bundesrat offenbar noch nicht gefunden», meint Burkart. Sie würden «nicht magistral» agieren.

Der «Blick» lässt auch Mitte-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter zu Wort kommen. Sie glaubt nicht, dass der öffentliche Positionsbezug von Jans den Verhandlungen schadet. Dieser widerspiegle nur den Stand der Dinge, wie er nach dem Ende der Sondierungsgespräche zwischen Bern und Brüssel im sogenannten Common Understanding festgehalten worden sei. «Es ist wichtig, dass wir schon jetzt eine breite Debatte zu diesem Thema führen, nicht erst, wenn das Abkommen ins Parlament kommt», urteilt Schneider-Schneiter. Angesichts der Negativkampagne der SVP und weiteren nationalkonservativen Kreisen sei es «notwendig, dass auch gewichtige Befürworter sich zu Wort melden».

 

Warum Jans und nicht Cassis?

 

Die rechtsliberale Elitezeitung NZZ liess es nicht bei den Gastkommentaren von Jans und Maurer bewenden. Sie zog mit einem Artikel mit dem Untertitel «Der Altbundesrat greift den Justizminister wegen dessen Aussagen zur Europapolitik frontal an» nach (27. Juli 2024). Darin resümiert sie nochmals die Positionen der beiden Politiker. Und sie schreibt, hinter dem öffentlich ausgetragenen Krach stecke mehr als das berüchtigte Temperament des ehemaligen SVP-Präsidenten. Denn die Aussagen von Jans seien nicht nur Maurer in den falschen Hals geraten. Auch in anderen EU-kritischen Kreisen würden sie hitzig diskutiert. So habe etwa der Transportunternehmer Hans-Jörg Bertschi von der Vereinigung Autonomiesuisse Jans’ Ausführungen zum EuGH als «Fake News» bezeichnet. Die NZZ erwähnt auch noch die rechte Satirezeitschrift «Nebelspalter», die den Bundesrat zum «Löli des Tages» ernannt hat.

Die NZZ orakelt schliesslich darüber, warum Jans und nicht der dossierzuständige Ignazio Cassis (FDP) das Plädoyer für die Bilateralen III geschrieben hat. Mit diesem und der Bundeskanzlei sei der Text «offenbar abgesprochen» gewesen, meint die NZZ zu wissen. Vielleicht habe der seit Monaten schweigende Aussenminister seinen Kollegen sogar ermuntert den Artikel zu schreiben und dabei den Begriff «Bilaterale III» einzuführen. Cassis habe sich bisher nicht getraut, das zu tun, weil die EU die Bezeichnung nicht gern höre. Cassis bildet zusammen mit Jans sowie dem Wirtschafts- und Forschungsminister Guy Parmelin (SVP) den Europaausschuss des Bundesrats.

 

Wozu all die Aufregung?

 

Die Aufregung über den Meinungsbeitrag von Jans überrascht. Der Justizminister hat nichts anderes getan als für ein geplantes Vertragspaket mit der Europäischen Union einzustehen, das die Landesregierung in ihrer Mehrheit will. Sonst würde sie nicht mit der EU-Kommission darüber verhandeln. Ebenso unverständlich ist das Aufheben über die Kontroverse zwischen Jans und Maurer. Dass Verfechter unterschiedlicher Standpunkte ihre Meinung öffentlich in den Medien kundtun, gehört zum Wesen der Demokratie. So gesehen haben Jans und Mauerer wohl nur einen sommerlichen Sturm im Wasserglas verursacht.

Dies gesagt, ist es von bleibendem Wert weit über den Sommer hinaus, dass Jans als Bundesrat Leadership im besten Sinn zeigt und dabei all den Zögernden im Lande sachlich die Argumente für die Notwendigkeit der Bilateralen III darlegt. Dass dies als Fake-News bezeichnet und mit Blick auf den 1. August postwendend als Angriff auf die Vorherrschaft der SVP in der Europafrage abgetan wird, belegt das heute tiefe Niveau der schweizerischer Debattenkultur. Ohne sich mit den Argumenten von Jans eingehend auseinanderzusetzen, ohne neue Argumente vorzutragen, geht man entweder zum Zweihänder über oder hält sich gut eidgenössisch bedeckt. Der differenzierte Artikel von Jans ist deshalb ein höchst willkommener Beitrag zur Debatte über die Bilateralen III. Erstmals hat sich damit seit 2021 ein Bundesrat öffentlich für den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen mit der EU eingesetzt und sein Engagement für das angestrebte bilaterale Vertragspaket offengelegt.

