Kann Fasel den EU-Turbo zünden? von Martin Gollmer

Alexandre Fasel, neuer Staatssekretär im Aussendepartement, steht vor etlichen grossen Herausforderungen. Die vielleicht grösste: Er muss das wichtige und aussen- wie innenpolitisch schwierige Verhältnis der Schweiz zur EU regeln. Dabei sollte es schnell gehen. Die EU will nämlich Verhandlungen, die noch nicht einmal begonnen haben, bis im Juni 2024 abschliessen.

Am 1. September 2023 tritt der Freiburger Diplomat Alexandre Fasel sein neues Amt als Staatssekretär im Aussendepartement an. Er wird Nachfolger von Livia Leu, die im Herbst nach drei Jahren als Botschafterin nach Berlin wechselt. Der 62-jährige Fasel steht vor formidablen Herausforderungen: Zum einen ist sein Aufgabengebiet ausserordentlich gross. Zum andern wird er für das wohl schwierigste und wichtigste Dossier im EDA zuständig – die Beziehungen der Schweiz zur EU.

In der Medienmitteilung zur Ernennung Fasels umschreibt der Bundesrat dessen Aufgaben so: «Der Staatssekretär berät den Vorsteher des EDA und den Bundesrat in allen aussenpolitischen Fragen, sorgt für die Umsetzung der aussenpolitischen Strategie des Bundesrats, leitet das Staatssekretariat des EDA sowie das Aussennetz der Schweiz mit seinen rund 170 Vertretungen.» Und weiter: «Er unterstützt den Vorsteher des EDA auch bei innenpolitischen Fragen und der Zusammenarbeit mit dem Parlament und den Kantonen, insbesondere bei allen internationalen Themen mit innenpolitischen Auswirkungen wie der russischen Militäraggression gegen die Ukraine, den Beziehungen zur EU, der Arbeit im UNO-Sicherheitsrat und dem internationalen Krisenmanagement.»

Daran wird Fasel gemessen

Ob Fasels Amtszeit im Staatssekretariat EDA dereinst als erfolgreich bezeichnet werden wird, dürfte vor allem davon abhängen, wie er sich im dornenreichen EU-Dossier schlägt. Dabei ist Fasel – er kann auf ein Team um Botschafter Patric Franzen, Chef der Abteilung Europa im EDA, zählen – zweifach gefordert: Aussenpolitisch muss er sich mit einer EU herumschlagen, die gerade mit der Bewältigung mehrerer Krisen wie dem Ukrainekrieg, der Energieknappheit oder der Klimaerwärmung beschäftigt ist und daher wenig Zeit hat für einen eigenbrötlerischen Drittstaat wie die Schweiz. Zudem hat die Bereitschaft der EU zu Sonderlösungen abgenommen – dies vor allem im Zusammenhang mit der grossen Südosterweiterung in den Nullerjahren, als auf einen  Schlag zehn neue Mitgliedstaaten aufgenommen wurden. Diese mussten damals das gesamte EU-Recht übernehmen, ohne dass ihnen dabei nennenswerte Ausnahmereglungen gewährt wurden. Das erklärt, wieso die EU heute wenig Lust auf schweizerische Extrawürste hat und zugleich harte Bedingungen an die Fortsetzung des Schweizer bilateralen Sonderwegs knüpft wie dynamische Rechtsübernahme, Mitwirken des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) bei der Streitschlichtung oder Beachtung der Staatsbeihilfenregelungen.

Innenpolitisch muss Fasel für eine breite Akzeptanz der mit der EU ausgehandelten Lösung zur Fortsetzung des bilateralen Wegs sorgen. Denn am Ende der Verhandlungen mit der EU steht eine Volksabstimmung. Diese ist alles andere als einfach zu gewinnen. So kann Fasel etwa nicht darauf zählen, dass die wählerstärkste Partei in der Schweiz, die EU-feindliche SVP, dereinst das zurzeit zur Diskussion stehende Vertragspaket namens Bilaterale III stützen wird. Dynamische Rechtsübernahme oder eine Rolle für fremde EU-Richter sind ein rotes Tuch für die SVP.

Widerspenstig geben sich auch die Gewerkschaften. Sie sehen den Schutz der hohen Löhne in der Schweiz gefährdet und versuchen unter anderem, im Rahmen der Bilateralen III eine Ausweitung der Pflicht zu Gesamtarbeitsverträgen durchzusetzen. Dagegen wehren sich aber die Wirtschaftsverbände. Die Gewerkschaften nehmen dabei in Kauf, dass sie zur Verwirklichung eines innenpolitischen Anliegens ein für die Schweiz wichtiges aussenpolitisches Projekt gefährden. Andere wiederum befürchten, dass die von der EU geforderte Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie ins schweizerische Recht zu einer unerwünschten Einwanderung in die hiesigen Sozialwerke führen könnte.

