Sicherheitspolitische Herausforderungen der Schweiz in Europa von Thomas Cottier

Die sicherheits- und verteidigungspolitische Autonomie der Schweiz ist eine Illusion. Die Schweiz ist existentiell vom US-europäischen Schutzschild abhängig. Darauf kann sie sich nicht mehr länger uneingeschränkt verlassen. Sie muss sich deshalb mit eigenen Beiträgen an den europäischen Sicherheits- und Verteidigungsbemühungen beteiligen. Das erfordert eine enge Zusammenarbeit mit der NATO und der EU und – damit verbunden – ein Überdenken der Neutralität.

 

Die Auslegeordnung sicherheitspolitischer Fragen zeigt, dass Freihandel und Sicherheit kein Gegensatz sind, sondern sich gegenseitig bedingen. Freihandel und Integration tragen wesentlich zur Sicherheit bei. Die Schweiz nimmt dies indessen in abgeschotteten Bereichen nicht hinreichend war. Die Versorgung mit nachhaltiger Energie muss europäisch, nicht national gedacht werden. Das gleiche gilt für die protektionistische Landwirtschaftspolitik in Zeiten der Klimakrise. Sicherheit bedarf sodann der engen Zusammenarbeit in weiteren Politikfeldern, die sich direkt mit Sicherheitsfragen befassen, von polizeilichen bis zu militärischen Aufgaben. Dafür müssen Strukturen zur Verfügung stehen, die von den Kompetenzen her zweifelsfrei rasche Beschlüsse und deren Umsetzung erlauben. Diese können heute nicht mehr im Alleingang angegangen werden. Sicherheitspolitische Autarkie der Schweiz in Europa ist eine Selbsttäuschung. Sie spiegelt die Illusion einer Sicherheit vor, dies es so nicht mehr gibt und wohl nie gegeben hat.

Die Schweiz ist heute im Verzug. Das gilt in zahlreichen Bereichen, namentlich der Energieversorgung und der Gefahrenabwehr, insbesondere aber für die Armee. Die Schweiz kann in Zukunft nicht mehr damit rechnen, als Trittbrettfahrer vom amerikanischen und einem europäischen Schutzschild zu profitieren. Sie muss ihren eigenen Beitrag zur europäischen Sicherheit leisten, über die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und die Partnerschaft für den Frieden mit dem nordatlantischen Verteidigungsbündnis NATO hinaus. Das erfordert in Europa einen Verzicht auf die traditionelle Neutralität und ein Bekenntnis zur engen Zusammenarbeit mit der NATO, der EU und ihren Mitgliedstaaten.

 

Den vollständigen Aufsatz von Thomas Cottier hier lesen

Blochers «Pro-Putin-Initiative» ist unsinnig von Daniel Woker

Rechtsgerichtete Kreise wollen eine «immerwährende Neutralität» zementieren. Dabei wurde die Neutralität aus Gründen nie in die Verfassung aufgenommen.

Nicht genug, dass die SVP unter dem populistischen und finanziellen Diktat von Christoph Blocher Amok läuft gegen die Bilateralen III (das aktuelle Verhandlungspaket der Schweiz und der EU). Um jede Annäherung an Europa zu verunmöglichen, hat Blocher zusammen mit «Pro Schweiz» auch die sogenannte Neutralitätsinitiative lanciert. Von kritischen Beobachtern wird diese zu Recht als Pro-Putin-Initiative bezeichnet.

Die Aufnahme der Neutralität – einem Mittel, nicht einem Ziel der schweizerischen Aussenpolitik – in die Bundesverfassung wäre unsinnig genug. Seit 1848 haben sich alle Autoren der Verfassung bemüht, gerade dies nicht zu tun, weil sich das europäische Umfeld ständig verändert. Tatsächlich ist das EU-Europa mit dem Europa im 19. Jahrhundert, als die schweizerische Neutralität im Interesse der europäischen Mächte war, nicht vergleichbar. Die Haager Abkommen von 1907 sind entsprechend überholt. Das gültige, für alle Staaten verbindliche Dokument zu Krieg und Frieden ist die Uno-Charta, welche Angriffskriege verbietet und keine Gleichbehandlung von Aggressor und Opfer erlaubt. Diese Entwicklung zeigt, dass die von der Initiative geforderte Aufnahme einer «immerwährenden Neutralität» in die Verfassung Unfug wäre, da wir die Zukunft gar nicht kennen können.

Quasi ein Verbot von Sanktionen

Von der Neutralität her ist lediglich der Beitritt der Schweiz zur Nato sowie eine direkte Ausfuhr von in der Schweiz hergestelltem Kriegsmaterial an eine kriegführende Partei nicht möglich. Alles andere ist erlaubt, auch unter dem Gesetz über die Kriegsmaterialausfuhr. Wirtschaftssanktionen, wie sie die Schweiz gegen Russland erlassen hat, sind nicht nur zugelassen, sondern waren aus politischen, wirtschaftlichen und moralischen Gründen unumgänglich. Andernfalls wäre die Schweiz zur isolierten Insel von Putin-Verstehern geworden.

Blochers Initiative will nun das Ergreifen von Wirtschaftssanktionen praktisch ausschliessen. Der Verweis im Initiativtext auf eine Uno-Ausnahme ist rein theoretischer Natur. Wir wissen alle, dass die Uno bei Aggressionskriegen, wie sie direkt und indirekt durch totalitäre Diktatoren geführt werden, wegen des Vetos dieser Staaten im Sicherheitsrat meist blockiert ist. Die Ukraine ist ein aktuelles Beispiel, darum die Bezeichnung «Pro-Putin-Initiative». Ein Angriffskrieg von China gegen Taiwan bildet ein leider durchaus mögliches zukünftiges Beispiel.

Sicherheitspolitisch gefährlich

Ein Verbot von Wirtschaftssanktionen würde die schweizerische Aussenpolitik in unakzeptablem Masse einengen. Sanktionen sind ein Zwangsmittel bei groben Verstössen gegen alle Werte, denen sich gerade die Schweiz verpflichtet fühlt. Sanktionen bilden eine erste klare Schranke gegen Aggressoren, bevor als Ultima Ratio militärische Massnahmen ergriffen werden müssen.

Sicherheitspolitisch ist die Initiative gefährlich, weil sie eine internationale Zusammenarbeit verbietet, etwa mit der Nato und der EU zur Vorbereitung auf einen Konfliktfall. Nachdem nun Schweden Nato-Mitglied geworden ist, würde dies gar die seit Jahren laufende Ausbildung von schweizerischen Kampfpiloten im dafür einzig möglichen hohen Norden verunmöglichen.

 

Europa-Initiative lanciert: Proeuropäisches Lager geht in die Offensive von Europa-Allianz

Die Befürworter*innen von geregelten Beziehungen zur EU gehen in die Offensive: Die zivilgesellschaftliche Europa-Allianz hat heute in Bern die Europa-Initiative lanciert. In einer Welt voller Krisen steht die Schweiz an einem Scheideweg. Die Europa-Initiative verankert die aktive europäische Zusammenarbeit in der Verfassung und sorgt so für einen Grundsatzentscheid. Sie gibt der stillen proeuropäischen Mehrheit langfristig eine Stimme und den laufenden Verhandlungen mit der EU Rückenwind.

Vollständige Medienmitteilung zur Europa-Initiative hier lesen

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Die Europa-Initiative: Ziele und Text in Kürze von Thomas Cottier

Die Europa-Initiative verankert den Grundsatz einer aktiven Integrationspolitik in der Bundesverfassung und legt europapolitische Ziele fest, die in die Zukunft weisen. Wie die Teilnahme der Schweiz an der europäischen Integration aussehen soll, wird der Politik überlassen. Bereits heute unterstützt sie die laufenden Verhandlungen zu den Bilateralen III.

  1. Die Initiative für eine starke Schweiz in Europa verfolgt drei Ziele:
    • Sie verankert die überfälligen längerfristigen Ziele der Europapolitik in der Bundesverfassung und geht über Markbeteiligung und die Bilateralen III hinaus. Sie strebt eine enge Zusammenarbeit namentlich in der Klima- und Kulturpolitik an und schliesst Sicherheitsfragen nicht aus, die heute immer wichtiger werden.
    • Sie verankert den Grundsatz einer aktiven Europapolitik in der Bundesverfassung und markiert so die Abkehr vom Grundsatz der wirtschaftlichen Integration und politischen Abstinenz sowie von einer Politik des Nachvollzugs ohne Mitgestaltung.
    • Sie unterstützt und begleitet die laufenden Verhandlungen zu den Bilateralen III in einem kritischen Zeitpunkt. Sie gibt allen, die diese Verhandlungen zum Erfolg führen wollen, heute die Möglichkeit, ihre Unterstützung aktiv mit der Unterzeichnung der Initiative zum Ausdruck zu bringen. Sie müssen nicht auf ein Referendum zu den Bilateralen III warten. Eine Abstimmung über die Initiative wird zeitlich erst nach der Entscheidung über die Bilateralen III stattfinden und präjudiziert deren Ausgang nicht. Sie ist Rückversicherung und Zukunftsprojekt zugleich.
  1. Der Text der Europa-Initiative:
    • Die Initiative ist kurz gehalten und beschränkt sich auf Ziele der Aussenpolitik in Europa. Sie ergänzt Art. 54 der Bundesverfassung. Wie diese Ziele umgesetzt werden, bleibt der Politik überlassen. Sie zementiert weder den bilateralen Weg, noch fordert sie einen ERW- oder EU-Beitritt. Sie ist offen für andere und künftige Lösungen in einem Europa variabler Geometrien und in einem sich wandelnden globalen und kontinentalen Umfeld. Die Verfassung bleibt diesbezüglich offen.
    • Die Europa-Initiative gliedert sich in drei Abschnitte und die Übergangsbestimmungen:
    • Absatz 1 betont in Abkehr bisheriger Politik und ein aktives Engagement unseres Landes im europäischen Integrationsprozess. Wir wollen vom Nachvollzug wegkommen und unsere Souveränität aktiv einbringen und mitgestalten. «Die Schweiz ist unsere Heimat, aber die Heimat der Schweiz ist Europa» (Peter von Matt). Das wird hier zum Ausdruck gebracht.
    • Absatz 2 erteilt den verfassungsrechtlichen Auftrag, eine gesicherte und entwicklungsfähige Teilhabe am EU-Binnenmarkt, aber auch an andern Politiken zu führen und diese vertraglich abzusichern. Der Katalog ist offen in der Zeit, betont aber Klimapolitik und Kulturpolitik als vordringliche Anliegen der Initianten besonders. Beide Elemente fehlen bis heute. Das gleiche gilt auch Fragen der Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik.
    • Absatz 3 regelt das Erfordernis flankierender Massnahmen zum Schutze der demokratischen und föderalen Grundwerte unseres Landes. Sie gewährleisten die Nachhaltigkeit. Diese Massnahmen haben sich im Rahmen der jeweils geltenden Verträge zu bewegen.
    • Die Übergangsbestimmungen legen fest, dass Verträge und Umsetzungsakte jeweils innerhalb von 12 Monaten nach Abschluss der Verhandlungen vorgelegt werden müssen und keinen Verzug erlauben. Diese Vorschrift gilt auch in der Zukunft und findet auf jedes neue Verhandlungspaket Anwendung.