Neutralität als helvetische Überheblichkeit von Daniel Woker

Neben den Autoren, die aus der rechten Ecke über die Neutralitätsinitiative von Christoph Blocher schreiben, gibt es auch eine NATO-feindliche, pazifistische Bewegung, die die schweizerische Neutralität als helvetische Mission für Weltfrieden sieht. Sie unterstützt die Initiative von der linken Seite her. Was taugen deren Argumente?

 

Unter der geistigen und finanziellen Führung des SVP-Doyens und -Vordenkers Christoph Blocher will die Vereinigung Pro Schweiz mit der Neutralitätsinitiative eine enge, rigide Form der schweizerischen Neutralität in der Bundesverfassung verankern. Damit soll zweierlei erreicht werden. Erstens soll durch die Festschreibung eines Sanktionsverbots in der Verfassung die schweizerische Aussenpolitik entmündigt und insbesondere das Verhältnis der Schweiz zur EU irreparabel beschädigt werden. Zweitens sollen unter dem Mantel von «Neutralität» im Konfliktfall Geschäfte in alle Himmelsrichtungen erlaubt bleiben, auch mit Aggressoren wie aktuell Russland. Die Neutralitätsinitiative hat deshalb von Gegnern den Namen «Pro-Putin-Initiative» (PPI) verpasst erhalten.

 

Die Argumente für die PPI von linker Seite sind diffuser. Gemäss einem kürzlichen Beitrag des emeritierten Politikprofessors Wolf Linder in der NZZ seien es insbesondere die Glaubwürdigkeit der Schweiz als internationaler Friedensstifter und der völlige Verzicht auf Sanktionen, welche für die Neutralitätsinitiative sprechen würden. Völlig ausgeklammert wird in dieser Argumentation die durch den von Russlands Präsident Wladimir Putin lancierten Angriffskrieg gegen die Ukraine veränderte sicherheitspolitische Lage in Europa. Davon ist auch die Schweiz direkt betroffen. Diese drei Punkte werden im Folgenden einer näheren Betrachtung unterzogen.

 

Glaubwürdigkeit?

 

Die Glaubwürdigkeit der Schweiz weltweit, abgesehen von Tourismus-Clichés, ist eine Funktion unserer Aussen- und Aussenwirtschaftspolitik. Aussenpolitisch zählt, dass die Schweiz in der Rangliste der Unterstützer der Ukraine ganz am Schluss westlicher Länder liegt. Dass die Schweiz wegen ihrer Neutralität angeblich kein Kriegsmaterial – auch nicht indirekt – liefern könne, interessiert niemanden im Ausland. Insbesondere nicht unsere westlichen Partner, die bilateral und im Rahmen der NATO und der EU – bei beiden steht die Schweiz bekanntlich vornehm abseits – grosse Anstrengungen unternehmen, der Ukraine gegen die brutale russische Aggression zu helfen. Freiwillige Beiträge der Schweiz wären hier ebenso möglich wie gewünscht. Das wäre ungleich substanzieller als Gastgeberdienste wie jene für eine sogenannte Friedenskonferenz auf dem Bürgenstock.

 

In der Aussenwirtschaftspolitik will die Schweiz eine Erweiterung des bilateralen Freihandelsabkommens mit China. Dies zu einem Zeitpunkt, wo sich angesichts der aggressiven Politik von Xi Jinping im Innern – Neokolonialismus in Tibet, Xijiang (Uiguren) und der Inneren Mongolei – und gegen aussen alle anderen westlichen Länder von China abwenden. Dies ebenso wie bedeutende Wirtschaftsakteure, darunter auch grosse Finanzinstitutionen. In Afrika erscheint die Schweiz als Sitz von Firmenimperien der Nahrungsmittelindustrie und von Rohstoffhändlern, die sich mehr, erstere, oder weniger, Glencore und andere, um gerechtes, nachhaltiges Wachstum im Herkunftsland ihrer Produkte kümmern.

 

Die Vorstellung, dass im Globalen Süden Konflikte warten würden, um durch schweizerische Neutralität gelöst zu werden, ist anmassend und unrealistisch. Die dreiste Einmischung des ruandischen Präsidenten Paul Kagame im Nachbarland Volksrepublik Kongo figuriert, soweit bekannt, nicht unter helvetischen Friedensmissionen. Schweizerische Politik in Ruanda war bekanntlich in der Vergangenheit alles andere als «neutral». Ebenso wenig kann die Schweiz im aktuellen Ölkonflikt zwischen Guyana und Venezuela vermitteln, bei dem sich der grosse Nachbar Brasilien um eine Beruhigung bemüht.