Public Diplomacy vonnöten

Diese paar Beispiele zeigen – sie liessen sich vermehren –, dass es derzeit in Sachen Bilaterale III zahlreiche Bedenkenträger gibt. Ihnen wirkungsvoll entgegenzutreten, ist deshalb auch eine Aufgabe von Fasel – und natürlich auch des Bundesrats –, wenn eine künftige Volksabstimmung gewonnen werden soll. Denn zurzeit haben in der Öffentlichkeit vor allem die kritischen Stimmen zum Vertragspaket die Oberhand und versuchen, mit teils populistischen Argumenten Stimmung gegen die Bilateralen III zu machen. Dass die bisherigen Gespräche mit der EU hinter verschlossen Türen geführt worden sind und nur Informationshäppchen an die Öffentlichkeit drangen, hilft diesen kritischen Stimmen. Angezeigt wäre deshalb eine umfassende offene, ehrliche Information von Fasel und des Bundesrats über Ziele, Vor- und Nachteile der Bilateralen III sowie der dazugehörigen Verhandlungen und der dabei auftauchenden Probleme. Das Stichwort dazu heisst Public Diplomacy: Wie Gesetzgebung im Innern muss auch Rechtssetzung in den Aussenbeziehungen debattiert und vorbereitet werden. Das schliesst Vertraulichkeit in eigentlichen Verhandlungen nicht aus, schafft aber Vertrauen in diese.

Zusätzlich erschwert wird die Aufgabe von Fasel und seinem Team dadurch, dass nur noch ein kleiner Gestaltungsspielraum besteht. Denn der Bundesrat hat im vergangenen Juni bereits sogenannte Eckwerte für die künftigen Verhandlungen mit der EU festgelegt. Dies, als Ergebnis von zehn Sondierungsgesprächen mit der EU von Vorgängerin Leu – Sondierungsgespräche übrigens, die mehr schon Vorverhandlungen glichen. Fasel muss jetzt diese Sondierungsgespräche möglichst schnell zu Ende bringen, damit der Bundesrat danach das eigentliche Verhandlungsmandat verabschieden kann. Denn Zeit drängt: Die EU will die Verhandlungen mit der Schweiz bis im Juni 2024 abschliessen. Dann wird in der EU das Parlament neu gewählt und in der Folge auch die verhandlungsführende Kommission neu bestimmt. Doch der Bundesrat wird über das Verhandlungsmandat erst beraten, wenn auch in der Schweiz das Parlament neu gewählt ist (im Oktober) und die Wahlen in die Landesregierung stattgefunden haben (im Dezember).

Mal sehen, ob es Fasel angesichts dieser vertrackten Ausgangslage gelingt, in Sachen EU den Turbo zu zünden. Einschlägige Erfahrung hat er jedenfalls: Seine langjährige Karriere im diplomatischen Dienst der Schweiz unterbrach er anfangs der Nullerjahre für einige Zeit. Er ging zur Grossbank Credit Suisse, wo er für das Formel-1-Sponsoring und damit auch für den damaligen Rennstall Sauber-Petronas zuständig war. In seinen jungen Jahren hatte Fasel übrigens selber schon Runden gedreht auf der Rennstrecke von Magny-Cours.

Geheimniskrämerei geht weiter von Martin Gollmer

Der Bundesrat führt die Sondierungsgespräche mit der EU-Kommission über ein zukünftiges Vertragspaket namens Bilaterale III hinter verschlossenen Türen. Vermutlich wird er auch die angestrebten Verhandlungen vertraulich halten. Dabei wäre in einer direkten Demokratie wie der Schweiz eine offene und umfassende Information der Bevölkerung notwendig. Denn auch in aussenpolitischen Angelegenheiten hat oft das Stimmvolk das letzte Wort.

Seit gut einem Jahr sondiert die Schweiz mit der Europäischen Union (EU), wie der bilaterale Weg gesichert und ausgebaut werden könnte. Nicht weniger als zehn Gesprächsrunden haben in dieser Zeit stattgefunden. Verhandlungen zwischen Bern und Brüssel sind trotzdem noch nicht in Sicht. Im Raum steht ein von der Schweiz geschnürtes Vertragspaket, das den Namen «Bilaterale III» erhalten hat. Darin sollen institutionelle Fragen wie Rechtsübernahme und Streitschlichtung geregelt werden. Zudem strebt die Schweiz neue bilaterale Abkommen mit der EU in den Bereichen Gesundheit, Lebensmittelsicherheit und Strom an. Schliesslich will die Schweiz wieder an den EU-Forschungs- und Bildungsprogrammen «Horizon Europe» und «Erasmus» beteiligt werden. Von diesen war sie nach dem Abbruch der Verhandlungen über ein Rahmenabkommen zu den bilateralen Verträgen durch den Bundesrat im Mai 2021 von der EU ausgeschlossen worden.

Am 18. Juli war der für das Europadossier zuständige Bundesrat Ignazio Cassis in Brüssel, um mit seinem Gegenpart EU-Kommissar Maros Sefcovic eine «Standortbestimmung» zu den Sondierungsgesprächen vorzunehmen, wie es in einer dürren Medienmitteilung des schweizerischen Aussenministeriums hiess. Was ist dabei herausgekommen? In welchen Bereichen konnten Fortschritte erzielt werden? Wo hakt es noch? Bei welchen Anliegen der Schweiz zeichnen sich Erfolge ab? Welche Kröten muss sie möglicherweise schlucken? Wir wissen es nicht. In der Medienmitteilung war dazu nichts zu lesen. Auch gab Cassis nach dem Treffen mit Sefcovic keine Erklärungen vor den Medien ab.