Voulons-nous une magnifique étiquette sur une bouteille vide? par Maurice Wagner

Les opposants à l’UE agissent comme s’ils considéraient que l’étiquette des bouteilles était plus importante que leur contenu.

 Les propos de Marcel Dettling, le nouveau président de l’UDC, tels que rapportés dans le journal Le Temps du 25 mars 2024 démontrent qu’il suit la ligne de Christoph Blocher en matière européenne. La stratégie de l’UDC concernant l’UE revient à apeurer les citoyens et à sciemment créer de la confusion entre l’adhésion et les accords bilatéraux. Christoph Blocher n’évoquait-il pas, dans une interview parue dans le journal Le Temps du 31 octobre 2023 un «contrat-cadre pour entrer dans l’UE», alors même que les accords bilatéraux visent précisément à éviter de devoir adhérer à l’UE?

Demander comme l’UDC une double majorité du peuple et des cantons pour le prochain traité entre la Suisse et l’UE revient à faire croire que la Suisse va adhérer à l’UE: n’est-ce pas une tromperie?

Marcel Dettling sous-entend que le système démocratique suisse est supérieur aux autres systèmes démocratiques, puisque c’est le peuple qui décide:

  • Il est exact qu’en Suisse, le peuple a souvent le dernier mot; mais pas toujours! Ainsi, dans les cas où la double majorité est requise, le peuple peut devoir s’incliner devant la majorité des cantons (on a pu le constater en novembre 2020 lors de la votation sur l’initiative sur la responsabilité des entreprises).
  • Il est temps que tous les Suisses réalisent qu’il existe plusieurs types de démocraties. Ainsi, les pays de l’UE, aussi bien les monarchies constitutionnelles que les républiques, sont des démocraties. En toute hypothèse, à la différence d’une Suisse avec ses liens actuels ténus avec l’UE, ces pays ne se contentent pas d’entériner des décisions prises sans qu’ils aient eu leur mot à dire, ou d’ «acheter» leur participation aux programmes de l’UE.

Pour prendre une image viticole, les opposants à l’UE agissent comme s’ils considéraient que l’étiquette des bouteilles était plus importante que leur contenu. À quoi cela sert-il de faire figurer le mot «souverain» sur l’étiquette d’une bouteille qui se vide? Il est temps que le Conseil fédéral se fasse entendre sur la question et ne laisse pas le monopole de la parole aux adversaires de tout nouvel accord avec l’UE.

Erstarkt der Nationalpopulismus auch in der Schweiz? von Daniel Woker

Wird Donald Trump im kommenden November zum Präsidenten der USA gewählt, droht auch über die Schweiz eine Welle des Nationalpopulismus hereinzubrechen. Das könnte fatale Folgen für die Bilateralen III und eine vernünftige Handhabung der Neutralität haben, wie sich jetzt schon zeigt.

Die grösste gegenwärtige Herausforderung für die schweizerische Aussenpolitik stellt die Neuregelung der Beziehungen zu unserem Heimatkontinent Europa dar. Eine klare Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer wollen sowohl geordnete Beziehungen zur EU als auch den für uns vorteilhaften Verbleib im europäischen Binnenmarkt. Bundesrat und Verwaltung setzen im Moment alles daran, mit Brüssel – der Kommission und den 27 EU-Mitgliedstaaten, die letztlich über das Verhandlungspaket entscheiden – eine Lösung zu finden, welche beide Seiten zufriedenstellt.

Der von der EU allein der Schweiz zugestandene Sonderstatus unter den kommenden Bilateralen III wurde in Vorverhandlungen ziemlich definitiv umrissen. Auf europäischer Seite ist nach verlässlichen Angaben sowohl der Verhandlungsspielraum als auch das Reservoir an Geduld mit dem helvetischen Sonderweg praktisch ausgeschöpft.

SGB und SVP: Die Gegner der Bilateralen III

Das hindert den Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) mit Präsident Yves Maillard und Chefökonom Daniel Lampart nicht daran, Hand in Hand mit den rechten Nationalpopulisten von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) das gesamte Verhandlungspaket jetzt schon rundweg abzulehnen. Sie stellen damit die wirtschaftliche Zukunft, aber auch die Seele unseres Landes als europäische Drehscheibe in Frage. Dies angeblich wegen der Lappalie von Spesenentschädigungen für entsandte ausländische Arbeitnehmer, welche bis zu lediglich drei Monaten in der Schweiz tätig sein können.

Die hier in Frage stehenden Entschädigungen sind im grossen Zusammenhang geradezu lächerlich klein; sie entsprechen der Entlöhnung für rund 0,1 Prozent der gesamten in der Schweiz geleisteten Arbeitsstunden. Wenn wir die Chance der Bilateralen III nicht wahrnehmen, werden wir sowohl wirtschaftlich wie auch politisch und vor allem emotional von unseren engsten Partnern und Nachbarn in Europa abgeschnitten.

Dass die konsequente Nein-Partei SVP mit ihrem Amoklauf gegen alles Europäische dies in Kauf nimmt, ist selbstverständlich. Ihren «Kampf gegen Europa» illustriert sie mit einem Bild des Kindlifresser-Brunnens in Bern, wobei «die furchterregende Brunnenfigur in der SVP-Montage anstelle eines nackten Kindes die Schweiz in den (EU)-Rachen schiebt» wie die NZZ unter dem Titel «Schrill lanciert» schrieb.

De facto an der Seite von General Christoph Blocher marschieren in der Mutter aller Schlachten, dem voraussehbaren Referendumskampf, auch nationalkonservative Unternehmer («Kompass/Europa», «Autonomiesuisse»). Darunter Zuger Kasinokapitalisten, welche europäische Regeln im Finanzbereich fürchten. Zusammen verfügen sie über gewaltiges ideologisches und finanzielles Kapital, mit dem sie im Moment das europapolitische Terrain besetzen, um jeden vernünftigen Diskussionsansatz im Keim zu ersticken.

Die Neutralitätsinitiative Blochers und die Ukraine

Um jede Annäherung an Europa zu verunmöglichen, hat Blocher mit seinen Hofschranzen in «Pro Schweiz» weiter die sogenannte Neutralitätsinitiative gestartet, welche von kritischen Beobachtern zu Recht als «Pro-Putin-Initiative» etikettiert wird. Den offiziellen Kampf dafür will die SVP bereits Anfang April lancieren. Leider setzt sich auch auf der linken Seite ein Komitee fehlgeleiteter Idealisten für Blochers Initiative ein.

Die Aufnahme des Prinzips Neutralität – sie ist ein Mittel, nicht ein Ziel der schweizerischen Aussenpolitik – in die Bundesverfassung (BV) wäre unsinnig genug. Seit 1848 haben sich alle Verfasser der BV bemüht, gerade dies nicht zu tun, weil sich das europäische Umfeld ja verändern könnte. Tatsächlich ist das EU-Europa mit dem Europa des 19. Jahrhunderts und auch jenem bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts nicht vergleichbar. Die von Neutralitäts-Fetischisten oft bemühten Haager Abkommen von 1907 sind überholt. Grundlegend ist heute die UNO-Charta, welche Angriffskriege verbietet und keine Gleichbehandlung von Aggressor und Opfer erlaubt. Diese Entwicklung zeigt, dass die von Blochers Initiative geforderte Aufnahme einer «immerwährenden Neutralität» in die Verfassung Unfug wäre, da wir die Zukunft nicht kennen können.

Der brutale Aggressionskrieg Putins gegen die Ukraine hat endgültig bestätigt, dass ein schweizerisches Abseitsstehen von Europa damit aus Sicht der EU unmöglich geworden ist. Von der Neutralität her ist das kein Problem. Sogar bei deren strikter Definition sind – im Moment noch – lediglich der Beitritt der Schweiz zum nordatlantischen Militärbündnis NATO sowie eine direkte Ausfuhr von in der Schweiz hergestelltem Kriegsmaterial in die Ukraine nicht möglich. Alles andere ist erlaubt, auch unter dem Gesetz über Kriegsmaterialausfuhr. Dies gilt insbesondere für die indirekte Ausfuhr, also den Verkauf an EU-Länder, welche damit ihre eigenen Reserven aufstocken, nachdem sie diese zugunsten der Ukraine angezapft haben. Wirtschaftssanktionen, wie sie die Schweiz gegen Russland erlassen hat, sind nicht nur zugelassen, sondern waren aus politischen, wirtschaftlichen und moralischen Gründen unumgänglich. Andernfalls wäre die Schweiz zur isolierten Insel von Putin-Verstehern geworden.

Die Aussen- und Sicherheitspolitik würde eingeschränkt

Blochers Initiative will nun das Verhängen von Wirtschaftssanktionen praktisch ausschliessen. Der Verweis im Initiativtext auf eine UNO-Ausnahme ist rein theoretischer Natur. Wir wissen alle, dass die UNO bei Aggressionskriegen, die direkt und indirekt durch totalitäre Mächte geführt werden, wegen des Vetos dieser Staaten im Sicherheitsrat meist blockiert ist. Die Ukraine ist ein aktuelles Beispiel, darum die Bezeichnung «Pro-Putin-Initiative». Ein Angriffskrieg von China gegen Taiwan ist ein leider durchaus mögliches zukünftiges Beispiel.