 

Sanktionsverzicht?

 

Sanktionen stellen einen hohen Grad der Verurteilung eines Aggressors dar, in moralischer, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht. Mögliche zukünftige Beispiele sind ein weiteres Ausgreifen des putinistischen Russlands in Osteuropa. Ebenfalls absehbar sind chinesische Aggressionen, etwa gegen Taiwan oder im Südchinesischen Meer. In solchen Fällen keine Sanktionen anwenden zu können, würde für die Schweiz moralischer Boykott bedeuten sowie politische Isolation und wirtschaftliche Konsequenzen nach sich ziehen. Sich nicht an westlichen Sanktionen zu beteiligen, bedeutet de facto die Unterstützung des Aggressors und wäre alles andere als «neutral».

 

Neutralität und Sicherheit

 

Das Manifest Neutralität 21 (der Schreibende ist einer der sieben Autoren) will den Bundesrat ermutigen, die Neutralität vorrangig als Instrument der Sicherheitspolitik zu handhaben. Heute ist leider unbestritten, dass die schweizerische Armee auf Jahrzehnte hinaus nicht autonom verteidigungsfähig ist. Damit besteht eine Pflicht des Bundesrats, zur Behebung dieses schwerwiegenden Mangels auch eine operative sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit Nachbarländern zu prüfen. Ausser Österreich sind dies alles Mitgliedstaaten des transatlantischen Verteidigungsbündnisses NATO. So wie Schweden, wo seit Jahren die schweizerische Luftwaffe realistische Übungsbedingungen vorfindet. Das Manifest Neutralität 21 will keinen Beitritt zur NATO, aber eine auf Gegenseitigkeit beruhende operative Kooperation.

Das momentan im Kriegsmaterialgesetz festgeschriebene (Wieder-)Ausfuhrverbot an ein in einen bewaffneten Konflikt involviertes Land beruht auf dem auch von Linder in der NZZ propagierten überholten Neutralitätsbegriff der Haager Abkommen von 1907. Dort wird zwischen Aggressor und Opfer kein Unterschied gemacht, was durch das Aggressionsverbot in der UNO-Charta und die dort festgehaltene Pflicht, dem Aggressionsopfer zu helfen und den Aggressor zu isolieren, aufgehoben worden ist.

Ungeachtet davon machen im UNO-Mitgliedsland Schweiz auch der Bundesrat, die konservativen Ecke im Parlament und die pazifistische Linke fälschlicherweise immer wieder die Haager Abkommen geltend. Das darauf basierende Ausfuhrverbot für Kriegsmaterial hat ausser für das Aggressionsopfer – so momentan die Ukraine, zukünftig ein Land in Osteuropa oder in Asien – auch für die Schweiz gravierende sicherheitspolitische Konsequenzen. Westliche Länder sehen davon ab, der Schweiz noch Kriegsmaterial zu verkaufen oder es von uns zu beziehen, da sie befürchten, im Falle einer Aggression verweigere die Schweiz Ausfuhr und Wiederausfuhr. Ohne substanziellen Ex-und Import von Kriegsmaterial kann es keine schweizerische Armee geben.

 

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Die Neutralitäts- oder Pro-Putin-Initiative, vom Bundesrat und dem Parlament dem Stimmvolk bereits zur Ablehnung empfohlen, ist der wohl letzte Versuch von Blocher, mit fast unbegrenzten Finanzmitteln die Schweiz zur isolierten Insel von moralisch gleichgültigen Sonderlingen zu machen. Dass die Initiative auch von linker Seite unterstützt wird, ist bedauerlich.

Das Ständemehr der Bundesverfassung aus individualrechtlicher Sicht von Thomas Cottier

In seinem neuen Artikel hinterfragt Prof. Thomas Cottier die Notwendigkeit eines Ständemehrs für die anstehenden Verträge mit der Europäischen Union (Bilaterale III). Er stützt sich dabei unter anderem auf ein Gutachten des Bundesamts für Justiz und beleuchtet die weitreichenden rechtlichen und politischen Implikationen. Cottier warnt vor einer Ungleichbehandlung der Stimmkraft der Bürgerinnen und Bürger und kritisiert die unklare Haltung des Bundesrats.

Den ganzen Artikel lesen Sie hier.