Am 21. Juni verabschiedete der Bundesrat «Eckwerte für ein Verhandlungsmandat mit der EU».  Diese sollen die «Leitlinien für mögliche künftige Verhandlungen» bilden und als «Grundlage für die Vorbereitung eines Verhandlungsmandats» dienen, wie es in einer Medienmitteilung hiess. Welches sind diese Eckwerte? Wir wissen es nicht. «Die Eckwerte bilden den Kern der möglichen Verhandlungen und sind daher vertraulich», liess der Bundesrat verlauten.

Nur ein enger Kreis weiss Genaueres

Das sind nur die jüngsten Beispiele der bundesrätlichen Geheimniskrämerei um die Sondierungsgespräche und die angestrebten Verhandlungen mit der EU zu den Bilateralen III. Die breite Öffentlichkeit wird beinahe schon systematisch im Dunkeln gelassen. Selbst die Mitglieder der Aussenpolitischen Kommissionen von National- und Ständerat wissen nicht alles. Einigermassen gut informiert werden nur Vertreter der Kantone und der Sozialpartner (Arbeitgeber und Gewerkschaften), die das sogenannte Sounding Board des Bundesrats in dieser Angelegenheit bilden.

Wenn etwas nach aussen dringt aus den Sondierungsgesprächen, dann von Bedenkenträgern und EU-Gegnern aus diesen Kreisen. Sie berichten vor allem negativ über die Gespräche. Gleichzeitig tut der Bundesrat nichts, um dagegenzuhalten. Wann hat ein Mitglied der Landesregierung darüber informiert, was die Schweiz im Verhältnis zur EU schon alles tut, um die Löhne in der Schweiz zu schützen? Wann hat ein Berner Magistrat erläutert, was die dynamische Übernahme von EU-Recht für die  Schweiz bedeutet. Haben wir dann nichts mehr zu sagen? Wird dadurch die direkte Demokratie ausgehebelt? Wurde je von einem Vertreter Berns erklärt, was das für die Schweiz heisst, wenn der EU-Gerichtshof in einem allfälligen Streitschlichtungsverfahren eine Rolle erhält? Kommen jetzt die fremden Richter? Weil der Bundesrat nicht informiert, entsteht in der Bevölkerung kein Vertrauen in seine Arbeit. Und das Wissen über die Bilateralen III bleibt bruchstückhaft und oft negativ konnotiert. Beides – Vertrauen und Wissen – wird aber nötig sein, wenn das Schweizer Stimmvolk dereinst zu den Bilateralen III Ja sagen soll.

Höchste Zeit für Public Diplomacy

Wenn der Bundesrat eine mögliche künftige Volksabstimmung über die Bilateralen III gewinnen will, muss er offensiver kommunizieren. Aussenpolitik – und damit auch Europapolitik – ist gemäss Bundesverfassung Sache des Bundesrats. Damit verbunden sollte eigentlich auch sein, dass er über seine Tätigkeiten in diesem Bereich detailliert und ausführlich informiert. Das Stichwort dazu heisst «Public Diplomacy». Das Konzept postuliert, dass Regierungen die Öffentlichkeit über Ziele, Verlauf und Stand von Verhandlungen möglichst regelmässig, offen und umfassend unterrichten. Gewiss, in kritische Phasen werden Verhandlungen nicht auf dem Marktplatz geführt, sondern nach wie vor hinter verschlossenen Türen. Aber soweit sind wir mit der EU noch nicht. Verhandlungen mit ihr sind noch nicht einmal absehbar.

Aussenpolitik ist gerade in Demokratien immer auch Innenpolitik. Die beiden Bereiche lassen sich immer weniger trennen. Andere Staaten haben deshalb die Notwendigkeit von Public Diplomacy schon vor einiger Zeit erkannt. So auch die EU – zukünftiger Verhandlungspartner der Schweiz in Sachen Bilaterale III. Sie hat etwa das Verhandlungsmandat und laufende Verhandlungsvorschläge für ein Handels- und Wirtschaftsabkommen mit den USA und Kanada im Internet publiziert – allerdings auch erst auf Druck der Öffentlichkeit. Die EU belebte so die Debatte und erleichterte die Meinungsbildung über das Thema. Schon seit dem 1. Weltkrieg praktizieren die USA Public Diplomacy. Damals begann Präsident Woodrow Wilson mit seinen Prinzipien der Transparenz die bis dato übliche Geheimdiplomatie zu überwinden.

Die Schweiz dagegen setzt immer noch zu sehr auf vertrauliche Sondierungen und Verhandlungen. Das ist falsch. Gerade in einer direkten Demokratie, in der das Stimmvolk oft auch in aussenpolitischen Angelegenheiten das letzte Wort hat, ist eine frühzeitige offene und ausführliche Information der Bevölkerung äusserst wichtig. Es ist deshalb höchste Zeit, dass der Bundesrat seine Informationspolitik in der Aussenpolitik ändert. Im Falle der Bilateralen III würde das deren Chancen in einer allfälligen Volksabstimmung deutlich erhöhen.

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Einmal schnell, einmal langsam von Martin Gollmer

Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie die Europapolitik der Schweiz weisen zurzeit ein unterschiedliches Tempo auf. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine führt in diesen beiden Bereichen offensichtlich nicht zu den gleichen Schlussfolgerungen.