Ein Verbot von Wirtschaftssanktionen würde die schweizerische Aussenpolitik in unakzeptablem Masse einengen. Sanktionen sind ein Zwangsmittel bei groben Verstössen gegen alle Werte, welche gerade die Schweiz ihr eigen nennt. Sie bilden eine erste klare Schranke gegen Aggressoren, bevor als Ultima Ratio militärische Massnahmen ergriffen werden müssen.

Sicherheitspolitisch ist die Initiative gefährlich, weil sie internationale Zusammenarbeit zur Vorbereitung auf einen Konfliktfall verbietet. Nachdem nun Schweden Nato-Mitglied geworden ist, würde dies gar die seit Jahren laufende Ausbildung von schweizerischem militärischem Flugpersonal im dazu einzig möglichen geografischen Raum, dem hohen Norden, verunmöglichen.

Die Stützen der Zivilgesellschaft sind gefordert

Insbesondere aber würde die Initiative unser Verhältnis zur EU nachhaltig zerrütten. Eine schweizerische Verfassungsbestimmung, welche unseren nächsten Partnern und Nachbarn signalisiert, dass wir uns in keinem Fall mit Europa gegen Aggressoren solidarisieren werden, wird zum Bruch führen. Dass dies keine leere Drohung ist, zeigt ein erstes, vergleichsweise kleines Beispiel. Die überängstliche Politik von Regierung und Parlament betreffend Kriegsmaterial für die Ukraine hat bereits dazu geführt, dass bisherige Kunden aus der EU kein Rüstungsmaterial mehr in der Schweiz beziehen wollen und dass ausländische Besitzer von Rüstungsunternehmen dessen Fertigung aus der Schweiz abziehen. Sie wollen keine Waffen, welche sie im Ernstfall wegen schweizerischer Neutralität nicht einsetzten können. Ohne eigene Rüstungsbetriebe aber auch keine eigene Armee. Ein solches Verlangen ist angesichts der heutigen Lage nicht nur naiv, sondern stellt für die Schweiz eine akute Gefahr dar.

Mit Blick auf die Bilateralen III haben Blocher und Maillard mit schwerstem Geschütz gleich zu Beginn gegen eine von der Mehrheit in der Schweiz klar geforderte Vorlage die Deutungshoheit gewonnen (siehe auch den Artikel hier: https://suisse-en-europe.ch/gegen-europa-die-svp-maillard-und-der-blick-von-daniel-woker/). Nun gilt es unbedingt zu verhindern, dass sich dies bei Blochers Pro-Putin-Initiative wiederholt. Da sind wir alle gefordert: die Stützen der schweizerische Zivilgesellschaft in Politik, Wirtschaft und Medien, ebenso wie alle vernünftigen Schweizerinnen und Schweizer sind jetzt schon aufgerufen, Bonaparte Blocher in seinen Schlachten gegen die Bilateralen III und für seine Neutralitätsinitiative ein schweiz- und europaweit hallendes Waterloo zu bescheren.

Das Wichtigste zu den Verhandlungen Schweiz-EU von Martin Gollmer

Am Montag, 18. März 2024, haben die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU über ein neues, drittes bilaterales Vertragspaket begonnen. Hier, um was es in diesen Verhandlungen aus schweizerischer Sicht geht und was diese so speziell macht.

Am Montag, 18. März 2024, haben Bundespräsidentin Viola Amherd und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Brüssel die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU über ein neues, drittes bilaterales Vertragspaket eröffnet. Zuvor hatte der Bundesrat am Freitag, 8. März, nach eingehenden Konsultationen von Kantonen, Parlament, Wirtschaftsverbänden und Sozialpartnern das definitive Mandat der Schweiz für diese Verhandlungen verabschiedet. Die 27 EU-Mitgliedstaaten hiessen die von der Kommission vorgelegten Verhandlungsrichtlinien am Dienstag, 12. März, ohne Diskussion gut.

Für die Schweiz verhandelt der Bundesrat. Er ist für die Aussenpolitik des Landes zuständig. Auf Seite der EU führt die Kommission, die Exekutive und Verwaltung der Europäischen Union, die Verhandlungen. Ihr obliegt die Ausarbeitung internationaler Verträge. Chefunterhändler der Schweiz ist Patric Franzen, stellvertretender Staatssekretär und Leiter der Abteilung Europa im Eidgenössischen Departement des Äusseren (EDA). Sein Gegenpart bei der EU ist Richard Szostak, Leiter der Abteilung «Westeuropäische Partner» im Generalsekretariat der Kommission.

Was ist das Ziel der Verhandlungen mit der EU?

Der Bundesrat will in den Verhandlungen mit der EU den seit über zwanzig Jahren meist erfolgreich begangenen, zuletzt aber holperig gewordenen bilateralen Weg stabilisieren und weiterentwickeln. Konkret geht es darum, den – zumindest teilweisen – hindernisfreien Zugang von Schweizer Unternehmen zum EU-Binnenmarkt zu sichern und auszubauen. Dazu sollen bestehende Binnenmarktabkommen aktualisiert und neue bilaterale Abkommen abgeschlossen werden. Der Binnenmarkt ist mit rund 450 Millionen Konsumentinnen und Konsumenten der weltweit grösste grenzüberschreitende Markt, in dem überall die gleichen Regeln gelten. Der EU-Binnenmarkt ist so etwas wie der Heimmarkt der Schweizer Unternehmen.

Zudem will der Bundesrat die Wiederaufnahme der Schweiz in die Bildungs- und Forschungsprogramme der EU erreichen. Die EU hatte die Teilnahme der Schweiz an diesen Programmen nach dem einseitigen Abbruch der Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen durch den Bundesrat im Jahr 2021 sistiert. Das EU-Forschungsprogramm «Horizon Europe» ist mit einem Budget von insgesamt 95,5 Milliarden Euro für die Jahre 2021-2027 das grösste seiner Art auf der Welt. Mit der Aufnahme der Verhandlungen wird die Beteiligung der Schweiz umgehend wieder ermöglicht, steht aber unter Vorbehalt eines erfolgreichen Abschlusses der Verhandlungen bis Ende 2024.

Was ist der Inhalt des geplanten Vertragspakets?

Der Bundesrat und die EU-Kommission wollen ein Vertragspaket schnüren mit den folgenden Elementen:

  • Neue bilaterale Abkommen zu den Themen Strom, Gesundheit und Lebensmittelsicherheit.
  • Aufdatierung bestehender Abkommen im Bereich der Personenfreizügigkeit (Lohnschutz und Sozialrechte), des Land-und Luftverkehrs, der technischen Handelshemmnisse und der Landwirtschaft sowie deren Unterstellung unter die dynamische Rechtsübernahme und das Streitbeilegungsverfahren.
  • Teilnahme der Schweiz an den EU-Programmen für Bildung und Forschung.
  • Vorschriften zu Staatsbeihilfen in den Bereichen Verkehr und Strom.
  • Regelmässige Kohäsionszahlungen der Schweiz zugunsten ärmerer EU-Mitgliedstaaten.
  • Einrichtung eines regelmässigen hochrangigen politischen Dialogs.

Was ist schon geregelt, was muss noch verhandelt werden?

In zahlreichen Sondierungsgesprächen, die den eigentlichen Verhandlungen seit März 2022 vorausgegangen sind, haben der Bundesrat und die EU-Kommission ihre jeweiligen Verhandlungsanliegen detailliert erläutert und sogenannte Landungszonen definiert, innerhalb derer eine Lösung offener Verhandlungsfragen möglich sein könnte. Die Ergebnisse der Sondierungsgespräche sind in einem Dokument schriftlich festgehalten – der sogenannten Gemeinsamen Verständigung. (Sie findet sich unter https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/das-eda/aktuell/newsuebersicht/2023/europa.html.) In den Verhandlungen müssen Bundesrat und EU-Kommission nun die in diesem Dokument umschriebenen Lösungsansätze für noch offene Fragen konkretisieren. Nachstehend das Wichtigste dessen, was in den Sondierungsgesprächen schon erreicht worden ist und was in den Verhandlungen noch geregelt werden muss:

  • Strom: Mit dem Abschluss eines Stromabkommens strebt der Bundesrat die Teilnahme der Schweiz am Strombinnenmarkt der EU an. Dies, um den Stromhandel zwischen der Schweiz und der EU zu fördern und die Versorgungssicherheit und die Netzstabilität in der Schweiz zu gewährleisten. Der Bundesrat ist einverstanden mit der von der EU-Kommission geforderten Öffnung des schweizerischen Strommarktes. Dabei will er garantiert haben, dass die kleinen Endverbraucher wie Haushalte und KMU unter einer bestimmten Verbrauchsschwelle in der regulierten Grundversorgung mit regulierten Preisen verbleiben oder in diese zurückkehren können (sogenanntes Wahlmodell). Zudem will der Bundesrat die wichtigsten bestehenden staatlichen Beihilfen beibehalten können, namentlich im Bereich der Produktion von erneuerbarem Strom.
  • Lebensmittelsicherheit: Der Bundesrat strebt eine Ausweitung des Geltungsbereichs des Abkommens über den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen auf die gesamte Lebensmittelkette an. Die Ausweitung zielt darauf ab, den Verbraucherschutz zu stärken und den Marktzugang durch einen umfassenden Abbau nichttarifärer Handelshemmnisse zu verbessern. Eine Harmonisierung der Agrarpolitiken der Schweiz und der EU soll gemäss gemeinsamem Verständnis der Verhandlungspartner ausgeschlossen bleiben. Der Bundesrat will zudem, dass die Schweiz ihre Zolltarife und –kontingente beibehalten kann. Mittels Ausnahmen will er weiter eine Senkung der in der Schweiz geltenden Standards verhindern, insbesondere beim Tierschutz und bei den neuen Technologien in der Lebensmittelproduktion.
  • Gesundheit: Das neue bilaterale Kooperationsabkommen sieht die Beteiligung der Schweiz an den relevanten Mechanismen und Netzwerken der EU im Bereich sicherheitsrelevanter der Gesundheitsfragen vor. Mitmachen will der Bundesrat dabei etwa am Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten.
  • Bildungs- und Forschungsprogramme: Der Bundesrat strebt eine systematische Teilnahme der Schweiz an den EU-Programmen für die Zukunft an, namentlich in den Bereichen Forschung und Innovation, allgemeine und berufliche Bildung, Jugend, Sport und Kultur. Im Vordergrund stehen die EU-Programme Horizon Europe 2021-2027 (Forschung) und Erasmus+ 2021-2027 (Bildung, Studierendenaustausch).
  • Streitbeilegung: Gemäss gemeinsamem Verständnis der Verhandlungspartner suchen die Schweiz und die EU im Streitfall zunächst eine politische Lösung in einem Gemischten Ausschuss. Lässt sich so keine Einigung erzielen, kann jede Vertragspartei den Streit einem paritätischen Schiedsgericht unterbreiten. Wird sich dieses über die Anwendung oder Auslegung von EU-Recht nicht einig, zieht es den Europäischen Gerichtshof (EuGH) bei. Dieser nimmt eine verbindliche Beurteilung des strittigen Sachverhalts vor. Danach entscheidet das Schiedsgericht abschliessend.
  • Rechtsübernahme: Mit der dynamischen Übernahme von EU-Recht in den bestehenden und zukünftigen Binnenmarktabkommen in schweizerisches Recht ist der Bundesrat einverstanden. Er will aber an der Aushandlung und Weiterentwicklung des die Schweiz betreffenden EU-Rechts teilnehmen können (sogenanntes decision-shaping). Entscheidet sich die Schweiz (d.h. der Bundesrat, das Parlament oder das Volk) einmal gegen die Übernahme von Recht der EU, kann diese Ausgleichsmassnahmen ergreifen. Dabei möchte der Bundesrat erreichen, dass solche Massnahmen erst in Kraft treten, wenn das Schiedsgericht über deren Verhältnismässigkeit entschieden hat.
  • Personenfreizügigkeit/Zuwanderung: Der Bundesrat ist einverstanden mit der Angleichung des schweizerischen Rechts an das in diesem Bereich geltende Recht der EU. Er verfolgt dabei aber das Ziel, die Zuwanderung von einer Erwerbstätigkeit in der Schweiz abhängig zu machen, um die Folgen für das schweizerische Sozialsystem zu begrenzen und Missbräuche zu bekämpfen. Der Bundesrat ist zudem bestrebt, die Mechanismen des Personenfreizügigkeitsabkommens aus den Bilateralen I zur Bewältigung unerwarteter Auswirkungen zu konkretisieren. Das heisst wohl, dass er auf eine Schutzklausel drängen will, die im Falle anhaltend hoher Zuwanderung aus der EU aktiviert werden könnte.
  • Personenfreizügigkeit/Lohnschutz: Der Bundesrat ist bereit, das in diesem Bereich geltende EU-Recht in schweizerisches Recht zu übernehmen. Er will aber den Lohnschutz in der Schweiz auf dem aktuellen Niveau erhalten können, um schweizerische Unternehmen nicht einem unbeschränkten Wettbewerb durch aus der EU entsandte Arbeitskräfte auszusetzen. Bei der Spesenregelung für entsandte EU-Personen will er eine Lösung erreichen, die unter Berücksichtigung des Preisniveaus in der Schweiz eine Rechtsgleichheit gewährleistet. Bei der Kaution, die EU-Unternehmen hinterlegen müssen, die in der Schweiz arbeiten lassen, will er eine Regelung, die eine vergleichbare Wirkung wie mit dem derzeitigen Kautionssystem erzielt.
  • Landverkehr: Der Bundesrat ist einverstanden, dass der internationale Personenverkehr auf der Schiene geöffnet wird. Dabei soll sich aber die Qualität des öffentlichen Verkehrs in der Schweiz nicht verschlechtern. Der Bundesrat will, dass die Tarifintegration und der Taktfahrplan garantiert bleiben. Die Zuständigkeit für die Vergabe von Trassen in der Schweiz will er beibehalten. Das Kooperationsmodell im internationalen schienengestützten Personenverkehr will der Bundesrat aufrechterhalten können.
  • Kohäsionszahlungen: Der Bundesrat gibt grünes Licht dafür, dass ein rechtsverbindlicher Mechanismus für einen regelmässigen Kohäsionsbeitrag der Schweiz an ausgewählte ärmere EU-Mitgliedstaaten geschaffen wird. Die Höhe dieses Beitrags muss in den Verhandlungen noch festgelegt werden. Schon jetzt bezahlte die Schweiz einen Kohäsionsbeitrag an die EU. Dieser betrug zuletzt 1,3 Milliarden Franken, verteilt auf zehn Jahre – also 130 Millionen Franken pro Jahr. Es ist davon auszugehen, dass der neue Kohäsionsbeitrag deutlich höher ausfallen wird. In schweizerischen Medien wird geschätzt, dass dieser Beitrag in Zukunft 400 Millionen Franken pro Jahr betragen könnte.

Wie lange werden die Verhandlungen mit der EU dauern?

EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen sagte beim Verhandlungsstart, aufgrund der vorangegangenen Sondierungsgespräche gebe es nun ein gemeinsames Verständnis der Verhandlungen und eine Vertrauensgrundlage, um schnell weitere Fortschritte zu erzielen. Ziel der EU sei es, die Verhandlungen noch in diesem Jahr abzuschliessen. Bundespräsidentin Amherd war zurückhaltender, was den Zeitrahmen der Verhandlungen betrifft. «Wenn das noch bis Ende 2024 klappen würde, wäre das natürlich fantastisch», sagte sie. Das hätte den Vorteil, dass noch mit der aktuell amtierenden Kommission abgeschlossen werden könnte. Für die Schweiz gehe aber «Qualität vor Tempo».

Was ist das Besondere an diesen Verhandlungen?

Neu  an diesen Verhandlungen ist, dass sie sozusagen mit offenen Karten geführt werden. Sowohl der Bundesrat wie die EU-Kommission haben nämlich ihre jeweiligen Verhandlungsmandate im Internet veröffentlicht. (Das Mandat des Bundesrats findet sich unter https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/das-eda/aktuell/newsuebersicht/2023/europa.html, dasjenige der EU-Kommission unter https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-7031-2024-ADD-1/de/pdf.) Damit kann die Bevölkerung der beiden Parteien im Detail sehen, was diese in den Verhandlungen erreichen wollen. Dieser Schritt wurde gemacht, um Vertrauen in die Verhandlungen zu schaffen und Falschinformationen vor allem von Gegnern der Verhandlungen einen Riegel zu schieben. Umgekehrt führt die Transparenz auch dazu, dass innenpolitisch von Politik, Wirtschaft und Parlament neue Forderungen auf den Tisch gelegt wurden, die der Bundesrat in den Verhandlungen nun berücksichtigen muss. Sie erleichtert den Gegnern der Verhandlungen, Einwände und Kritik zu formulieren, die in der Presse jeweils breit aufgenommen werden. Die Verhandlungen mit der EU erscheinen so in den Medien als sehr schwierig, ja sogar als «mission impossible».

Für den Bundesrat ist die Veröffentlichung eines Verhandlungsmandats und weiterer Verhandlungsunterlagen ein Novum. Sie geschieht erstmals in der Geschichte der schweizerischen Diplomatie. Bisher waren Verhandlungsdokumente immer geheim und nur den parlamentarischen Kommissionen zugänglich. Die EU-Kommission hat Verhandlungsunterlagen dagegen schon mehrfach publik gemacht – so etwa bei den Brexit-Verhandlungen mit Grossbritannien.

Schweizer Neutralität – unverständlich oder nützlich? von Martin Gollmer, Thomas Cottier und Daniel Woker

In der Aussenpolitischen Strategie 2024–2027 bezeichnet der Bundesrat die Neutralität als Instrument der schweizerischen internationalen Beziehungen. Dabei wird sie immer mehr zu einem Hindernis für eine wirksame Aussen- und Sicherheitspolitik, wie die Beispiele Reexport von Kriegsmaterial sowie Kooperation mit EU und Nato zeigen.

«Die Neutralität wird von einigen Partnern (der Schweiz) kaum mehr als Beitrag an die Stabilität auf dem Kontinent verstanden. (…) Neutrale Staaten, die der Polarisierung (auf der Welt) entgegenwirken, werden gefragt bleiben.» Diese zwei Sätze stehen in der Einleitung zur Aussenpolitischen Strategie 2024–2027, die der Bundesrat kürzlich verabschiedet hat. Sie stehen in einem Widerspruch zueinander, der in der Strategie nicht wirklich aufgelöst wird.

Der erste Satz verdeutlicht eine Realität, die die Landesregierung nicht verneinen kann und der sie sich stellen muss. Sie ist eine Folge davon, wie die Schweiz insbesondere die Wiederausfuhr von in unserem Land hergestelltem Kriegsmaterial durch europäische Staaten in die von Russland angegriffene Ukraine handhabt. Diese Länder sehen das neutralitätsrechtlich begründete Nein der Schweiz als eine Behinderung legitimer Hilfe an die Ukraine. Was das Nein zu Reexporten von hiesigem Kriegsmaterial auch bedeutet: Es stellt die Schweiz als Standort für Rüstungs- und Technologieunternehmen in Frage.

Der zweite Satz – von den neutralen Staaten, die «gefragt bleiben» – zeigt eine Hoffnung, an die sich der Bundesrat klammert, um die in der  Schweizer Bevölkerung tief verankerte Neutralität nicht grundsätzlich hinterfragen zu müssen. Sie fusst auf der zunehmenden Konkurrenz der Grossmächte in der Welt und der Tendenz zu einer neuerlichen Blockbildung. Die Landesregierung glaubt deshalb, dass das aussenpolitische Profil der Schweiz als Förderin von Dialog und gegenseitiger Verständigung, als Gaststaat für diplomatische Konferenzen und internationale Organisationen und als Brückenbauerin für einen wirksamen Multilateralismus relevant bleibt. «Die Neutralität trägt zu diesem Profil bei und eröffnet nach wie vor Chancen», heisst es in der Aussenpolitischen Strategie 2024–2027.

Der Bundesrat glaubt denn auch, dass die Neutralität für die Schweiz weiterhin von Nutzen ist. Sie schränke zwar den Handlungsspielraum im militärischen Bereich ein, führt er am Beispiel der kriegsversehrten Ukraine aus, erlaube aber gleichwohl eine weitreichende Solidarität. Der Bundesrat hält fest: «Das Instrument der Neutralität lässt dabei Raum für eine kooperative Aussen- und Sicherheitspolitik mit europäischen und weiteren engen Partnern der Schweiz.» Diese will er in den kommenden Jahren ausbauen.

Mehr Kooperation mit EU und Nato 

Ausbauen will der Bundesrat gemäss der Aussenpolitischen Strategie 2024–2027 etwa die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit der EU und der Nato. Er stellt fest, dass die EU im Gefolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ihre Verantwortung für Sicherheit und Stabilität im euroatlantischen Raum verstärkt wahrnimmt. Sie erweitere ihre sicherheitspolitischen Instrumente und sei dabei bereit, Partnerschaften auszubauen. Das will die Schweiz nutzen, indem sie die sicherheitspolitischen Konsultationen mit der EU weiter entwickelt und ihre Beteiligung an EU-Friedensförderungsmissionen verstärkt. Weitere Kooperationsmöglichkeiten würden geprüft, etwa bei der Bewältigung von Katastrophen und Notlagen, schreibt der Bundesrat.

Was die Nato betrifft, hält der Bundesrat fest, dass sie sich auf die Bündnisverteidigung zurückbesonnen habe. Auch gestalte sie Partnerschaften individueller als zuvor. Die Schweiz wolle den politischen Dialog mit der Allianz stärken, die Interoperabilität der Armee verbessern, die vermehrte Teilnahme an Übungen der Nato prüfen und weiterhin Personal in deren Stäbe und Zentren entsenden.

Angesichts der Sicherheitslage in Europa, die sich mit dem russischen Angriff auf die Ukraine dramatisch verschlechtert hat, ist das alles gut und richtig. Nur ist es nicht genug. Bei den angestrebten Kooperationen mit der EU und der Nato handelt es sich nämlich vor allem um weiche Formen der Zusammenarbeit. Weitergehende und härtere wäre nötig – sind aber aus Gründen der Neutralität nicht möglich. Dabei handelt es sich bei EU und Nato um wichtige Mitgaranten des wirtschaftlichen Wohlergehens der Schweiz und deren militärischer Sicherheit.

Den bilateralen Weg weiterentwickeln

Geografischer Schwerpunkt der Aussenpolitischen Strategie 2024-2027 ist Europa – deshalb die angedachten Kooperationen mit der EU und der Nato. Angesichts der geopolitischen Bedeutung Europas für die Schweiz überrascht diese Schwerpunktsetzung nicht. Innerhalb Europas kommt der EU mit ihren 27 Mitgliedstaaten grosses Gewicht zu. Sie ist die mit Abstand wichtigste politische und wirtschaftliche Organisation auf dem Kontinent. Mit ihr will der Bundesrat den seit über zwanzig Jahren erfolgreich begangenen bilateralen Weg stabilisieren und weiterentwickeln. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger. Darüber hinaus beabsichtigt der Bundesrat, die Beiträge der Schweiz an die Stabilität Europas zu verstärken. Dem Frieden und dem Wiederaufbau der Ukraine misst er dabei «strategische Bedeutung» zu. Die Landesregierung plant in diesem Zusammenhang, im Sommer zur Ukraine eine Friedenskonferenz mit hochrangiger Besetzung durchzuführen.

Ausserhalb Europas kommt den weiteren Mitgliedern der G-20, dem Forum für Finanz- und Wirtschaftsfragen der global bedeutendsten Industrie- und Schwellenländer, aussenpolitisch eine wichtige Stellung zu. Dazu gehören etwa die USA und Kanada. In diesem Kontext arbeitet der Bundesrat darauf hin, dass die schweizerischen Wirtschaftsakteure weiterhin einen guten Zugang zu den nordamerikanischen Märkten haben. In der aufstrebenden Region Asien-Pazifik will der Bundesrat insbesondere zu China, das zu einem weltpolitischen und –wirtschaftlichen Schlüsselakteur geworden ist, prioritäre Beziehungen pflegen. Dies obwohl es etwa in Menschenrechtsfragen wachsende Differenzen gibt.

Fragwürdige Priorisierung Chinas

 Die USA unmissverständlich – ob Biden oder Trump –, die EU zögernd, aber immer klarer wenden sich politisch von China ab. Die Priorisierung von China in Asien in der Aussenpolitischen Strategie der Schweiz 2024-2027 mutet damit an wie ein schlechter Witz. Es ist klar, dass schweizerische Unternehmen weiterhin – wenn auch abnehmend (die chinesische Wirtschaft stottert) – mit China Handel treiben, wie US- und EU-Firmen auch. Wirtschaftspolitische, und noch mehr politische Zusammenarbeit der Schweiz mit dem imperialistischen und menschenrechtsverachtenden China von Xi Jinping muss aber ab- und nicht zunehmen. Dies weil erstens schweizerische Grundwerte auf dem Spiel stehen, die Vorrang haben vor kommerziellen Überlegungen, und zweitens weil uns eine entsprechende Politik in diametralen Gegensatz zu den USA – einschliesslich deren Boykotte gegen den Handel mit China – und zur EU bringt. Die gesamte schweizerische Europapolitik wird durch eine Pro-China-Politik in Mitleidenschaft gezogen.

Die langfristig ausgerichtete Entwicklungszusammenarbeit mit den Ländern des globalen Südens bezeichnet der Bundesrat als «Markenzeichen» der Schweiz, scheint ihr in der Aussenpolitischen Strategie 2024-2027 aber nicht die gleiche Bedeutung zuzumessen wie der Unterstützung der Ukraine. Über diese Schwerpunkte hinaus hat die schweizerische Aussenpolitik einen universellen Anspruch: Es sollen mit allen Staaten der Welt diplomatische Beziehungen gepflegt werden.

In seiner Aussenpolitik setzt der Bundesrat nicht nur geografische, sondern auch thematische Schwerpunkte. Dazu gehören Frieden und Sicherheit, Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit, Umwelt sowie Demokratie und Gouvernanz. Die letzten beiden Themen sind neu. Für die Umsetzung dieser Schwerpunkte setzt der Bundesrat auf seine üblichen Instrumente wie das Aussennetz mit seinen Botschaften und Konsulaten, die Diplomatie, die internationale Zusammenarbeit, die guten Dienste und – wie eingangs beschrieben – die Neutralität.

Haltung zur Neutralität bietet Angriffsflächen

Die Aussenpolitische Strategie 2024-2027 stellt die bisherige Praxis zum Neutralitätsrecht nicht in Frage: Nach wie vor geht der Bundesrat davon aus, dass Aggressor und Opfer auf Grund der obsoleten Haager Konventionen von 1907 aus der Zeit des europäischen Imperialismus gleich zu behandeln sind. Das ist mit den die Schweiz verpflichtenden Grundsätzen der Uno-Charta nicht vereinbar. Diese beinhalten ein Verbot von Angriffskriegen und ein Recht auf kollektive Selbstverteidigung, was eine Gleichbehandlung und damit indirekte Unterstützung des Aggressors ausschliesst.

Die Strategie anerkennt, dass Wiederausfuhrverbote von Kriegsmaterial nicht mehr verstanden werden. Sie zieht daraus aber keine Schlüsse, die die heutige Gesetzgebung im Verbund mit einer völkerrechtskonformen Auslegung durchaus zulassen würden. Die Neutralität ist nicht ein einseitiges Geschäft. Ihr Wert hängt von ihrer Anerkennung, ihrem Nutzen auch durch und für Dritte ab. Das gilt jedenfalls erst recht mit Bezug auf das Verbot der Wiederausfuhr längst verkaufter Kriegsmaterialen seit dem 24. Februar 2022 in Europa. Dieses wird vom Neutralitätsrecht nicht erfasst.

Dass Neutralität ein zweiseitiges Geschäft ist, bedeutet konkret, dass wirksame schweizerische Hilfe an die Ukraine die Erlaubnis zur Wiederausfuhr von Rüstungsmaterial durch Drittstaaten, aber auch eine massive Zahlungsbilanzhilfe in Milliardenhöhe umfassen muss. Sonst bleibt das schweizerische Bekenntnis zur Verstärkung der Zusammenarbeit mit EU und Nato leerer Buchstabe. Die Hilfe an die Ukraine zur Rettung der europäischen Demokratie gegen den russischen Kolonialimperialismus steht im Mittelpunkt der gegenwärtigen Tätigkeit dieser beiden Organisationen. Wenn wir hier wegen der Neutralität nicht voll teilnehmen, werden schweizerische Avancen zur Zusammenarbeit in Brüssel nur ein müdes Lächeln ernten.

Die Zusammenarbeit mit der EU in sicherheitspolitischen Fragen wird angesprochen, ohne dass entsprechende konkrete Schritte aufgezeigt werden. Dazu eignet sich aber die Pesco (Permanent Security Cooperation) auch für die Schweiz als Drittstaat in hohem Masse. Bei den heute 86 laufenden Projekten mit einer variablen Geometrie unter den Mitgliedstaaten machen teilweise auch neutrale Staaten sowie Drittstaaten wie Norwegen, Kanada und die USA mit. Die Formel erweist sich als Chance, die mit einer veralteten Neutralitätspolitik eingehandelten Nachteile aktiv auszugleichen und auf diese Weise zum dringend notwendigen Aufbau der Sicherheitsarchitektur und Verteidigungsfähigkeit der Schweiz mitten in Europa beizutragen.

Gegen Europa: Die SVP, Maillard und der «Blick» von Daniel Woker

Trotz Umfrageergebnissen, dass eine deutliche Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer sowie der Kantonsregierungen eine schnelle Einigung mit der EU will, sind am Wochenende vom 9./10. März 2024 nach der Verabschiedungs des Verhandlungsmandates durch den Bundesrat primär die Gegner medial mit schwerstem Geschütz aufgefahren. Wo bleiben die lauten Stimmen der Befürworter aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft?