Kommt die europäische Integration der Schweiz auf dem sicherheits- und verteidigungspolitischen Weg schneller voran als auf dem politischen und wirtschaftlichen? Ja, meinen aufmerksame Beobachter der schweizerischen Europa-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Indizien zeigen, dass sie möglicherweise Recht haben. Nachdem Russland am 24. Februar 2022 seinen völkerrechtswidrigen Überfall auf das Nachbarland Ukraine startete, wurden in der schweizerischen Politik rasch Stimmen laut, die eine weitere Annäherung an das nordatlantische Militärbündnis Nato, forderten. Die Nato ist die wichtigste Organisation für Sicherheit und Verteidigung in Europa. Und Anfang Juli unterzeichnete Verteidigungsministerin Viola Amherd eine Absichtserklärung, mit der die Schweiz Teil der Luftverteidigungsinitiative European Sky Shield werden soll. Die von der Nato unabhängige Initiative geht auf Deutschland zurück. Bisher sind ihr 17 europäische Nato-Länder beigetreten. Mit Österreich und der Schweiz wollen jetzt erstmals auch zwei neutrale Nato-Nichtmitglieder mitmachen.

Derweil wurden nach dem Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine keine Forderungen gestellt, die Schweiz solle sich der Europäischen Union (EU), der wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Organisation in Europa, über den bisher begangenen bilateralen Weg hinaus weiter annähern. Mehr noch: Die Beziehungen Schweiz – EU dümpeln seit dem ergebnislosen Abbruch der mehrjährigen Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen zu den bilateralen Verträgen durch den Bundesrat am 26. Mai 2021 vor sich hin. Aussenminister Ignazio Cassis’ Diplomaten sondieren zwar seit über einem Jahr fleissig mit der EU, wie der bilaterale Weg gesichert und fortgesetzt werden könnte. Die Aufnahme von neuen Verhandlungen über ein Bilaterale III genanntes Vertragspaket ist aber auch nach zehn Sondierungsrunden noch nicht in Sicht. Das, obwohl die Schweiz seit 15 Jahren kein Abkommen mehr mit der EU geschlossen hat. Mit der EU ist die Schweiz notabene geografisch, kulturell, personell und wirtschaftlich aufs Engste verflochten.

Zerstörte Gewissheiten

Dieser Unterschied zwischen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik und der Europapolitik der Schweiz hängt wie eingangs betont eng mit dem Krieg in der Ukraine zusammen. Dieser hat eine jahrzehntealte Gewissheit auf einen Schlag zerstört: nämlich, dass Europa nach dem Ende des 2. Weltkriegs zu einem Kontinent des Friedens geworden ist, in dem die seither geltenden Grenzen der europäischen Nationalstaaten gegenseitig respektiert werden (was 1975 in der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa bestätigt wurde) und zwischenstaatliche Kriege der Vergangenheit angehören. Der plötzliche Verlust dieser Gewissheit hat die europäischen Staaten zum Handeln in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik veranlasst. Zahlreiche von ihnen beschlossen, das Verteidigungsbudget endlich auf die von der Nato geforderten 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts anzuheben. Die bisher neutralen Länder Finnland und Schweden beantragten den Beitritt zur Nato; Finnland ist inzwischen dem Militärbündnis beigetreten. Und Dänemark gab seinen langjährigen Vorbehalt gegen die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU auf.

Auch die Schweiz hat im Nachgang des Ausbruchs des Kriegs in der Ukraine ihr Verteidigungsbudget erhöht. Zudem forderten namhafte Politiker, die Schweiz solle ihre bisherige Zusammenarbeit mit der Nato ausbauen. Es werde immer deutlicher, dass die Schweiz ihre Sicherheit und Unabhängigkeit im Kriegsfall nicht mehr allein gewährleisten könne. Seit 1996 ist die Schweiz mit der Nato über das Kooperationsprogramm «Partnerschaft für den Frieden» verbunden. Seit 1999 nimmt sie auch an der Nato-Friedensmission für den Kosovo (KFOR) teil. Die Schweizer Luftwaffe trainiert seit Jahren im europäischen Ausland Ernstfalleinsätze. Angedacht ist eine gemeinsame Abwehr von Cyberattacken. Nun ist sogar auch eine Teilnahme an Verteidigungsübungen der Nato im Gespräch. Und mit dem Kampfjet F-35 und dem Luftabwehrsystem Patriot sind Nato-kompatible Rüstungsgüter in Beschaffung. Als vorläufig letzter Schritt kommt jetzt die beabsichtigte Teilnahme an der European Sky Shield Initiative (ESSI). Zunächst soll es um die gemeinsame Beschaffung von Luftabwehrsystemen und die Kooperation bei der Ausbildung gehen.