Die SVP bleibt unter dem populistischen – die Parallele zu den amerikanischen Trump-Republikanern ist auffallend – und finanziellen Diktat von Christoph Blocher in der Winkelried-Pose gegen die Bilateralen III gefangen. Das ist offensichtlich. SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi etwa fordert in den Zeitungen des CH-Media-Verbunds den Abbruch der Verhandlungen, die ja noch gar nicht wirklich begonnen haben. Und in einem zweiseitigen Interview im «Sonntagsblick» läutet Noch-SVP-Präsident Marco Chiesa die SVP-Anti-Europa-Kampagne ein. Das alte und müde Lied von einem «Unterwerfungsvertrag» darf dabei natürlich nicht fehlen. Ausgerechnet vom Tessiner Chiesa, dessen Heimatkanton ohne die EU-Wirtschaft, auch in der dynamischen Grossregion Lombardei, das Armenhaus der Schweiz wäre.

Ob Unterwerfungs- oder Blochers Lieblingswort vom angeblichen «Kolonialvertrag» – diese Ausdrücke sind einfach lächerlich. Die EU-Länder Frankreich, Deutschland, Holland, Spanien, Portugal und Belgien, alle zur Kolonialzeit im globalen Süden herrschend, wollen die arme, kleine Schweiz wie weiland Afrika kolonisieren? You can’t be serious, wie sich John McEnroe jeweils nach falschen Schiedsrichterurteilen auf dem Tennisplatz auszudrücken pflegte.

«Nobler Brillenrahmen»

Erstaunlicher wirkt die geballte Breitseite über das vergangene Wochenende gegen das EU-Verhandlungsmandat der Schweiz im nach wie vor wichtigsten Meinungsmacher-Medium der Deutschschweiz, dem «Blick». In seiner Samstagsausgabe verspottet das Boulevardblatt die Bilateralen III mit der Schlagzeile auf der Frontseite «Wer versenkt das neue EU-Paket, schon das Parlament oder erst das Volk?», um auf der zweiten Seite mit einem Leiter der Politikchefin der Gruppe «Dieses Mandat ist ein Papiertiger» nachzudoppeln. In seiner gehobeneren Wochenendausgabe, dem «Sonntagsblick», macht sich dessen Chefredaktor in seinem Editorial über den goldenen Fingerring und den «noblen Brillenrahmen» von EDA-Staatssekretär Alex Fasel anlässlich der Pressekonferenz zur Vorstellung des EU-Verhandlungsmandates lustig, anstatt über die grösste Herausforderung der schweizerischen Aussenpolitik, unser Verhältnis zu Europa, zu schreiben.

Darin fordert er zum Schluss, durchaus zu Recht, auch ein «junges Gesicht», welches die weitere Öffnung gegenüber Europa in der schweizerischen  Öffentlichkeit vertreten sollte. Durchaus, aber man kann von einem Staatssekretär im EDA, der auch über Erfahrung und ein internationales Netzwerk verfügen muss, wohl kaum verlangen, dass er noch ein Tween ist. Womit ja übrigens ein Nachbarland im Aussenministerium und an der Regierungsspitze gemischte Erfahrungen gemacht hat.

Maillards Spiel mit dem Feuer

Angesichts der absoluten Notwendigkeit eines Verbleibs der Schweiz im europäischen Binnenmarkt, auch und gerade für schweizerische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, macht die Totalopposition der Gewerkschaften – bekanntlich mit der europafreundlichen SP der Schweiz eng und aktuell offensichtlich ungut verbunden – vollends sprachlos. Im Politik-Leitinterview des «Sonntagsblicks» («Gewerkschaftsboss Maillard, Vater Courage, strotzt vor Kraft») reitet der Gewerkschaftspräsident eine heftige Attacke gegen die Bilateralen III. Hier ist nicht nur, entgegen seinen Beteuerungen, die Sorge Maillards um seine Leute, sondern klar auch europafeindlicher Linkspopulismus am Werk.

Medientechnisch immerhin zu vermerken, dass das Interview vom Bundesredaktor des Sonntagsblicks durchaus kritisch geführt wird und Letzterer auch einen Opponenten von Maillard, in casu der Schreibende, zu Wort kommen lässt.

Europabefürworter, vereinigt Euch

Angesichts dieses verheerenden Auftaktes zur entscheidenden Schlacht um die Zukunft, ja um die Seele der Schweiz als offenes, fortschrittliches Land in Europa, ist eine rasche Mobilisierung der bislang eher schweigenden Mehrheit zugunsten der Bilateralen III dringend notwendig. Wo bleiben die Wortführer der Wirtschaftspartei FDP, nachdem Economiesuisse und Arbeitgeberverband eine Regelung des Verhältnisses zur EU und damit zum weitaus wichtigsten Markt der Schweiz als vordringliches Ziel erklärt haben? Wer aus der vernünftigen Mitte tritt an, welche sich als bewahrende Kraft einer vernünftigen Europapolitik sieht? Und, vor allem, warum lässt die SP dem europaphoben Berserker Maillard ohne Widerspruch von höchster Seite freien Lauf? Im Gegensatz zu den ebenfalls stumm bleibenden Grünen hat sich die grünliberale Partei als einzige vorbehaltlos hinter den Bundesrat gestellt, bravo!

Die Bilateralen III sind ein faires Bündnis von Thomas Cottier

Die Bilateralen III dienen der Sicherung des Zugangs der Exportindustrie und ihrer Zulieferer zum EU-Binnenmarkt und der Versorgungssicherheit der Schweiz. Das Vertragswerk, das noch fertig ausgehandelt werden muss, ermöglicht die Aufdatierung erodierender Abkommen der Bilateralen I und II. Es stellt die volle Teilnahme an Kooperationsprogrammen der EU sicher, namentlich in Bildung und Forschung. Es sieht den Abschluss weiterer Abkommen in den Bereichen Strom, Lebensmittelsicherheit und Gesundheit vor. Was den institutionellen Teil der Bilateralen III betrifft, bleiben die Rechte von Parlament und Volk trotz dynamischer Übernahme von EU-Erlassen gewahrt. Die Schweiz erhält eine Mitsprache bei der Vorbereitung von EU-Recht, dass sie übernehmen muss. Bei der Streitschlichtung wird der Europäische Gerichtshof beigezogen, wenn es um die Auslegung unklaren oder strittigen EU-Rechts geht. Das letzte Urteil fällt aber im Streitfall ein paritätisch besetztes Schiedsgericht. Insgesamt sind die Bilateralen III ein faires Bündnis zwischen der Schweiz und der Europäischen Union.

I. Eine Frage der Aufgabenverteilung

Die Aufgabenverteilung unter den verschiedenen Stufen des Gemeinwesens – von der Gemeinde, zum Kanton, über den Bund auf die europäische und die globale Ebene – gehört zu den Kernaufgaben föderaler Politik. Sie ist stets umstritten zwischen konservativen Kräften, die an der alten Ordnung festhalten, und jenen, die neue Herausforderungen offen angehen und Chancen wahrnehmen wollen. Veränderungen der Aufgabenverteilung sind meist durch technologische Fortschritte und die damit verbundenen Erweiterungen der Märkte bedingt, von der Dampfmaschine bis zur künstlicher Intelligenz. Die Rechtsordnung muss darin ihren Weg finden und sich neu ausrichten. Grundlegende Änderungen erfolgten meist revolutionär, wie mit der Bundesverfassung von 1848. Nach dem 2. Weltkrieg gelang es in Europa und weltweit, den Wandel schrittweise zu vollziehen und das Völkerrecht der Zusammenarbeit zu stärken und die europäische Integration in Etappen zu entwickeln.

Heute muss Vieles transnational geregelt werden. Es ist offensichtlich, dass das Internet nicht auf Ebene der Gemeinde geregelt werden kann. Und wer von Kloten oder Cointrin in die weite Welt fliegt, kann dies tun, weil das Recht der zivilen Luftfahrt in Europa und der Schweiz voll harmonisiert ist und weltweit völkerrechtlichen Regeln (darunter ICAO) und technischen Normen untersteht. Wer weltweit exportiert stützt sich auf Regeln, die an die Welthandelsorganisation (WTO) delegiert wurden, und verlässt sich auf deren Umsetzung. Er hält sich an international ausgehandelte Produktionsstandards. Diese begrenzen den Handlungsspielraum der Staaten, so auch der Schweiz. Gleichzeitig erweitern diese eng ineinander verzahnten Regelungssphären auch die Handlungsspielräume privater Akteure und der Nationalstaaten, die ihre Interessen in internationalen Foren einbringen können.

Das Recht ist heute in hohem Masse international vernetzt. Diese Regeln wirken oftmals im Hintergrund, gewissermassen als Teil des Betriebssystems. Es gibt heute mehr Staatsverträge als Gesetze und Verordnungen in der systematischen Rechtssammlung des Bundes. Sie sind in der Alltagspolitik nicht präsent und wenig bekannt. Dieses Unwissen erlaubt es, die Bilateralen III als etwa Ausserordentliches, ja als Staatsgefährdung zu stilisieren und so die Stimmbürgerschaft gegen Europa zu mobilisieren, Verlustängste zu bewirtschaften und damit strukturerhaltend protektionistische Interessen der Binnenwirtschaft, der Landwirtschaft und der Finanzindustrie zu bedienen.