Neutralität gewährleistet

Auch die ESSI-Teilnahme soll mit der Neutralität der Schweiz vereinbar sein, versicherte Verteidigungsministerin Amherd anlässlich der Unterzeichnung der Absichtsverklärung. Dieser hat die Schweiz aber sicherheitshalber noch einen Neutralitätsvorbehalt angehängt. Das macht deutlich: Es wird immer schwieriger, die Sicherheit und Unabhängigkeit der Schweiz in Europa zu schützen und gleichzeitig den Status eines neutralen Landes aufrechtzuerhalten. Ja, die Neutralität nützt der Schweiz im unsicherer gewordenen Europa immer weniger und wird immer mehr zu einem Hindernis für einen wirkungsvollen Schutz vor einem allfälligen Angriff auf das Land. Trotzdem wagen es bisher nur wenige, die schweizerische Neutralität in Frage zu stellen.

Natürlich hat der Krieg in der Ukraine auch wirtschaftliche Folgen für Europa. Er hat beispielsweise aufgezeigt, wie abhängig wir geworden sind von Staaten, die in einem Systemwettbewerb mit uns stehen. Im Fall von Russland geht es vor allem um Energie und Rohstoffe. Trotzdem hat die EU harte Sanktionen gegen Russland erlassen, die auch einen Boykott von russischem Gas und Öl umfassen. (Die Schweiz hat diese Sanktionen nach anfänglichem Zögern übernommen.) Gleichzeitig hat die EU schleunigst begonnen, ihre Quellen für Gas- und Öllieferungen zu diversifizieren. Die Schweiz ist in diesem Prozess als Nicht-EU-Mitglied auf sich allein gestellt. Sie versucht, allfälligen Engpässen fast schon verzweifelt in Kooperationsabkommen mit den Nachbarstaaten Deutschland und Italien zuvorzukommen. Mit Italien ist ein solches Abkommen eben abgeschlossen worden. Trotzdem will die Schweiz auch in Zukunft am bilateralen Weg mit der EU festhalten, obwohl dieser für solche Herausforderungen nur beschränkt Lösungen bereithält. Der Bundesrat hat diesen Weg in seiner jüngsten Lagebeurteilung der Beziehungen Schweiz – EU als den für unser Land vorteilhaftesten bezeichnet. Einem neuen Anlauf zur Aufnahme in den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) oder gar einem Beitritt zur EU erteilt er dagegen gleichenorts eine Absage. Diese Lagebeurteilung hat in der schweizerischen Politik und Wirtschaft erstaunlicherweise fast niemand in Frage gestellt. Der Schweiz genügt offenbar die bisherige beschränkte wirtschaftliche Beziehung zur EU. Verkannt wird dabei, dass die EU in Europa nicht nur grosses wirtschaftliches Gewicht hat, sondern – nicht zuletzt aufgrund des Kriegs in der Ukraine – auch zu einem ernstzunehmenden politischen Akteur geworden ist.

Le multilatéralisme à l’épreuve

En près de 80 ans, le monde a connu d’importants changements. Le multilatéralisme d’après-guerre, initialement dominé par l’Occident et soutenu par les États-Unis, a perdu en efficacité en raison de la mondialisation, de l’ouverture des marchés et de la décolonisation. De nouvelles rivalités systémiques sont apparues, telles que le terrorisme, les sanctions et la manipulation de l’opinion publique. Ces éléments ont affaibli les principes fondamentaux de l’ordre multilatéral, tels que l’état de droit et le respect des traités. De plus, avec l’émergence de la Chine en tant que puissance mondiale, un nouvel ordre multilatéral asiatique se dessine, mais ses objectifs et ses relations avec l’ordre d’après-guerre restent flous. Les questions se posent quant aux relations entre la Chine et les États-Unis, au rejet des valeurs occidentales par la Chine et la Russie, à la course effrénée aux armements, au rôle des États après la pandémie, à la démondialisation en cours et à l’impact sur le bien-être des populations, ainsi qu’à la position des petites et moyennes puissances face à la confrontation des blocs majeurs. Dans ce contexte, la situation de la Suisse suscite également des interrogations.

Notre membre du comité directeur Jean Zwahlen aborde ces thèmes dans son mémo „Le multilatéralisme à l’épreuve“. Vous pouvez le lire ici.

Le multilatéralisme à l’épreuve

 

Europäischer Aussenseiter Schweiz von Daniel Woker

Hier finden Sie den neuen Artikel von Daniel Woker, Vorstandsmitglied der AS, der in The Market/NZZ publiziert wurde.

Über Sachprobleme hinaus sind es drei strukturelle Gründe, warum die Schweiz als isolierter europäischer Aussenseiter dasteht: Nichtteilnahme, Innen-statt Aussenpolitik sowie mangelndes Verständnis für Europa. Das hat auch wirtschaftliche Konsequenzen.

Meinungsumfragen zeigen, dass die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizermehr für die Ukraine tun will, auch militärisch, und dass diese Mehrheit Einvernehmen mit der EU will.

Die offizielle schweizerische Aussenpolitik scheint dies nicht zur Kenntnis zunehmen; somit bleibt die Schweiz in diesen zwei weitaus wichtigsten Dossiers ihrer Aussenbeziehungen blockiert. Jenseits der dafür immer wieder angeführten Sachprobleme von Neutralität bis zur Arbeitszeitregelung im Binnenmarkt sind dafür mangelnde Teilnahme an und Verständnis für Europa verantwortlich.

Im Gegensatz zu allen anderen europäischen Staaten ist die Schweiz und speziell ihre Minister, also der Bundesrat und seine Staatssekretärinnen in den beiden ausschlaggebenden Organisationen nicht präsent, in denen Europa seine Interessenwahrnimmt und verteidigt: in der EU und in der Nato. Das führt zu den dreifolgenden strukturellen Problemen: Mangelnder Kontakt, Innen- statt Aussenpolitik, Europa sind auch wir.

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Personenfreizügigkeit und Streitbeilegung in den Bilateralen III

Thomas Cottier und Christian Etter sprachen am 8.6.23 am Europa-Institut Basel über das Verhältnis von Personenfreizügigkeit und Streitbeilegung. Nach einer Einführung durch Prof. Christa Tobler betonten das Referat und die Kommentare von Christian Etter die Bedeutung der Opt-out Möglichkeiten, welche es der Schweiz Dank dem Streitbeilegungsverfahren erlauben, punktuell von übernommenen EU Recht abzuweichen, etwa im Sozialrecht der Freizügigkeit oder auch im Lohnschutz.  Sie kann damit gesetzlich flankierende Massnahmen durchsetzen, wobei sie dann verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen in Kauf nehmen muss. Ob diese verhältnismässig sind, entscheidet abschliessend das Schiedsgericht. Der Anlass befasste sich auch mit der Rolle des Europäischen Gerichtshofes. Seine Funktion beschränkt sich in der Streitbeilegung auf die Auslegung des EU Rechts (Verordnungen, Richtlinien) und nur dort, wo bilaterale, völkerrechtliche Verträge bewusst Begriffe des EU Rechts übernehmen. Da der Gerichtshof eine Auslegung finden muss, die für alle Mitgliedstaaten der EU und des EWR Geltung hat, ist seine Tätigkeit per se nicht gegen die Schweiz gerichtet. Die Angst vor fremden Richtern ist daher unbegründet, ebenso die Auffassung, dass das paritätische Schiedsgericht keine eigenständige Funktion habe. Der Anlass wurde gemeinsam mit dem Europa-Institut Basel organisiert.

Freizügigkeit und Streitbeilegung

Die Neutralität der Schweiz im Ukraine Krieg

Thomas Cottier sprach am 3. Juni 23 vor der Mitte Partei des Kantons Zürich über die Neutralität der Schweiz im Ukraine Krieg. Das Referat umfasst eine kritische Auseinandersetzung mit der Haltung des Bundesrats aus historischer und juristischer Sicht und legte die Zusammenhänge von Neutralitätspolitik und Neutralitätsrecht dar. Das Referat plädiert dafür, die Frage der Neutralität von der Sicherheitspolitik her anzugehen und befürwortet einen NATO Beitrag und eine engere Zusammenarbeit mit der EU in der Sicherheitspolitik. Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf dem Uetiliberg haben die Ausführungen gut aufgenommen.

Neutralität der Schweiz im Ukrainekrieg

Souveränität und Neutralität

Thomas Cottier und Daniel Woker sprachen am 3.5.23 an der Universität Basel zu Souveränität und Neutralität, welche beide einen starken Einfluss auf die Beziehungen Schweiz-Europa haben. Eine kritische Auseinandersetzung mit diesen pieces de résistence gegen eine stärkere Kooperation und Integration ist notwendig. Die beiden Vorträge legten die Grundlagen eines kooperativen Souveränitätsverständnisses und dass im heutigen geopolitischen Kontext die Neutralität ihre Bedeutung und Legitimation verloren hat. Der Anlass wurde gemeinsam mit dem Europa-Institut Basel organisiert.

Souveränität und Neutralität im Wandel

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Für eine Schweiz, die dabei ist! von Martin Gollmer

Die schweizerische Aussenpolitik weist Löcher auf: Auf globaler Ebene macht die Schweiz in allen wichtigen internationalen Organisationen mit. Auf europäischer Ebene ist das anders. Hier ist die Schweiz weder bei der EU noch bei der Nato Mitglied. Das erstaunt und sollte geändert werden.

Im vergangenen Mai hatte die Schweiz die monatlich wechselnde Präsidentschaft im Uno-Sicherheitsrat inne. In diesem Gremium sitzt sie als einer der zehn nichtständigen Mitgliedstaaten seit Anfang 2023 – und noch bis Ende 2024. Der Sicherheitsrat ist auf globaler Ebene das wichtigste Uno-Organ im Bereich der Friedensförderung und internationalen Sicherheit. Der Präsidentschaft obliegt die Leitung der Sitzungen des Sicherheitsrats. Dabei kann sie auch ihre eigenen Prioritäten in den Fokus der Ratsarbeit stellen. Die Schweiz tat dies etwa mit den Themen «nachhaltigen Frieden fördern» und «Zivilbevölkerung in Konflikten schützen».

Die Schweiz brachte ihre Präsidentschaft im Uno-Sicherheitsrat – und ihre Einsitznahme in diesem Gremium – bisher ohne Probleme über die Runden. Die schweizerische Diplomatie war immer rechtzeitig – auch dank zusätzlichem Personal – mit Stellungnahmen zu den im Rat debattierten Themen bereit. Die Neutralität war dazu kein Hindernis. Die Schweiz verurteilte den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine als flagrante Völkerrechtsverletzung aufs Schärfste und konnte in andern Konflikten vermittelnd wirken. Gleichwohl gelang es auch der Schweiz nicht, die immer wieder auftretenden, auf das Vetorecht der fünf ständigen Mitgliedstaaten China, Frankreich, Grossbritannien, Russland und USA zurückzuführenden Blockaden im Sicherheitsrat zu überwinden. Trotzdem lässt sich feststellen: Die Schweiz ist in der Lage, auf höchster internationaler Ebene ihre Interessen einzubringen und erfolgreich mitzumischen.