II. Notwendigkeit des Abkommens

Die Zuordnung wirtschaftsrechtlicher Kompetenzen in den Bilateralen III dient der Sicherung der Marktteilnahme der Exportindustrie und ihrer Zulieferer am europäischen Wirtschaftsraum und der Versorgungssicherheit des Landes. Beides ist vordringlich, angesichts der Hochpreisinsel, der Frankenstärke und der geopolitischen Veränderungen. Stimmen aus der Industrie legen dies überzeugend dar (NZZ vom 19.1.24). Das Vertragswerk ermöglicht die Aufdatierung erodierender Abkommen der Bilateralen I und II. Es stellt die volle Teilnahme an Kooperationsprogrammen sicher, namentlich in Bildung und Forschung. Die Zeit drängt. Die UBS rechnet in der Industrie mit einem Verlust von 5000 Stellen in der kommenden Zeit (Tagesanzeiger vom 30.1.24). Es geht dabei nicht nur um die Interessen einzelner Unternehmungen, sondern darum, ob weiterhin in der Schweiz als Wirtschaftsstandort investiert und produziert wird, ob Steuern hier in Gemeinden, Kantonen und Bund anfallen, um Infrastruktur, Bildung, Sozialwerke, Landwirtschaft und Landesverteidigung zu finanzieren. Es geht darum, ob im Winter genügend Strom in der Energiewende und die Versorgung mit Medikamenten und Lebensmitteln sichergestellt werden kann. Dazu braucht der Handel vertraglich gesicherte, diskriminierungsfreie Rahmenbedingungen. Es geht schliesslich politisch darum, der Anschuldigung des Trittbrettfahrens zu begegnen. Die Kantonsregierungen unterstützen vor diesem Hintergrund das Verhandlungsmandat des Bundesrates und einen raschen Abschluss der Verhandlungen. (NZZ vom 2.2.24).

Die Teilnahme am europäischen Arbeitsmarkt bleibt zentral und bildet die Grundlage des gesamten Vertragswerkes. Die Forderung einer Kontingentierung der europäischen Arbeitskräfte (Interview NZZ vom 27.1.24) führt nicht nur zu einem korruptionsanfälligen administrativen Aufwand und Verteilungskampf zwischen Kantonen und Zentren, sondern erinnert auch an Zeiten im 19. Jahrhundert als Schwyz sich vor der Einwanderung aus Zürich fürchtete. Die Schweiz hatte während Jahrzehnten ein System der kontingentierten Zuwanderung in den Arbeitsmarkt. Es führte zu einer grossen Bürokratie, sozialen Missständen, Kosten für die Unternehmen und bewirkte keine Senkung der Zuwanderung – im Gegenteil.  Und die heutige Debatte um den Lohnschutz lässt verkennen, dass die Gewerkschaften damit in erster Linie die Ausweitung der Gesamtarbeitsverträge bezwecken und damit ein innenpolitisches Problem bewirtschaften. Der im EU-Recht heute anerkannte Grundsatz «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» vermag das Lohnniveau hinreichend zu schützen, auch gegen eine diesem Grundsatz gegenwärtig noch widersprechende Spesenordnung.

III. Freihandelsverträge genügen nicht

Anstelle der Bilateralen III wird erstens ein erweitertes Freihandelsankommen mit der EU nach dem Vorbild der Abkommen der EU mit Kanada oder mit Grossbritannien verlangt. Diese Abkommen sind im Vergleich mit dem Freihandelsabkommen der Schweiz und der EU von 1972 umfassender. Sie regeln Waren, Dienstleistungen und Investitionen, die Nachhaltigkeit, teilweise auch die Energie. Sie verzichten auf die Übernahme von EU-Recht. Sie umfassen aber auch keine gegenseitige Anerkennung von Vorschriften, was den Handel trotz Nullzöllen im nichttarifären Bereich erheblich erschwert. Sie schliessen sodann eine Mitsprache bei der Ausarbeitung inländischer Vorschriften aus. Sie beschränken sich mit andern Worten auf Markzugang. Sie umfassen keine Markteilnahme.

Diese Unterscheidung ist zentral für den Schweizer Wirtschaftsstandort. Der Marktzugang ermöglicht den Grenzübertritt für Güter und Dienstleistungen. Diese unterliegen aber dann andern Regulierungen, so namentlich bei der Zulassung, technischen Normen, Haftungsrecht, Marktüberwachung. Bei der Marktteilnahme gibt es diese Grenze in technischer und regulatorischer Hinsicht nicht mehr. Es gibt einen Markt mit den gleichen Spielregeln für alle Teilnehmer am Binnenmarkt. Für Produzenten und Käufer gelten dann in einem Markt mit rund 500 Millionen Konsumierenden die gleichen Marktregeln. Diese Integration hat gerade für die Schweiz mit vielen innovativen KMUs enorme Vorteile: Die Spezialisierung auf Nischen mit interessanten Möglichkeiten lohnt sich, es ergeben sich Skaleneffekte. Für konkurrenzfähige Unternehmen – auch wenn sie noch so klein sein mögen – ergeben sich dadurch interessante Geschäftsmöglichkeiten.

Die Beschränkung auf ein erweitertes Freihandelsabkommen verkennt das eherne empirische Gesetz, dass der Grossteil des Handels stets mit den Nachbarn erfolgt. Das ist heute so und wird auch so bleiben, namentlich für die vielen KMUs der Schweiz. Sie sind in erster Linie in den Nachbarstaaten tätig und auf Gleichbehandlung mit Konkurrenten aus andern EU/EWR-Staaten und damit auf unbürokratische Handelsbeziehungen angewiesen. Sie sind mit andern Worten auf die Markteilnahme angewiesen. Der Brexit zeigt, dass heute ein Freihandelsabkommen allein im europäischen Raum nicht genügt und erhebliche Wettbewerbsnachteile mit sich bringt. Das Abkommen mit Grossbritannien enthält sodann weitgehende Regeln zur Unterbindung von Dumping im Sozial-, Umwelt- und Subventionsbereich. Mit diesen Barrieren müsste auch die Schweiz rechnen.

Zweitens werden weitere Freihandelsabkommen mit Drittstaaten vor allem in Asien gefordert, welche die Abhängigkeit vom europäischen Markt reduzieren sollen. Solche Abkommen sind komplementär. Sie leisten einen Beitrag gegen den weltweit zunehmenden Protektionismus und tragen dazu bei, dass Schweizer Unternehmungen auch in den rasch wachsenden Märkten bestehen können.  Sie können aber die Teilnahme am europäischen Markt mit heute fast 60 Prozent des schweizerischen Handels und dem Gros der grenzüberschreitenden Investitionen nimmer ausgleichen oder ersetzen. Neben den USA und China entfallen auf die über 30 Freihandelsabkommen der Schweiz lediglich rund 4 Prozent des Handels der Schweiz. Die hochgradig protektionistische Landwirtschaftspolitik reduziert die Attraktivität der Schweiz als Freihandelspartner sodann stark. Sie macht ein Abkommen mit den USA illusorisch. Die Abkommen mit Mercosur und Indien sind noch nicht in trockenen Tüchern, eine Revision des Abkommens mit China ungewiss. Die geopolitische Entwicklung, die Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Autokratie begrenzt diese Politik zusätzlich.

Das gilt auch für den multilateralen Rahmen. Fortschritte im Rahmen der WTO werden in einer multipolaren Welt erschwert. Die Entwicklung verortet die Schweiz klar in Europa, wenn man die geopolitischen Herausforderungen einer schrittweisen De-globalisierung in für die Sicherheit kritischen Sektoren berücksichtigt. Der Glaube und die Hoffnung, dass die Schweiz ohne Marktteilnahme am europäischen Binnenmarkt eine erfolgreiche Aussenwirtschaftspolitik aufrechterhalten, gleichzeitig ihre Sicherheit gewährleisten und glaubhaft ohne engen Zusammenhalt mit ihren Nachbarn für ihre Werte und für Demokratie einstehen kann, entbehrt einer realistischen Grundlage.

IV. Institutionelle Einwände

Und gleichwohl sind die Bilateralen III höchst umstritten. Der wirtschaftlichen Notwendigkeit wird entgegengehalten, dass sie die Souveränität der Schweiz und ihre verfassungsrechtliche Ordnung gefährden. Sie unterwerfe sich der EU mit einem Kolonialvertrag ( dazu NZZ vom 20.1.24). Das Parlament verliere die Hoheit über die Gesetzgebung und das Bundesgericht über die Rechtsprechung (dazu NZZ vom 24.1.24). Umstritten sind aus institutioneller Sicht damit die Fragen der dynamischen Rechtsübernahme und der Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofes (EuGH).

A. Souveränität

Die Debatte um die Souveränität ist in der Schweiz auf die Frage fokussiert, ob sie weiterhin im Sinne des völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrechts eigenständig über ihre Gesetzgebung entscheiden kann. Dieses klassische Verständnis orientiert sich ausschliesslich am Nationalstaat. Es greift zu kurz und berücksichtigt den heutigen Grad der internationalen Vernetzung nicht. Souverän ist nicht nur, wer allein entscheidet, sondern wer sie oder ihn betreffende Entscheidungen auch auf den vorgelagerten Stufen des Gemeinwesens beeinflussen kann. Souveränität heute heisst heute vor allem auch Mitsprache und Mitbestimmung. Das wissen im Bund auch die Kantone. Sie nehmen ihre verfassungsrechtliche Souveränität auch durch Mitwirkung auf Bundesebene wahr.

Vermögen die Bilateralen III dem überlieferten wie dem modernen Verständnis der Souveränität gerecht zu werden? Vorauszuschicken ist, dass der freiwillige Abschluss eines Vertrages die Souveränität eines Staates nie verletzt. Die Frage ist, ob der Vertrag diese auf unnötige Weise einschränkt und damit abzulehnen ist. Das entscheidet sich institutionell an den folgenden Aspekten.

B. Die dynamische Rechtsübernahme und die Mitsprache

Die dynamische Rechtsübernahme bedeutet, dass Rechtsanpassungen im Rahmen der neuen Verträge – und nur in deren Geltungsbereich – formell nicht mehr beschlossen werden müssen, sondern unter Vorbehalt des Referendumsrechts übernommen werden. Praktisch bedeutet dies, dass Bundesrat und Parlament ihr Augenmerk auf die Aushandlung der Gesetzgebung in der EU richten müssen. Als Gegenzug zur dynamischen Übernahme wird seitens der EU die Mitsprache bei der Ausarbeitung von Erlassen eingeräumt, wie sie bislang nur im Rahmen von Schengen/Dublin besteht. Sie hat sich hier bewährt. Dank ihr können die Schweizer ihr Sturmgewehr selbst nach Abschluss der Wehrpflicht zu Hause behalten – wohlgemerkt als einziges Land im Schengen-Raum. Die Mitsprache erlaubt es, schweizerische Interessen gezielt einzubringen. Wird sie aktiv und klug wahrgenommen («the power of the pen»), kann die Souveränität über die Landesgrenzen hinaus erweitert werden. Die meisten Regelungsgegenstände fallen dabei in den Kompetenzbereich des Bundesrates und der Departemente. Das Parlament kann aber jederzeit über seine Kommissionen Einfluss nehmen und Interessen zuhanden des Bundesrates artikulieren. Das gleiche gilt auch für die Kantone mittels der Konferenz der Kantonsregierungen.