Die Uno wurde 1945 nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Allianz der Siegermächte gegründet. Heute gehören ihr 193 Staaten an. Sie ist universell geworden. Ihre  wichtigsten Aufgaben sind gemäss ihrer Charta die Sicherung des Weltfriedens, die Einhaltung des Völkerrechts, der Schutz der Menschenrechte und die Förderung der internationalen Zusammenarbeit. Ausserdem ist die Uno auf wirtschaftlichen, sozialen, humanitären und ökologischen Gebieten tätig. Mehrere Uno-Organisationen haben ihren Sitz in der Schweiz, vor allem in Genf. Sie liessen sich dort in Nachfolge des Völkerbunds nieder lange bevor die Schweiz Mitglied wurde.

Der Beitritt der Schweiz zur UNO war mühsam und wurde lange von nationalkonservativen Kräften als mit der Neutralität und der Unabhängigkeit des Landes nicht vereinbar bekämpft. Die Mitgliedschaft beschränkte sich vorerst auf Sonderorganisationen wie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sowie dem Internationalen Gerichtshof in den Haag. Die Schweiz trat den Vereinten Nationen – wie die Organisation auch genannt wird – als Vollmitglied erst 2002 auf Grund einer Volksinitiative bei. Damals stimmten 55 Prozent der Bevölkerung und eine nur knappe Mehrheit der Kantone dem Beitritt zu. Zuvor scheiterte 1986 ein erster Anlauf  in einer Volksabstimmung noch mit 76 Prozent Nein-Stimmen. Die öffentliche Meinung wandelte sich innerhalb von 15 Jahren grundlegend.

 

Mitmachen verursacht weder Aufsehen noch Probleme

Ausser in der Uno ist die Schweiz auch in allen anderen wichtigen und global ausgerichteten internationalen Organisationen vertreten. Seit 1992 ist sie Mitglied des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank, nachdem der Beitritt zu den beiden Bretton-Woods-Institutionen in einer Volksabstimmung mit 56 Prozent Ja-Stimmen gutgeheissen wurde. Auch hier erfolgte der Beitritt der Schweiz verspätet: IWF und Weltbank wurden im Gefolge der Unterzeichnung des Abkommens von Bretton Woods im Jahr 1944 gegründet. Der IWF stellt Ländern, die – oft aufgrund von Zahlungsbilanzschwierigkeiten – Bedarf an Fremdwährung haben, Brückenfinanzierung bereit, verbunden mit Spar- und Stabilisierungsmassnahmen für das unterstützte Land. Die Weltbank vergibt Kredite für langfristige Entwicklungs- und Aufbauprojekte in der Realwirtschaft vor allem von ärmeren Staaten. Dem IWF gehören 190 Länder an, der Weltbank 189.

Die Schweiz trat dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen GATT 1966 bei. Seit 1995 ist sie  bei der Welthandelsorganisation (WTO) dabei. Sie wurde 1994 aus dem GATT in der sogenannten Uruguay-Runde nach siebenjähriger Verhandlungszeit gegründet und hat ihren Sitz in Genf. Ihre Aufgabe ist die Regelung und Vereinfachung grenzüberschreitender Handels- und Wirtschaftsbeziehungen sowie die damit verbundene Streitschlichtung zwischen Ländern. Heute gehören der WTO 164 Staaten an, die 98 Prozent des Welthandels bestreiten. Die Schweiz ist seit der Gründung der WTO deren Mitglied. Sie unterliegt hier auch der Schiedsgerichtsbarkeit und stellte immer wieder Schiedsrichter in internationalen Streitfällen.

Schliesslich ist die Schweiz Gründungsmitglied der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).  Diese erarbeitet Grundlagen der Wirtschaftspolitik und  internationale Normen sowie evidenzgestützte Lösungen für ein breites Spektrum sozialer, ökonomischer und ökologischer Herausforderungen. Zurzeit ist sie wegen ihrem Projekt für eine globale Mindeststeuer für Unternehmen in aller Leute Munde. Die OECD ging 1961 aus der 1948 gegründeten Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) hervor. Diese sollte damals den Wiederaufbau des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Europas koordinieren. Der OECD gehören heute 38 vor allem entwickelte Länder auf der ganzen Welt an.

In allen diesen global aktiven internationalen Organisationen arbeitet die Schweiz heute mit, ohne dass das grösseres Aufsehen erregt oder grössere Probleme hervorruft. Wesensmerkmale wie die direkte Demokratie, der föderalistische Staatsaufbau, die sozial abgefederte Marktwirtschaft oder die bewaffnete Neutralität konnten unbeschadet beibehalten werden. Hier sitzt die Schweiz mit am Tisch und vertritt selbstbewusst ihre Interessen. Ängste vor fremden Richtern bestehen hier nicht.

 

Lieber nachvollziehen statt mitentscheiden

Anders sieht es in Europa aus. Hier ist die Schweiz neben fachlichen Organisationen nur im Europarat und in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) vertreten. Der 1949 gegründete Europarat setzt sich für die Einhaltung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ein. 46 europäische Länder gehören ihm heute an. Die Schweiz trat erst im Jahr 1963 bei, nach langen und heftigen Debatten zur Neutralität des Landes. Erst 1974 trat sie der Europäischen Menschenrechtkonvention (EMRK) bei nachdem das Hindernis des fehlenden Frauenstimmrechts aus dem Wege geräumt war.

Die Ziele der OSZE sind die Sicherung des Friedens in Europa und der Wiederaufbau nach Konflikten. 57 Staaten aus Europa, Nordamerika (USA und Kanada) und Asien (Mongolei) sind heute Mitglied der OSZE. Sie ging 1995 aus der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) hervor. Diese wurde 1975 mit der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki ins Leben gerufen. Für den Ostblock brachte die KSZE die Anerkennung der Grenzen der Nachkriegsordnung und einen stärkeren wirtschaftlichen Austausch mit dem Westen. Im Gegenzug machte der Osten Zugeständnisse bei den Menschenrechten. Die Schweiz war bei KSZE und OSZE seit deren Anfängen mit dabei.

In der Europäischen Union (EU) und in der Nordatlantischen Vertragsorganisation (Nato) ist die Schweiz dagegen nicht vertreten. Zwar reichte die Schweiz 1992 bei der EU ein Beitrittsgesuch ein. Dieses wurde aber nach dem knappen Nein des Stimmvolks zum Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) im selben Jahr auf Eis gelegt. 2001 lehnten die Schweizerinnen und Schweizer mit 77 Prozent Nein-Stimmen die sofortige Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU ab. 2016 wurde das Beitrittsgesuch schliesslich zurückgezogen. Weil die Neutralität der Schweiz scheinbar unverzichtbar ist, stand ein Beitritt zur Nato nie zur Diskussion.

Das Abseitsstehen der Schweiz bei EU und Nato erstaunt: Die EU ist mit zurzeit 27 Mitgliedstaaten die wichtigste wirtschaftliche und politische Organisation Europas, die Nato mit gegenwärtig 31 Mitgliedsländern (darunter den USA) die wichtigste sicherheits- und verteidigungspolitische. Die Vorläuferorganisationen der EU gehen auf das Jahr 1951 zurück, die Nato wurde 1949 zur Eindämmung der damaligen Sowjetunion gegründet. Mit der EU ist die Schweiz aufs Engste verflochten – geografisch, wirtschaftlich, rechtlich, kulturell, personell. Und die Sicherheit der Schweiz in Europa ist ganz wesentlich dem militärischen Schutzschirm der Nato zu verdanken. Mit beiden Organisationen kooperiert die Schweiz deshalb. Ein Ausbau der Zusammenarbeit – und nicht mehr – wird zurzeit angestrebt.

So sitzt denn die Schweiz nicht mit am Tisch, wenn EU und Nato Beschlüsse fassen, die auch das Land betreffen. Allein im Bereich der EU-Abkommen von Schengen und Dublin geniesst sie Mitsprache. Sie kann nicht mitentscheiden, muss aber oft nachvollziehen. Das ist aus souveränitäts- und demokratiepolitischer Sicht höchst problematisch. Es ist deshalb an der Zeit, dass eine sachliche Debatte ohne Vorbehalte über die schweizerische Mitgliedschaft in EU und Nato beginnt – damit die Schweiz in Zukunft hoffentlich auch bei diesen beiden Organisationen mit dabei sein kann.

Die Erfahrung auf globaler Ebene zeigt, dass sich die Schweiz erfolgreich in internationale Organisationen einbringt und sich Ängste vor Souveränitätsverlusten und aus Gründen der Neutralität als unbegründet erwiesen haben. Niemand stellt heute die Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen mehr in Frage. Die gleiche Entwicklung ist auch auf europäischer Ebene möglich und nötig. Nur wenn die Schweiz hier überall mitmacht, kann sie ihre Interessen umfassend wahren und sich im Lichte neuer geopolitischer Herausforderungen auch auf europäischer Ebene weiterentwickeln.

Kooperative Souveränität? Europakolloquium zur Zukunft der Neutralität

Hat die Neutralität der Schweiz ihre Bedeutung im europäischen Kontext verloren? Bedeutet Souveränität Unabhängigkeit oder gibt es eine kooperative Souveränität? Diesen Fragen widmete sich das Europakolloquium am 3. Mai 2023. Zu Gast im Kollegienhaus waren Thomas Cottier, emeritierter Professor für Europa- und Wirtschaftsvölkerrecht an der Universität Bern und Präsident der Vereinigung Die Schweiz in Europa, und der ehemalige Schweizer Botschafter Dr. Daniel Woker. Auf Vorträge der Gäste folgte eine Podiumsdiskussion mit Dr. Barbara von Rütte und Prof. Dr. Ralph Weber. Die Veranstaltung wurde vom Europainstitut der Universität Basel gemeinsam mit der Vereinigung Die Schweiz in Europa / La Suisse en Europe (ASE) organisiert.

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