Eine Untersuchung der Legislatur 2004-2007 hat ergeben, dass in der Schweiz rund 55 Prozent der Gesetzgebung des Bundes vom EU-Recht betroffen ist. Davon wurden bei knapp einem Drittel das EU-Recht ganz, teils durch vertragliche Verpflichtung und teils autonom übernommen. In zwei Dritteln wurde das EU-Recht teilweise, mit helvetischen Modifikationen, übernommen. Gesamthaft wurde das EU-Recht bei rund 15 Prozent aller Gesetzesvorlagen voll übernommen (Jusletter vom 31.8.2009). Die Verhältnisse dürften sich seither nur marginal verändert haben. Für das Verordnungsrecht fehlt eine entsprechende Untersuchung. Hier liegt der Anteil voller Übernahme vor allem in technischen Bereichen viel höher. Die freiwillige Anpassung an das EU-Recht (Europakompatibilität) wird nun in weiteren ausgewählten Teilbereichen mit der dynamischen Übernahme ergänzt und dem Verfahren von Schengen/Dublin angepasst. Sie ist nicht flächendeckend, sondern auf 5 von über 120 Abkommen mit der EU beschränkt. Sie wird durch die Mitsprache bei der Ausarbeitung der Erlasse aufgewogen. Was wegfällt ist die formelle Zustimmung im Einzelfall in Bereichen, wo das Recht bislang autonom oder durch vertragliche Verpflichtung in aller Regel übernommen wurde. Der praktische Unterschied auf dem Terrain wird gering sein, ausser dass die Schweiz ihre Interessen dank der Mitsprache nun frühzeitig einbringen kann.

C. Referendum und Opt-out

Entscheidend ist, dass das Referendumsrecht auch in mit der dynamischen Übernahme vorbehalten bleibt und damit von der Möglichkeit des Opt-out Gebrauch gemacht werden kann, wenn alle Stricke reissen und das Volk eine Vorlage mehrmals ablehnen würde. Die dynamische Rechtsübernahme setzt die Volksouveränität als Selbstbestimmungsrecht nicht ausser Kraft. Revidiert die EU z.B. die Bestimmungen zur Personenfreizügigkeit, unterstehen diese Anpassungen der dynamischen Anpassung im Rahmen des bilateralen Vertrages, d.h. ohne die Komponenten der Unionsbürgerschaft. Diese Anpassungen erfolgen ohne weiteres, unterstehen aber dem Referendum. Referenden werden es nicht schwieriger haben als bei anderen Vorlagen, wo die internationale Vernetzung eine wichtige Rolle spielt und die Ablehnung der Vorlage mit grossen Nachteilen verbunden ist. Das Volk kann die Anpassung aber ablehnen und nach Verhandlungen und allenfalls einem Schiedsverfahren Ausgleichsmassnahmen in Kauf nehmen. Diese Einschränkungen werden durch die aktive Mitsprache bei der Ausarbeitung der europäischen Gesetzgebung ausgeglichen. Es liegt an der Schweiz, diese zu nutzen und ihre Mitspracherechte souverän wahrzunehmen. Gesamthaft ist die Gleichung fair und ausgeglichen. Sie ist gegenüber der Guillotine Klausel der Bilateralen I klar eine Verbesserung.

D. Die Rolle des Schiedsgerichts und des Europäischen Gerichtshofes

In der Anwendung der bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU/EWR-Staaten haben der EuGH für Klagen Privater in den Mitgliedstaaten, und das Bundesgericht für Klagen in der Schweiz das letzte Wort. Die Bilateralen III führen neu für zwischenstaatliche Streitigkeiten – und nur dort – ein Schiedsverfahren ein. Ein solches besteht bislang nur im Versicherungsabkommen und dem Abkommen zur Erleichterung des Zollverfahrens. Es wurde noch nie gebraucht. Denn Lösungen werden in erster Linie in den gemischten Ausschüssen erarbeitet. Die neue Gerichtsbarkeit kann indessen Blockaden vermeiden, wie sie beispielsweise den Holding-Steuerstreit mit der EU über Jahre charakterisierten. Es verhindert auch, dass Gegenmassnahmen willkürlich ohne sachlichen Kontext getroffen werden. Eine gegen über Drittstaaten diskriminierende Verweigerung der Börsenaequivalenz oder die Aussetzung von Forschungsprogrammen sind so rechtlich ohne festgestellte Vertragsverletzung nicht mehr möglich. Die Rule of Law wird gestärkt und die Schweiz gewinnt damit an Souveränität. Sie kann sich mit einem Schiedsverfahren wehren und die Verhältnismässigkeit von Ausgleichsmassnahmen seitens der EU durchsetzen. Sie erhält mit den Bilateralen III ein zusätzliches Instrument zur Durchsetzung der eigenen Interessen auf dem Rechtsweg. Das ist ein entscheidender Fortschritt gegenüber heute und verdient in der Debatte wie die Mitsprache eine viel stärkere Beachtung.

Das Schiedsgericht entscheidet allein über die Auslegung der völkerrechtlichen Bestimmungen der Bilateralen III und über die Verhältnismässigkeit von Ausgleichsmassnahmen. Es hat keine Kompetenz, Bussgelder zu verhängen. Es ist rechtlich schon aus diesem Grunde unrichtig, das Schiedsverfahrens als Durchlauferhitzer und Vorstufe für den EuGH darzustellen. Denn der Gerichtshof kommt in diesem Verfahren nur zum Zuge, wenn eine Frage des EU-Rechts noch unklar ist und nicht bereits Präjudizen zur Sache vorliegen. Im Vorlageverfahren sind alle EU-Mitgliedstaaten beteiligt. Es geht darum, eine Entscheidung zu treffen, die für alle Mitgliedstaaten massgeblich ist. Die Streitfrage betrifft so nicht allein die Schweiz. Sie ist Partei unter vielen. Dem Gerichtshof steht die abschliessende Kompetenz zur Auslegung des EU-Rechts zu. Wird diese nicht gewahrt, wird er weiteren Verträgen mit der Schweiz in einem Gutachterverfahren schlicht nicht zustimmen.

Das Bundesgericht erleidet mit dem Schiedsverfahren keinen Machtverlust. Es unterliegt bereits heute internationalen Gerichten, so dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und den WTO-Streitbeilegungsorganen. Die europäische Menschenrechtskonvention hat die Stellung des Bundesgerichts gestärkt, indem das Bundesgericht auch Bundesgesetze in der Anwendung auf die Vertragskonformität überprüft. Das gleiche macht es in Bezug auf die bilateralen Verträge und kann dies ebenso in Bezug auf das WTO-Recht und andere Verträge tun. Die Bilateralen III sehen kein Verfahren vor, bei dem der EuGH im Vornherein um Klärung des EU Rechts gebeten werden muss, wie dies für die Gerichte der Mitgliedstaaten gilt. Das Bundesgericht wird weiterhin im Dialog mit dem EuGH nach kompatiblen Lösungen suchen. Denn auch es ist an den Grundsatz pacta sunt servanda gebunden und Konflikte mit dem EU-Recht so weit wie vermeiden. Und sollte es gleichwohl einmal abweichen, so greift neu die Möglichkeit eines Schiedsverfahrens und eines Opt-out, unter Inkaufnahme von verhältnismässigen Ausgleichsmassnahmen.

V. Respekt der direkten Demokratie der Schweiz

Die Europäische Union berücksichtigt in den Bilateralen III die zentrale geographische Lage der Schweiz. Sie respektiert deren wirtschaftliche Bedeutung, und die Rechtstaatlichkeit. Sie zollt aber vor allem den direkt-demokratischen Institutionen der Schweiz Respekt. Die Bilateralen III sind eine sinnvolle Weitentwicklung einer langjährigen Partnerschaft auf Augenhöhe und gegenseitiger Achtung. Die Schweiz muss anerkennen, dass die EU und die mächtigen Mitgliedstaaten nach dem Rückzug des Beitrittsgesuches und der Verwerfung des Rahmenabkommens ihr stark entgegenkommen und zu einer massgeschneiderten Lösung Hand bieten. Die Haltung der Union widerspricht den landläufigen Vorstellungen einer dogmatischen, jakobinischen EU-Kommission. Ein Kolonialvertrag liegt mitnichten vor. Das ist reine Polemik und Angstmacherei, die das Volk mit Blick auf die nächsten Wahlen an der Nase herumführen will. Sie hat keine sachliche Grundlage. Die Bilateralen III unterliegen der direkten Demokratie. Das Vertragswerk basiert auf Zustimmung. Die Schweiz könnte es durch einen souveränen Beschluss wieder beenden.  Imperialismus und Kolonialismus sind etwas ganz Anderes. Es genügt, die Ziele Russlands in der Ukraine oder die Politik Chinas gegenüber Taiwan und im südchinesischen Meer in Erinnerung zu rufen.

Als die nach Luxembourg am stärksten in den europäischen Binnenmarkt integrierte Wirtschaft geniesst die Schweiz auch unter den Bilateralen III eine aussergewöhnliche Selbständigkeit, um die sie die Mitgliedstaaten beneiden mögen. Sie kann notfalls weiterhin ihre eigenen Vorstellungen unter Inkaufnahme von Ausgleichsmassnahmen rechtlich durchsetzen. Ihre Souveränität wird gewahrt und durch Mitsprache gestärkt. Die Bilateralen III versprechen ein faires Bündnis.

*Thomas Cottier ist emeritierter Professor für Europa- und Wirtschaftsvölkerrecht an der Universität Bern, Präsident der Vereinigung La Suisse en Europe. Der Autor dankt Jan Atteslander, Jean-Daniel Gerber, Martin Gollmer, Matthias Oesch und Daniel Woker für wertvolle Anregungen.